Brief an X


Hallo,

es kommt nicht oft vor, dass man mit einem Menschen, der einen bisher geschlagen, beschimpft und verachtet hat, auch mal ein paar Worte wechselt. Das hat mich ermutigt, Dir diesen Brief zu schreiben.

Zu dem Überfall will ich nicht viel sagen. Dass ich seitdem öfter Atemprobleme habe, weil sich ein Knorpel in meiner Nase verschoben hat, wird Dich und deine Freunde kaum interessieren; aber wenn es euch im Nachhinein wirklich leid tun sollte, was ihr getan habt, könnt ihr ja zusammenlegen und mir wenigstens die 25 Euro geben, die mich die Reparatur der Brille gekostet hat. Den gesundheitlichen und seelischen Schaden könnt ihr ohnehin nicht wiedergutmachen.

Aber es geht mir in diesem Brief nicht darum, Dich anzuklagen. Es geht mir darum, Dir Deine eigenen Ängste zu nehmen. Wovor hast du Angst? Dass Deine Tochter Schaden erleidet, weil sie einen „Mann in Weiberklamotten“ sieht? Dass du ihr etwas erklären musst, was Du selbst nicht kennst? Dass sie auch „so“ werden könnte?

Du kannst ganz beruhigt sein. Solange sie ein Kind ist, wird sie vor nichts Angst haben, und sei es noch so ungewöhnlich. Für Kinder sind auch Clowns, bunte Drachen und Mickymäuse was ganz normales. Wenn Du ihr allerdings sagst, dass irgendetwas oder irgendjemand böse und gefährlich ist, damit machst du ihr Angst. Und je mehr es in ihrer Phantasie und ihrem Alltag diese angeblich bösen Wesen gibt, desto mehr Ängste wird sie haben. Und das wird ihr seelisch wehtun. Und dann wird sie diese Ängste auch später noch haben. Was das Erklären angeht, Du brauchst ihr nichts zu erklären. Es reicht, wenn sie begreift, dass die Menschen nicht alle gleich sind, und dass Anderssein nicht etwas grundsätzlich Schlimmes ist. Und später, wenn sie alt genug ist, kannst du ihr ja mal erklären, was ich dir jetzt schreiben werde.

Die Sache, die Du so unglaublich schlimm findest, ist eine ganz normale Sache und betrifft hunderttausende von Menschen in der ganzen Welt. Sie kommt in allen Ländern, Gesellschaften und sozialen Schichten vor. Die Sache nennt man Transidentität. Das heißt, dass ein Mann mit einem weiblichen Körper, oder eine Frau mit einem männlichen Körper geboren wird. Dafür kann weder die Person selber was dafür noch die Eltern oder die Leute, mit denen sich die Person abgibt. Der Mensch wird im „falschen“ Körper geboren, und eines Tages weiß er es. Manche wissen es als Jugendliche, manche erst, wenn sie alt sind. Wie auch immer, eines haben sie gemeinsam: Sie waren schon immer das andere Geschlecht, und sind es nicht erst geworden. Und sie suchen sich das auch nicht aus. Aber es gibt auch Leute, die einfach Spaß daran haben, sich als das andere Geschlecht zu verkleiden (wie der Berliner mit den falschen Titten). Das hat mit Transidentität nichts zu tun, ist aber auch nicht schlimm. Das ist halt wie Fasching. Im Sommer gibt es ein Fest, bei dem Tausende solcher Leute zusammen mit den Bewohnern ihrer Stadt diese harmlose Verrücktheit feiern, und in Berlin z.B. stehen da alle Leute mit ihren Kindern am Straßenrand und freuen sich über diesen bunten Karneval, und die Kinder werden garantiert nicht gestört nach Hause gehen. Transidente Menschen, so wie Carola und ich, verkleiden sich aber nicht. Wir versuchen nur, unser wahres Geschlecht zu leben. Und ob man uns prügelt, beschimpft oder sonstwas, nichts und niemand kann ändern, dass wir Frauen sind. Nicht mal wir selbst. Und wir müssen keinen Rock anziehen, um uns als Frauen zu fühlen. Aber ist es nicht schade, dass eine solche Nebensächlichkeit wie ein Kleidungsstück für manche ein solches Problem ist? Aber wahrscheinlich fällt es Dir einfach schwer, Dir vorzustellen, dass ich mit meiner äußeren Erscheinung eine Frau sein soll. Das liegt daran, dass ich, obwohl Frau, gelernt habe, meinen Körper zu akzeptieren, wie er ist. Ich lebe mit einem Widerspruch, der vielen (übrigens auch einigen Freunden von mir) seltsam erscheint. Nicht alle können mit dem Widerspruch von Körper und Seele leben, wie zum Beispiel Carola. Sie hat eine sogenannte Geschlechtsangleichung machen lassen. Als sie wusste, dass sie eine Frau ist, hat sie Hormone genommen und sich operieren lassen. Ihre Papiere und ihr Name wurden geändert. Jetzt ist sie auch nach dem Gesetz voll und ganz Frau. Was ist an ihr so unmöglich? Hast du Dich mal mit ihr unterhalten? Ich schon. Sie gehört nicht zu meinen guten Freundinnen, aber sie ist nett und in Ordnung. Sie hat viel durchmachen müssen, deshalb wirkt sie ein wenig seltsam. Und sie sieht nicht so aus, wie manche Männer sich eine Frau vorstellen. Was solls. Es gibt Transfrauen, da würdest du im Leben nicht darauf kommen, dass sie früher einen männlichen Körper hatten, du würdest sie sehen und sagen. Was für eine toll aussehende Frau!

Aber ich erwarte keine Wunder. Entsprechende Erziehung und Vorurteile anderer machen uns transidenten Menschen leider das Leben schwer. Damit müssen wir leben. Ich muss damit leben, dass mir Leute eine aufs Maul geben, bevor sie sich überhaupt die Mühe gemacht haben, mich kennenzulernen. Aber wie gesagt, ich erwarte keine Wunder. Ich werde wohl, wie alle Transmenschen, mein Leben lang Angst vor Übergriffen haben müssen. Aber abgesehen davon geht es mir gut, ich bin mit mir im Reinen, weil ich weiß, was ich bin, habe einen großen Freundeskreis, der mich , die Frau, akzeptiert und eine Freundin, die mich liebt, wie ich bin. Mehr brauche ich nicht.

Eine Bitte habe ich noch. Wie ich schon sagte, es spielt keine Rolle, wie man ein Kind erzieht, und mit welchen Leuten es später zusammenkommt. Wenn ein Mensch transident ist, ist er es, da kann man nichts machen und da ist nichts und niemand schuld daran, höchstens die Natur. Und praktisch kann es jeden Menschen betreffen. Wenn Deine Tochter (was statistisch aber eher unwahrscheinlich ist) eines Tages zu Dir kommen sollte und Dir sagt, dass sie das Gefühl hat, in Wirklichkeit ein Mann zu sein, dann nimm sie ernst. Hab sie lieb, wie Du sie immer lieb hattest, denn sie ist noch genau derselbe Mensch. Und so, wie Du Dir Sorgen um Deine Tochter machst, liebst Du sie, das merke ich. Aber diese eine Sorge, dass sie beim Anblick einer Transfrau Schaden nimmt, ist völlig unberechtigt. Das, so hoffe ich wenigstens, konnte ich Dir mit diesem Brief klarmachen.

Janna (oder, wenn es Dir lieber ist: Horst, Dieter, Helmut, Fritz oder Stefan; oder such Dir einen Namen aus, den Du am passendsten für mich findest.)

P.S. Wenn Du noch Fragen hast, dann stell sie ruhig. Und wenn meine Brille dabei ganz bleibt, könnten wir sogar mal ein Bier zusammen trinken.