MICHELLE


1. Eine Straßenabsperrung

Hinter der Absperrung stehen Leute mit Fähnchen und Bannern, auf denen Sätze stehen wie MICHELLE MA BELLE, MICHELLE I LOVE YOU usw. Vor der Absperrung patrouilliert wichtigtuerisch ein untersetzter in seiner Uniform lächerlich wirkender Polizist.

Mädchen: Michelle! Michelle! Michelle!

Alte Frau: Nein, was diese jungen Leute sich um so ein Filmsternchen scheren. Und wir alten Leutchen werden gar nicht beachtet.

Mädchen: Michelle! Michelle!

1. Junge: Schau mal dort, die Kleine, die dauernd Michelle ruft. Die sieht ihr zum Verwechseln ähnlich.

2. Junge: Eine billige Kopie.

1. Junge: Stark. Dieselbe Frisur. Dieselbe Figur.

Mädchen: Michelle!

2. Junge: Was findest du eigentlich an dieser Michelle? Nur weil sie ne berühmte Filmschauspielerin ist, stehen wir stundenlang hier rum, nur weil sie hier vorbeikommt.

Ein Mann taucht vor der Absperrung auf. Er hat völlig verschnittenes Haar.

Polizist: Es ist nicht gestattet sich vor der Absperrung aufzuhalten. Es ist meine Pflicht, Sie darauf hinzuweisen-

Mann: Halts Maul, du Pfurz. Reg mich noch mehr auf und ich weiß nicht, zu was ich fähig wäre.

Polizist: Das war Beamtenbeleidigung. Es ist meine Pflicht-

Der Mann stößt den Polizisten beiseite und sucht die Menge mit den Augen ab. Dann verschwindet er wieder.

Ein Mann aus der Menge: Er ist weg. Glück gehabt.

Seine Frau: Ich habs dir gesagt. Wenn du dieses Schtarlet unbedingt sehen musst, dann mach den Laden rechtzeitig zu. Aber nein, du musstest in letzter Minute noch diesen Herrn drannehmen.

Mann: Ich wollte ja erst gar nicht hierher. Aber dieser Kunde schwärmte ständig von ihr. Und als er sagte, ich soll mich beeilen, weil sie jeden Moment vorbeifährt-

Frau: Du bist mir ein schöner Frisör. Lässt deine Kunden mit halbgeschorenem Kopf sitzen wegen so einem Schtarlet. Da brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn uns die Kunden davonlaufen.

Mann: Schau mal, das Mädchen dort. Genau so sieht sie aus.

Frau: Wer sieht so aus?

Mann: Na, die Michelle.

Mädchen: Michelle! Michelle! Michelle!

Ein Mann in Chauffeurs-Uniform taucht vor der Absperrung auf. Er läuft aufgeregt auf den Polizisten zu und flüstert ihm etwas ins Ohr.


2. Beim Frisör

Drei Kundinnen, alle mit der Michelle-Frisur, sitzen nebeneinander und werden vom Frisör gleichzeitig frisiert.

Eins: Haben Sie es schon gehört?

Zwei: Was?

Eins: Der erste Skandal der Michelle.

Zwei: Nein!

Drei: Ein Skandal? Die Michelle? Nicht möglich.

Eins: Sie saß nicht im Wagen.

Drei: Nicht möglich.

Eins: Der Chauffeur hat es zunächst gar nicht bemerkt.

Zwei: Die Dienstboten von heute.

Eins: Sie soll eine Schaufensterpuppe statt ihrer Person in die Limousine gesetzt haben. Und der Chauffeur hat nichts gemerkt. Wegen der Perücke.

Drei: Nicht möglich.

Eins: Die sah ihrem Haar so täuschend ähnlich.

Zwei: Und was ist aus der echten Michelle geworden?

Michelle kommt und setzt sich neben die dritte Kundin. Die Kundinnen drehen gleichzeitig den Kopf in ihre Richtung und mustern sie abfällig.

Drei: Nicht möglich.

Zwei: Eine billige Kopie.

Eins: Wie kann man eine so göttliche Filmschauspielerin so oberflächlich imitieren!

Frisör: Was kann ich Gutes für Sie tun, mein Fräulein? Waschen? Legen? Spitzen schneiden?

Michelle: Eine Perücke.

Eins: Eine Perücke?

Zwei: Wie kann man eine Perücke tragen, wenn man das perfekte Ebenbild der größten Diva aller Zeiten ist?

Drei: Nicht möglich.

Frisör: Eine Perücke. Welcher Art soll sie sein, die Perücke?

Michelle: Scheißegal. Irgendeine.

Frisör: Irgendeine.

Michelle: Hauptsache, ich sehe nicht mehr aus wie Michelle.

Die Kundinnen: Blasphemie!

Der Frisör setzt Michelle eine Perücke auf.

Michelle: Die passt.

Michelle stopft dem Frisör ein paar große Geldscheine in die Hand und verlässt eilig den Laden.

Drei: Nicht möglich.

Eins und Zwei: Sie sagen es.

Der Chauffeur und der Mann mit dem verschnittenem Haar kommen herein. Der Frisör versteckt sich. Die Männer schauen sich die Kundinnen sehr genau an. Dann schauen sie sich gegenseitig an und schütteln die Köpfe.

Mann: Zwei Drittel der weiblichen Bevölkerung läuft seit heute morgen mit ihrer Frisur herum. Wir finden sie nie. Scheißpropaganda.

Die Männer verlassen den Laden.

Frisör: Glück gehabt.


3. Im Park

Auf dem linken Ende einer Parkbank sitzt Michelle mit Perücke und streckt ihre Beine aus. Auf dem rechten Ende sitzt die alte Frau und zerbröselt Brotstücke, imaginäre Vögel fütternd.

Von links kommen die beiden Männer aus der 3. Szene, von rechts der Polizist und ein klischeehaft wirkender Inspektor. In der Mitte stoßen die vier beinahe zusammen, grüßen sich flüchtig, eilen weiter und gehen gleichzeitig ab.

Michelle: Freiheit.

Die alte Frau: Nein, was diese jungen Leute sich um so ein Filmsternchen scheren. Und wir alten Leutchen werden gar nicht beachtet.

Von links Polizist und Inspektor, von rechts die beiden Männer. Gleiche Situation wie vorhin.

Alte Frau: Sie ist ihnen davongeflogen. Wie ein Vögelchen. In den Sternenhimmel. Jetzt könnt ihr sie suchen. Unter den Milliarden von Sternen.

Michelle: Freiheit. Irgendeine sein auf irgendeiner Parkbank sitzend.

Die alte Frau holt zwei Flaschen Bier aus einem Beutel, öffnet sie und reicht Michelle eine, ohne sie anzublicken. Michelle nimmt sie wie automatisch. Die beiden führen gleichzeitig ihre Flaschen zum Mund, trinken einen Schluck, setzen ab und rülpsen.

Beide: Mahlzeit.

Alte Frau: Sie ist ihnen davongeflogen. Wie ein Vögelchen. Ich will auch davonfliegen können, wenn ich mein Leben satt habe.

Michelle: Freiheit.

Alte Frau: Ich würde die Erde nicht mehr betreten.

Michelle: Irgendeine sein auf irgendeiner Parkbank sitzend Bier trinken.

Beide trinken gleichzeitig.

Michelle: Freiheit. Irgendeine sein und sich verlieben. In irgendeinen.

Von links die zwei Jungen aus der 1. Szene, von rechts das Mädchen aus der 1. Szene und ihre Freundin, ebenfalls im Michelle-Look. der 1. Junge und das Mädchen begrüßen sich überschwänglich mit Küsschen und albernem Gehabe. Die Freundin, vom 2. Jungen wenig begeistert, reicht diesem enttäuscht die Hand. Das Mädchen stellt dem 1. Jungen ihre Freundin vor. Sie begrüßen sich und gehen zusammen mit dem Mädchen schäkernd ab. Der 2. Junge trottet ihnen hinterher. Michelle schaut ihm nach, dann steht sie auf und folgt ihm heimlich.

Die alte Frau trinkt und rülpst.

Alte Frau: Mahlzeit.


4. Im Cafe‘ CHEZ MICHELLE

Das Cafe‘ ist überfüllt, an allen Tischen sitzen Leute, die Frauen und Mädchen alle im Michelle-Look. Unter den Leuten befinden sich der Frisör und seine Frau, die zwei Jungen mit den Mädchen, die drei Kundinnen, die beiden Männer. Die Bedienung, ein Mann im Michelle-Look, verteilt Getränke an die Leute, die sich laut aber unverständlich unterhalten.

Der Polizist und der Inspektor kommen herein. Plötzlich Totenstille. Die beiden gehen von Tisch zu Tisch und schauen sich die Frauen und Mädchen sehr genau an. Plötzlich hört man aus dem Off eine Männerstimme: MICHELLE! OOOH MICHELLE! Polizist und Inspektor stürmen davon. Man hört französische Flüche aus dem Off. Polizist und Inspektor kommen zurück. Sie haben die Bedienung und einen Mann verhaftet, der fortwährend seine Hose hochzieht und französische Flüche von sich gibt. Die vier verlassen das Cafe‘.

Chauffeur: Die leisten ganze Arbeit.

Mann: Diese beknackten Pfurze. Können eine Tunte nicht von einer Diva unterscheiden und verhaften den einzigen Kellner meines Stammcafe’s. Hätten sie wenigstens gewartet, bis er mir meine heiße Schokolade gebracht hat.

Chauffeur: Ich wusste gar nicht, dass Michelle ein Kerl ist.

Mann: Michelle? Ach, du meinst Michelle. Er nennt sich so, weil Michelle sein großes Vorbild ist.

Frau des Frisörs: Schau mal wer da sitzt- Nicht schauen!

Frisör: Wo?

Frau: Nicht schauen!

Frisör: Wer?

Frau: Der Kunde, dem du das Haar verschnitten-

Der Frisör schüttet sich vor Schreck sein heißes Getränk über die Hose. Er steht schreiend auf. Alle schauen auf ihn. Der Mann erhebt sich. Der Frisör verlässt, sich nach allen Seiten entschuldigend, rasch das Cafe‘, seine Frau folgt ihm. Der Mann macht dem Chauffeur ein Zeichen, dann verlassen auch sie das Cafe‘. An der Tür stoßen sie noch mit Michelle zusammen, die gerade hereinkommt.

Mann: Verzeihung-

Mädchen: Hier gehts ganz schön ab, was?

1. Junge: Du hattest Recht. Das Cafe‘ ist echt cool. – Hey, Kumpel, mach nicht son Gesicht. Ist doch echt geil hier. Schau nur, die vielen hübschen Mädchen.

2. Junge: Ich seh nur eine. Und die geht mir langsam auf die Nerven.

Michelle steht immer noch an der Tür. Alle Blicke sind auf sie gerichtet. Ein böses Getuschel ist ausgebrochen, es wird deutlich, dass über sie gelästert wird. Das Getuschel schwillt an, dann plötzlich Totenstille. Alle bis auf Michelle und der 2. Junge sind im Freeze erstarrt. Leise harmonische Musik im Hintergrund, Michelle und der 2. Junge spielen eine Liebesszene aus einem bekannten Film nach.

Die Musik geht aus. plötzlich wieder Getuschel und Bewegung, als ob die Film-Liebesszene nie stattgefunden hätte.