In einer Serie kurzer Essays möchte ich Gedanken zur aktuellen politischen Situation aufschreiben, die in letzter Zeit in meinem Kopf herumgeistern. Ich betone, dass sie weitgehend subjektiver Natur, also selbstverständlich anfechtbar sind. Was davon tatsächlich zutrifft bzw. eintreffen könnte, überlasse ich der Einschätzung und Fantasie meiner Leser:innen…
Putin, und damit meine ich nicht nur ihn selbst sondern das russische Regime mit allen maßgeblichen Drahtziehern, hat das eine Zeit lang demokratische Russland in eine Diktatur verwandelt. Genau genommen hat der Prozess schon mit seiner ersten Amtszeit begonnen. Inzwischen macht er sich nicht einmal mehr die Mühe, das zu kaschieren. Die Gewaltenteilung ist faktisch aufgehoben, und das gilt auch für die „Vierte Gewalt“, die Medien. Siehe Staatsfernsehen und Unterdrückung der Pressefreiheit.
Putin hat innenpolitisch alles erreicht, was ein Machtmensch wie er erreichen kann. Russland gehört ihm; er entscheidet, welche Gesetze gelten und wie der Reichtum des Landes verteilt wird. Kritik an seinem Regime prallt an ihm ab, und vor dem Ukraine-Krieg hatte er sogar über die Wirtschaftsbeziehungen auch zum Westen die Möglichkeit, noch reicher zu werden. Die sich seinem Einfluss entziehende Ukraine konnte er ungehindert mit dem Einschleusen der sogenannten Separatisten im Donbas und der Besetzung der Krim schwächen.
Wozu also die Ukraine überfallen und einen Krieg riskieren, der Russland weitgehend in die Isolation treiben musste? Putin weiß, dass er dadurch weder politisch noch wirtschaftlich etwas dazugewinnen kann. Aber er stagniert, persönlich. Ein Mensch wie er, und in dem Fall meine ich ihn höchstselbst, muss immer weitermachen. Er muss seine Macht ausweiten, nicht primär aus wirtschaftlichen Erwägungen oder um seinen Einfluss zu stabilisieren, sondern weil das Dasein für ihn sonst sinnlos wird.
Ausweitung von Macht bedeutet in dem Fall, buchstäblich eine Grenze zu überschreiten, den Machtbereich geografisch zu vergrößern. Und für einen Charakter, wie ihn Putin innehat, ist es weitaus reizvoller, dies mit Aufwand und Gewalt zu handhaben. Vasallentreue eines Lukaschenko? Langweilig. Widerstand gegen den russischen Einfluss seitens der Ukraine? Ein Geschenk. Was hätte Putin davon, wenn sich die Ukraine ihm unterworfen hätte? Ein Vasallenstaat mehr. Es wäre ihm zu leicht vorgekommen. Nun ist es zu einem spannenden Spiel für ihn geworden, zu einer Herausforderung.
Die Ukraine tut gut daran, sich zu wehren. Würde sie Russland den Süden überlassen, wird sich Putin den Rest auch noch holen. Und herrscht Putin über die gesamte Ukraine, wird sich die Sinnlosigkeit seines Daseins wieder bemerkbar machen, und er wird weiter um sich greifen. Angst vor einem Krieg mit der NATO? Hat er nicht. Aber er will gewinnen. Und er weiß, er kann nur gewinnen, wenn er Zeit gewinnt. Er will die Ukraine gar nicht sofort erobern. Es ist ihm sogar willkommen, dass EU und NATO die Ukraine unterstützen. Zum einen werden militärische Ressourcen verbraucht, was die NATO insgesamt schwächt, zum anderen kann die Propaganda den Westen zum Aggressor stilisieren. Putin setzt außerdem darauf, dass mit der Zeit die EU und auch die NATO destabilisiert werden, indem die ihm freundlich gesonnenen Staaten, Parteien und Fraktionen an Einfluss gewinnen.
Putin will keinen Frieden. Um keinen Preis. Die Ukraine zu unterstützen, auch militärisch, ist eine Notwendigkeit, wenn auch eine bittere. Selbst diejenigen, denen das ukrainische Volk herzlich egal ist, sollten für die aktive Unterstützung der Ukraine sein. Die Ukraine ist aktuell der Puffer zwischen Putins Machtstreben und einer Ausweitung des Krieges auf westeuropäischem Gebiet. Überlässt Europa die Ukraine diesem Aggressor, wird ihn das nicht davon abhalten, es anzugreifen. Er wird es aber strategisch einfacher haben, denn dann steht er sozusagen vor der Haustür. Und wie gesagt, ein Mensch wie Putin wird immer weitergehen. Hätte er jetzt schon die Ukraine erobert, wären wir womöglich schon in der Situation, das Baltikum oder Polen verteidigen zu müssen. Irgendwann wäre auch Deutschland dran.
Aber die USA, wird man vielleicht entgegnen. Die USA sind nicht Europa. Ich habe die albtraumhafte Vision, dass Trump wieder Präsident wird. Er und seine Getreuen beschließen, die Ukraine zu opfern und sich mit Putin zu einigen. Vielleicht hält Putin sich dann zunächst zurück. Um den Preis, dass der Westen das erweiterte Russland hinnimmt bzw. hinnehmen muss, weil der Einfluss der USA zu stark ist und womöglich bis dahin noch mehr rechtspopulistische Regierungen das Ruder in EU-Ländern übernommen haben. Die Sanktionen werden aufgehoben, und es werden wieder munter Geschäfte mit Russland gemacht. Putin ist mächtiger denn je, und wenn er neue Kräfte gesammelt hat, legt er wieder los. Wenn er Glück hat, sind die USA aus der NATO ausgetreten; unter Trump oder einem ähnlich gestrickten Präsidenten ist das gar nicht so unwahrscheinlich. Vergessen wir nicht, aus wie vielen Abkommen Trump in seiner Amtszeit ausgestiegen ist.
Vielleicht zerbricht außerdem die EU. Einige Staaten verbünden sich mit Putin, ähnlich wie es in den ehemaligen Sowjetrepubliken der Fall war und ist. Da die USA unter Trump oder einem „Trumpisten“ auf Seiten des rechtskonservativen Blocks steht, also Russland und den mit Putin befreundeten ehemaligen EU-Staaten, werden sich die USA nicht einmischen, falls Putin danach strebt, seine Macht auf die verbliebenen europäischen Staaten auszudehnen. Notfalls mit Gewalt. Und ohne die USA hätte ein ohnehin geschrumpftes europäisches Militärbündnis wenig Chancen. Falls ein solches Bündnis dann noch existiert. Wahrscheinlicher ist, dass die größeren Staaten die Einnahme der kleineren hinnehmen, und erst eingreifen, wenn sie selber bedroht oder angegriffen werden. Abwegig? Keinesfalls. Vergessen wir nicht, dass Hitler ungehindert einige Gebiete einnehmen konnte, bevor er in Polen einmarschierte…
*****Mai 2024