Einleitende Worte zu einem Vortrag


Was soll es bringen, das Frauenbild in den homerischen Epen zu untersuchen, kann man sich fragen. Die Epen sind ein uraltes Stück Literatur einer längst vergangenen Epoche. Stimmt. Dennoch beeinflusst dieses Werk seit seiner Niederschrift bis heute die abendländische Kultur und Kulturgeschichte. Dabei wird das Frauenbild in der Regel als historisch gegeben wahrgenommen. Die Sitten waren damals so, heißt es dann. Man könne die damaligen Verhältnisse nicht auf heutige übertragen, eine Wahrnehmung aus heutiger Sicht gäbe ein schiefes Bild. Das ist in gewisser Weise wahr. Aber es geht nicht darum, zu beweisen, dass das 21. Jahrhundert in der Frauenfrage progressiver ist als das archaische Griechenland. Es geht um das Sichtbarmachen universeller Mechanismen, die den Stellenwert der Frau in der Gesellschaft bestimmen. Und wir werden im Anschluss an diesen Vortrag erkennen, dass sich bestimmte Mechanismen schon in der ältesten abendländischen Literatur finden, die bis heute fortwirken.

Ich möchte aber nicht behaupten, Homer sei ein Sexist gewesen. Wenn er es war, so wissen wir es nicht, weil wir nichts wirklich über ihn wissen. Wir kennen lediglich Geschichten, die er erzählt, die im übrigen in einer Zeit spielen, die auch für ihn nicht zeitgenössisch war. Aber in seinen Geschichten spiegelt sich eine Gesellschaft wieder, die nicht nur „typisch altgriechisch“ , sondern auch typisch menschlich ist. Wenn ich das Frauenbild in den Epen darlege, dann eben das in dem Werk dargestellte, und nicht das des Menschen und Dichters Homer. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

Ich will auch nicht behaupten, dass Homers Werk dazu geführt hat, dass die nachfolgenden Epochen nicht gerade frauenfreundlich waren. Sie zeigen aber, wie alt ein bestimmtes Bild von der Frau in der Gesellschaft ist. Ein Bild, dass sich hartnäckig in verschiedenen Kulturkreisen, Epochen und Köpfen gehalten hat. Und wie man auch andere Schriftzeugnisse früheren Zeiten, wie die Bibel zum Beispiel, nicht unkritisch rezipieren sollte, kann ein kritischer Blick auf die homerischen Epen nicht schaden.

Natürlich besteht das Frauenbild auch hier nicht nur aus kritikwürdigen Stellen. Ich habe mich aber auf solche beschränkt, da mir die weniger und gar nicht kritischen Stellen entweder selbstverständlich oder belanglos erschienen. Wer dem nicht traut, sei aufgefordert, die Epen selber zu lesen, und sich eine umfassendere Meinung zu machen. Die Lektüre ist in jedem Fall empfehlenswert.

Und natürlich bezieht sich die Darstellung nicht auf den altgriechischen Originaltext, den ich nicht gelesen habe, sondern auf die hier zitierten Übersetzungen. Sollten die Übersetzer Stellen verfälscht oder uminterpretiert haben, so weiß ich dies nicht. Aber in dem Fall ist es auch nicht das Original, was auf uns einwirkt, sondern die Übersetzungen, die wir lesen. Und selbst, wenn die eine oder andere Stelle verfälscht wäre, ändert sie nichts am Gesamtzusammenhang.

Dies kurz vorneweg. Diese und ähnliche Gedanken können nach dem Vortrag gern noch weiter diskutiert werden…