Um gleich einem Missverständnis zuvor zu kommen: Ich bin für die sogenannte Ehe für alle. Wenn Ehe, dann für alle. Aber ich frage mich: warum überhaupt Ehe?
Die Ehe ist ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Ich will keinen historischen Abriss liefern, sondern nur benennen, was der Kern des Ehegedankens war: Der Mann galt (und gilt?) als Herrscher über die Frau; der Mann nahm sich eine Frau, oder auch mehrere, und sie war ihm untertan.
In unserem westlichen Kulturkreis gilt das seit der Gleichstellung der Frau so nicht mehr. Richtig. Aber das ist es ja, wenn etwas so nicht mehr gilt, wozu dann etwas weiter praktizieren, was sich längst überholt hat?
Wenn ich eine Umfrage starten würde, warum man heiraten sollte, würde ich wahrscheinlich am häufigsten folgende Antworten bekommen: Um die gegenseitige Liebe zueinander zu bekräftigen, würden die romantisch Veranlagten sagen. Die Pragmatischen würden die Möglichkeit steuerlicher Vorteile ins Feld führen. Und diejenigen, die Kinder haben oder sich wünschen, sehen die Ehe als Fundament der Familie. Ich möchte diese drei Argumente genauer untersuchen.
Ich beginne mit der Familie. Familie ist schon lange nicht mehr das Konstrukt aus dem biologischen Vater, der biologischen Mutter und den Kindern selbst. Ich muss nicht die vielfältigen Spielarten aufzählen, die es heutzutage gibt, und die es auch immer schon gab; wenn auch oft aus der Not geboren. Kinder haben in unserer Gesellschaft zum Glück auch nicht mehr darunter zu leiden, dass ihre Eltern nicht verheiratet sind. Das Kindeswohl steht an erster Stelle, und Kindergeld erhält man unabhängig davon, ob die biologischen Eltern Ehepartner:innen sind.
Nun zu den steuerlichen Vorteilen. Ehe ist letztlich ein Vertrag zwischen zwei Menschen. Sie verpflichten sich, zusammen zu leben. Entsprechend haben sie steuerliche Vorteile. Der Vertrag kann auch wieder aufgelöst werden. Ein juristisches Prozedere, das nur deshalb existiert, weil traditionsgemäß „immer schon“ Mann und Frau geheiratet haben. Wie absurd dieses Konstrukt eigentlich ist, zeigte sich bei der Einführung der Eingetragenen Partnerschaft. Ein Vertrag zwischen einem Mann und einer Frau wurde als hochwertiger eingestuft als derselbe zwischen Mann und Mann bzw. Frau und Frau. Dabei bedeutet Ehe nur, dass zwei Menschen zusammenleben wollen.
Warum eigentlich zwei Menschen? Damit kommen wir zur Liebesheirat. Zwei Menschen beginnen sich zu lieben, und irgendwann beschließen sie, ihre gegenseitige Liebe nach außen hin zu bekräftigen, indem sie heiraten. Diejenigen, die auf derlei Symbolik verzichten können, wählen den Weg aufgrund der erwähnten steuerlichen Vorteile. Doch bleiben wir bei der Frage: warum zwei Menschen? Weil es immer so war. Zuerst hat der Mann sich die Frau genommen oder wurde ihm gegeben. Dann schlossen Mann und Frau den Vertrag im gegenseitigen Einvernehmen. Und mit der Ehe für alle durften dann zwei Männer bzw. zwei Frauen dasselbe tun.
Das lässt vermuten, dass Ehe etwas ist, was nur zu zweit geht. Ist es so? Ja, werden die meisten sagen, denn man kann nur einen Menschen zugleich „in diesem Sinne“ lieben. Partnerschaft bedeutet, egal ob „wilde“ oder offizielle Ehe, dass zwei Menschen, die sich lieben, sich auch treu sind.
Ich behaupte: nicht nur die Ehe ist ein Konstrukt, sondern auch die „feste“ Partnerschaft. Auch diese baut, bewusst oder unbewusst, auf dem Glauben auf, man könne einen anderen Menschen besitzen. Das ist aber nicht der Fall. Will man es positiver ausdrücken, so beschließen zwei Menschen, aus „Liebe“ (?) einander treu zu sein; faktisch versprechen sie sich ganz einfach, nicht mit anderen Intimitäten auszutauschen. Der Sinn dieses Versprechens leuchtet mir nicht ein. Und mit Liebe hat das herzlich wenig zu tun.
Ich will aber nicht einfach nur destruktiv zementierte Vorstellungen zertrümmern und traditionelle „Werte“ hinterfragen, sondern werde nun einen Gegenentwurf im Gesamten präsentieren. Wie viel Wahrheit darin steckt, möge jede:r selber entscheiden.
Menschen knüpfen Beziehungen zueinander. Mit Beziehung meine ich jede Art von Austausch, der über eine flüchtige Bekanntschaft hinausgeht. Treffe ich einen mir fremden Menschen auf der Straße und wir grüßen uns, dann haben wir keine Beziehung geknüpft. Selbst wenn wir ein längeres Gespräch führen und dann auseinandergehen, war das noch keine Beziehung. Erst wenn wir uns wiedersehen wollen, und es tatsächlich tun, stehen wir in einer Beziehung zueinander. Eine Beziehung besteht zum einen aus Kontinuität, zum anderen aus dem gegenseitigen Wunsch, ein gemeinsames Bedürfnis zu befriedigen. Ein dritter Aspekt ist die gegenseitige Sympathie.
Eine Beziehung, die man mit einem anderen Menschen hat, den man sympathisch findet, den man öfter trifft oder zumindest im Kontakt steht, weil man sich gegenseitig etwas zu geben hat, das ist nichts anderes als das, was man Freundschaft nennt. Menschen schließen Freundschaften, weil sie sich zugeneigt sind und gemeinsame Bedürfnisse haben. Entsprechend haben sie den Wunsch, sich öfter zu sehen und anhaltender im Kontakt zu stehen.
Ein natürliches Bedürfnis der meisten Menschen ist der Austausch von Intimitäten. In der Regel können wir uns nur Intimitäten mit einem Menschen vorstellen, der uns sympathisch ist, den wir mögen und näher kennen, und wenn es für beide schön und zufriedenstellend ist, dann wollen wir es dauerhafter. Um den unsäglichen Begriff „Freundschaft plus“ zu vermeiden, nenne ich es lieber Intimfreundschaft. Aber eigentlich will ich auch diesen Begriff nicht verwenden. Denn warum überhaupt den Freundschaftsbegriff künstlich unterteilen? Eine Freundschaft zwischen volljährigen Menschen kann Intimitäten beinhalten, oder eben nicht. Punkt.
Auch eine Partnerschaft ist letztlich nichts anderes als eine Freundschaft. Was ist das Besondere, das über die Freundschaft hinausgeht? Es ist das gegenseitige Versprechen der Treue, der intimen Ausschließlichkeit. Doch man besitzt sich nicht, man ist frei. So viel man sich verspricht, es gibt immer die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Was dann auch nicht selten geschieht: Partner:innen gehen fremd, Paare trennen sich.
Partnerschaft ist also ein Konstrukt, eine künstliche Absprache, die so lange hält, bis das Begehren gegenüber einem anderen Menschen zu stark ist. Dann glaubt man, sich entscheiden zu müssen: die Partner:in oder der andere Mensch, den man mehr zu begehren scheint. Warum ist es nicht möglich, mit zwei Menschen sein Begehren auszuleben? Ich denke, dass dem Austausch von Intimitäten etwas geradezu „Heiliges“ angehaftet wird, was völlig überzogen ist.
Heben wir das Intimleben von seinem Sockel und betrachten es als etwas, das in einer Freundschaft vorkommen kann, als selbstverständlicher Ausdruck von Zuneigung und Begehren. Das scheint mir natürlicher als ein Treueversprechen zwischen zwei Menschen. Dennoch würden wir, gäbe es das Konstrukt Partnerschaft nicht mehr, mit einem, höchstens zwei oder in seltenen Fällen drei Menschen intim sein. Denn wie gesagt setzt Freundschaft Intensität und Kontinuität voraus. Wir mögen unendlich viele Bekanntschaften haben, Freundschaften haben wir nur wenige. Der Zeitfaktor setzt uns eine Grenze; verteilen wir unsere Aufmerksamkeit auf zu viele Leute, bleiben am Ende nur oberflächliche Bekanntschaften übrig. Deshalb entwickelt es sich meist ganz von selbst, dass Kontakte verloren gehen, während nur einige wenige zu Freundschaften werden. Und auch diese sind unterschiedlich intensiv. Wir konzentrieren uns unbewusst auf einen Menschen im besonderen, oder zwei; und das sind die, die uns besonders viel geben, die uns am wichtigsten sind.
Das Bedürfnis nach Intimitäten ist ein sehr starker Impuls. Begehren wir jemanden, und dieser erwidert das Begehren, will man sich möglichst oft sehen, sich nahe sein, viel Zeit miteinander verbringen. Diese Freundschaft ist also besonders intensiv. Und solange das Begehren sich auf nur diese eine Person richtet, lebt man letztlich das, was Partnerschaft ausmacht. Mit dem Unterschied, dass man sich kein Treueversprechen gibt. Wozu auch? Muss man unbedingt das Zusammensein deklarieren? Spielt es wirklich eine Rolle, mit wie vielen Menschen man intim ist? Und muss man darüber Rechenschaft ablegen?
In meinem Gesellschaftsmodell gibt es demnach nur eine Form von Beziehung: die Freundschaft. Entsprechend ist nicht nur die Partnerschaft ein überflüssiges Konstrukt, sondern auch die Ehe. Denkt man meinen Entwurf weiter, so ist die Ehe eine besonders intensive Freundschaft zwischen zwei Menschen, die aus dem offiziellen Deklarieren ihrer Freundschaft steuerliche Vorteile in Anspruch nehmen. Ein Abkommen mit dem Staat, der dieses Angebot macht; und es gibt auch Pflichten, die aber immer mit finanziellen Aspekten zusammenhängen. Die Ehepartner sind nicht verpflichtet, zusammen zu leben oder miteinander intim zu sein.
Warum bietet der Staat nicht ein anderes Modell an? Menschen, die zusammen leben wollen und sich unterstützen, unabhängig von der Anzahl der Beteiligten, erhalten steuerliche Vorteile. Ähnlich einem gemeinnützigen Verein, bilden sie eine nützliche Lebensgemeinschaft und können steuerliche Vorteile in Anspruch nehmen. Das wäre nicht nur weniger absurd, es wäre auch gerechter.
„Aber die Kinder!“ höre ich den vorwurfsvollen Ruf. Was haben Kinder mit Partnerschaft und Ehe zu tun? Kinder brauchen Schutz und Zuwendung, finanzielle Unterstützung und ein Zuhause. Das alles bekommen sie in jeder Familienkonstellation; wo sie es nicht von den Sorgeberechtigten erhalten, sorgt der Staat dafür. Das sind die Gesetze, auf die es ankommt, die die Kinder betreffen. Es braucht keine steuerlichen Vorteile für Eheleute, aber unbedingt Kindergeld.
In meinem Modell gibt es jede erdenkliche Form von Familie. Das ist ohnehin schon Realität: wir haben klassische Familien, Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien, Pflegekindfamilien, Alleinerziehende usw. ; aber ist die klassische Familie, d.h. Mann und Frau, die die biologischen Eltern der Kinder sind und verheiratet, das Ideal? Nein. Das Ideal ist jede Familienkonstellation, sofern das Kindeswohl beachtet wird.
Gäbe es keine feste Partnerschaft, mit oder ohne Ehegelübde, gäbe es keine Familienplanung. Kinder würden nur noch aus Versehen entstehen. So könnte man argumentieren. So wäre es aber nicht. Kinder in die Welt zu setzen und eine Familie zu gründen ist für viele ein großes Bedürfnis. In meinem Entwurf suchen sich miteinander befreundete Menschen, um ein Kind in die Welt zu setzen, weil sie Vater oder Mutter sein wollen. Sie wollen das Kind und werden es lieben, unabhängig davon, ob sie ein Paar sind oder nicht. Wenn sie über den Kinderwunsch hinaus gemeinsam Bedürfnisse leben wollen, werden sie das tun, werden wahrscheinlich zusammen mit dem Kind in einer Wohnung leben, gemeinsam Dinge unternehmen, vielleicht auch (weiterhin) intim miteinander sein.
Vielleicht wollen die Eltern des Kindes bewusst nicht in einer Wohnung miteinander leben, oder sind mit jemand anderem intim, der kein (eigenes) Kind will. Das Kind ist mal bei dem und mal beim anderen Elternteil, und manchmal unternehmen sie alle zusammen etwas. Letztlich gibt es das schon, nur dass es sich dann meist um eine ehemals feste Partnerschaft handelt, die sich aufgelöst hat. Dem Kind wurde suggeriert, dass die Partnerschaft unauflöslich ist, bis es die bittere Wahrheit erfahren muss. Ich glaube, dass ein Kind glücklicher aufwächst, wenn es das Konstrukt Partnerschaft gar nicht kennt, sondern Familie von Anfang an als das kennenlernt, was es real ist: Menschen, die es lieben und für sein Glück sorgen. Dabei ist es unerheblich, ob es der Mann ist, der es gezeugt oder die Frau, die es geboren hat; unerheblich auch, wie die Bezugspersonen zueinander stehen und wie viele es sind.
Deshalb also meine Vision für die Zukunft: Lasst uns Beziehungskonstrukte wie Partnerschaft und Ehe überwinden, leben wir lieber ehrliche Freundschaften, mit oder ohne Intimitäten, mit oder ohne Kinder(wunsch). Und wer die klassische Partnerschaft mit Treueversprechen oder die klassische Familie als Mann und Frau und eigenen Kindern zu seinem Glück braucht, kann das trotzdem leben.
*****April 2024