DAS NETZ


Für die dreizehnjährige Jana war der Sonntag zunächst so verlaufen wie jeder. Sie war schon sehr früh am Morgen aus dem Haus geschlichen, um ihren Vater nicht zu wecken, war zum Fluss gelaufen, wo sie in einem nahegelegenen Wäldchen ihr Baumhaus hatte, von dem ihr Vater nichts wusste, hatte den ganzen Tag dort verbracht und war dann spätabends wieder nach Hause zurückgekehrt; wohl wissend dass ihr Vater wieder einmal völlig betrunken auf sie wartete und er sie, ohne ein Wort zu sagen, fürchterlich verprügeln würde.

An diesem Sonntagabend verprügelte er sie nicht nur, er packte sie hinterher an den Haaren, schleifte sie die Treppe hinunter in den Keller und sperrte sie ein. Dann verließ er das Haus. Das Mädchen hatte die Haustür ins Schloss fallen gehört. Wahrscheinlich setzte er seine Sauftour fort.

Benommen lag Jana in dem engen Kellerraum, der ihr wie ein mittelalterlicher Kerker vorkam durch das vergitterte Fenster und den modrigen Geruch. Benommen lag sie auf ein paar zerlöcherten Decken neben einigen Kästen Bier und spürte deutlich, wie ihr Gesicht allmählich anschwoll und zu schmerzen begann. Sie wollte losheulen vor Schmerz, aber sie heulte nicht. Große Mädchen heulen nicht, hatte Mutter immer gesagt; dabei hatte sie selbst immer geheult, nachdem er sie geschlagen hatte. Aber für Mutter schien es selbstverständlich zu sein, das Gegenteil von dem zu tun, was sie zu sagen pflegte. Sie hatte auch zu ihr gesagt, sie würde ihre Tochter nie alleine lassen; und zwei Monate war es nun schon her, seit sie verschwunden war. Sie war weggegangen, ohne etwas mitzunehmen, hatte alles zurückgelassen, so wie sie ihre Tochter zurückgelassen hatte, mit diesem Scheusal von Vater.

Tränen liefen Jana über das mit blauen Flecken übersäte Gesicht. Sie war allein, alleine in einem beinahe dunklen Raum, in dem es stank und in dem es von Ungeziefer nur so wimmelte. An dem Gitterfenster hing ein Spinnennetz, fast unsichtbare Fäden kunstvoll verknüpft zu einem Gebilde, das durch das spärlich einfallende Licht des Mondes gespenstisch leuchtete. Jana raffte sich auf, nahm den Kehrbesen, der neben der dazugehörigen Schaufel in einer Ecke lag, und wollte das Kunstwerk der Natur in mechanischer Selbstverständlichkeit aus der Welt wischen, als wie aus dem Nichts ein kleiner dünnbeiniger Schatten über das Netz huschte. Vor Schreck ließ Jana den Besen fallen und verfolgte dann fasziniert die Bewegungen der Spinne. Es war das erste Mal, dass sie ein Tier so bewusst betrachtete. Eigentlich ekelte sie sich vor Spinnen, weil alle Mädchen, die sie kannte, Angst vor Spinnen und anderen kleinen Tieren hatten. Jetzt war sie alleine, und dieses Tierchen, eigenartig aber gar nicht so hässlich und ein selbständiges Lebewesen, war das einzige, was diesen drückenden Moment mit ihr teilte. So wie die Spinne mit ihrem Netz, so war Jana mit dieser Spinne verbunden. Jana hatte nur sie, und Jana brauchte die Spinne, denn sie nahm ihr die Einsamkeit. Aber brauchte die Spinne sie? Im Gegenteil, stellte das Mädchen erschrocken fest, als ihr bewusst wurde, dass sie diesem wehrlosen Geschöpf beinahe das Zuhause zerstört und es vielleicht sogar verletzt oder getötet hätte. Es war nur so ein lächerlich winziges Etwas, aber wo war der Unterschied, ob ihr Vater Gewalt gegen sie anwandte oder sie Gewalt gegen dieses Tier? Die Spinne war unschuldiger als sie selbst. Jana schämte sich plötzlich für ihre fast vollbrachte Gräueltat, und sie wünschte sich bei Gelegenheit ihrer Freundin einmal beistehen zu können, um alles wiedergutzumachen. Die kleine Spinne war jetzt Janas Freundin, vielleicht sogar die einzig wirkliche Freundin, die sie jemals gehabt hatte.

Die Zeit verging schnell in dem düsteren Keller. Jana spielte mit ihrer neuen Bekanntschaft. Sie ließ das Tier auf ihrem Arm herumkrabbeln, und sobald die Spinne den Rand des Handrückens erreicht hatte, seilte sie sich ab, ließ sich irgendwo auf dem anderen Arm nieder, und sie wiederholten das Spiel. Wenn die Spinne auch nicht sprach, so empfand Jana doch das Spiel als eine Art Kommunikation mit einem lebendigen Wesen, und sie merkte, dass sich ihre Freundin gerne mit ihr unterhielt.

Hallo Spinnchen, sagte das Mädchen plötzlich in die Stille hinein, und wiederholte es in liebevoll kindlichem Tonfall, als würde sie einen Säugling taufen: Hallo Spinnchen… Spinnchen wurde des Spielens überdrüssig und schwang sich mit ihrer hauchdünnen Liane von Janas Arm zum Fenster und ließ sich am Rand ihres Netzes nieder, um auszuruhen. Auch Jana war müde, es war wahrscheinlich schon Mitternacht, und ihre Glieder waren schwer vom vielen Herumklettern und Toben im Wald, und sie legte sich wieder auf die alten Decken und schlief ein.

Hilfe! Hilfe! schrie sie, in einem riesigen Netz aus dicken Tauen gefangen. Doch statt einer riesigen Spinne kam ihr Vater auf einem der Taue balancierend auf sie zugeschlichen, ein langes spitzes Fleischermesser in der Hand. Er kam immer näher, und gerade als er zustechen wollte, fiel Spinnchen auf ihn, so groß wie ein ausgewachsenes Pferd… Hilfe! Schrie Jana wieder und wachte auf. Sie schlug blind um sich, bis sie wieder richtig bei Sinnen war. Früher hatte Mutter sie immer in ihre Arme geschlossen und beruhigt, wenn sie aus einem Alptraum erwacht war, aber Mutter war nicht mehr da.

Sie hörte jemanden die Treppe herunterrumpeln. Kurz darauf versuchte jemand den Schlüssel in der Tür umzudrehen, und nach einer Weile fiel ein Lichtstrahl in den dunklen Raum. Jana hielt den Atem an. Ein großer Schatten, begleitet von einem alles durchdringenden Gemisch aus Zigarettenatem und Branntweinfahne, einen Geruch verbreitend, der noch widerwärtiger war als der modrige Gestank des Kellers, torkelte auf sie zu und lallte mit rauer Stimme: Was schreist du so mitten in der Nacht, du kleines Miststück? Dann schlug etwas hartes gegen Janas Gesicht. Sie sank halb betäubt auf den Boden; warmes Blut sickerte aus ihrer Nase und benetzte ihre Lippen. Aus der Ferne vernahm sie ihre eigene Stimme hysterisch aufschreien, als sie aus tränenverklebten Augen die Kehrschaufel scheppernd am Gitterfenster aufprallen sah, die das glänzend schöne Spinnennetz zerfetzte und im Nu in ein Gewirr loser Fäden verwandelte.

Spinnchen, stieß Jana keuchend hervor, als die Tür zufiel, Spinnchen… Sie schaute zum Fenster, schaute ein zweites Mal hin, aber ihre Freundin war weg; geblieben ein Knäuel von Spinnweben, das an dem Gitter herunterhing wie das Haar an einer halb verwesten Leiche.

Plötzlich öffnete sich die Tür. Wie von Geisterhand bewegte sie sich knarrend von selbst. Ihr betrunkener Vater hatte vergessen sie wieder abzuschließen. Ohne lange zu zögern verließ Jana ihr Gefängnis, schlich die Treppe hinauf, näherte sich vorsichtig herumschauend der Haustür, riss diese mit einem Ruck auf und rannte los, rannte über den Weg hinunter zum Fluss in ihr Wäldchen, bis sie von Hunger und Schmerz geschwächt vor ihrem Baumhaus liegenblieb.

Freunde lässt man nicht allein, hörte sie Spinnchen sagen, als diese unversehrt aus dem zerzausten Haar ihrer Leidensgefährtin über das blutverschmierte Gesicht krabbelte und sie kitzelte. Und danke fürs Mitnehmen… Der Schmerz und die Müdigkeit waren wie weggeblasen, so sehr freute sich Jana über das Wiedersehen. Sie hob vorsichtig den Kopf und hielt ihrer Freundin den Handrücken hin, und tatsächlich ließ sich die Spinne darauf nieder.

Das ist dein neues Zuhause, Spinnchen, gefällt es dir? Wie eine Antwort begann die Spinne sogleich ein Netz zu spinnen, in der Nische des Baumhauses, in der Jana sie abgesetzt hatte. Jeder braucht ein Zuhause… Das Mädchen schaute ihre Freundin neidisch an. Wie gerne wäre sie jetzt die Spinne! Lebe wohl, kleine Freundin, ich gehe ohne dich zurück… Diesmal gelang es ihr, die Tränen zu unterdrücken. Wenigstens du bist jetzt in Sicherheit…

Jana kletterte hinunter, nahm die Leiter, die sie sonst in der Nähe des Baumhauses versteckte und zog sie zum Fluss, der sie wenig später stromabwärts trug. Jana stand am Ufer und schaute der Leiter nach. Ihr Schicksal war ungewiss, aber mit der Strömung würde das hölzerne Gestell irgendwo stranden, irgendwo aber weit weg von diesem Ort. Sie sah ihre Mutter auf der anderen Seite des Flusses; sie stand da, traurig und glücklich zugleich. Aber als Jana ein zweites Mal hinsah, war sie wieder verschwunden.

Das Mädchen starrte mit leerem Blick auf die schimmernde Oberfläche des Wassers, auf der das Mondlicht tanzte, und der Fluss sah aus wie ein riesiges Spinnennetz. Das Netz erzitterte, als ein Schatten ähnlich eines hilflosen kleinen hilflosen Tieres einen Moment darin gefangen war, bis er durch die Fäden rutschte und das schwarze Nichts der Maschen ihn verschlang.