ÜBER BEZIEHUNGEN


Die Dinge, die dieser Essay behandelt, werden hier nicht neu erfunden. Sie werden lediglich neu betrachtet. Ich will sie so beschreiben, dass eine unverstellte Sicht auf sie möglich ist. Die Sicht ist verstellt durch Konventionen und Traditionen, Klischees und sogenannte Romantik. Sie werden den Leser:innen anders vorkommen, obwohl sie dasselbe sind, was sie vorher waren, nur ohne den Nebel der Illusion, der sich mit der Zeit um sie herum gebildet hat. Ohne den Nebel betrachtet man vielleicht die Dinge anders und kann für sich daraus ungeahnte Schlüsse ziehen. Schlüsse, die möglicherweise dabei helfen, Beziehungen ehrlicher zu leben oder überhaupt einzugehen.

Der Essay ist aber kein Beziehungsratgeber. Vielleicht hilft er trotzdem weiter; gerade deshalb, weil er nicht den Anspruch erhebt, einer zu sein. Ich könnte mir vorstellen, dass es der einen oder anderen Leser:in hinterher leichter fallen könnte, einen Menschen für eine Partnerschaft zu finden.

Es wäre schön von denen, die aus dem Essay in irgendeiner Form praktischen Nutzen ziehen konnten, ein Feedback zu bekommen. Weniger um mir auf die Schulter klopfen zu können als mich darüber zu freuen, dass eine unverstellte Sicht auf die Dinge das Leben vereinfachen kann. Davon bin ich nämlich überzeugt. Zudem interessieren mich Geschichten, und vielleicht entwickelt sich ja aus den Gedanken und Sichtweisen hier (d)eine persönliche Geschichte…

Viel Vergnügen beim lesen, denken und träumen,

Eure Janna S. Kagerer

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Gegenüber jedem Menschen, dem wir begegnen, entwickeln wir Gefühle. Wir geben diesen Gefühlen alle möglichen Namen; letztlich gibt es aber nur zwei Gefühlszustände, einen positiven und eine negativen. Ein Mensch ist uns entweder sympathisch oder unsympathisch. Diese Sympathie bzw. Antipathie ist eine Momentaufnahme; sie gilt nur für die gegenwärtige Begegnung. Treffen wir erneut auf denselben Menschen, kann die Sympathie in Antipathie umschlagen und umgekehrt.

Diese Gefühlszustände sind nicht nur dynamisch und nicht statisch, sie sind auch nicht quantitativ variabel. Es gibt nur „sympathisch“ und „unsympathisch“; es gibt kein „besonders (un)sympathisch“ oder ein „X ist (un)sympathischer als Y“.

In der häufigen Begegnung mit einem Menschen kann sich allerdings herausstellen, dass der Gefühlszustand der Sympathie überwiegend auftritt. Diesen wiederkehrenden Gefühlszustand nehmen wir in der Summe wahr und sagen dann: „Ich mag X“. Wir sind dem Menschen generell zugeneigt, wir empfinden Zuneigung zu ihm. Dies ist der Ausgangspunkt für eine Beziehung.

Eine Beziehung ist eine kontinuierliche und intensive Auseinandersetzung zwischen Menschen, die einander zugeneigt sind. Mit flüchtigen Bekannten, die man „nett“ findet, führt man keine Beziehung; dazu fehlen Kontinuität und Intensität.

Es gibt zwei Formen von Beziehung: Freundschaft und Partnerschaft. Freundschaft ist das, was man in der Regel als „platonische Freundschaft“ bezeichnet. Es findet kein intimerer sensueller oder sexueller Austausch statt. Bei der Partnerschaft ist das dagegen der Fall. Es sei aber darauf hingewiesen, dass eine Partnerschaft nicht zwingend sexuelle Handlungen beinhalten muss. Auch wenn „nur“ ein sensueller Austausch (Küssen, Streicheln usw.) stattfindet, handelt es sich um eine Partnerschaft.

Warum überhaupt Beziehungen? Wir Menschen sind soziale Wesen, wir brauchen andere Menschen, um uns mit ihnen auseinanderzusetzen, zu kommunizieren, etwas zu unternehmen usw. ; darüber hinaus haben wir die natürliche Sehnsucht nach sensuellem und meist auch sexuellem Austausch. Der Antrieb, eine Beziehung einzugehen, welcher Form auch immer, sind unsere eigenen Bedürfnisse. Das sind wir uns meist nicht bewusst, oder wollen es uns nicht bewusst machen; es klingt „unromantisch“ und „egoistisch“. Dennoch zeigt die Realität, dass wir das, bewusst oder unbewusst, so handhaben. Unsere Freund:innen sind die Menschen, die unseren Bedürfnissen entgegenkommen. Das sind neben der gegenseitigen Zuneigung die gemeinsamen Interessen; Freund:innen sind die Personen, mit denen man etwas „anfangen“ kann.

Bei der Partnerschaft kommt noch das Begehren hinzu. Begehren ist das Bedürfnis nach sensueller und sexueller Befriedigung. Das Bedürfnis ist zwar allgemein, aber man kann sich das Ausleben dieses Bedürfnisses nicht mit jedem Menschen vorstellen, selbst wenn man ihm zugeneigt ist. Man muss sich zu dem Menschen körperlich hingezogen fühlen, ihn begehren. Eine Partnerschaft basiert also auf den Faktoren Zuneigung, Begehren und Kompatibilität bei der Befriedigung der übrigen Bedürfnisse; nennen wir letzteres vereinfacht „gleiche Interessen“.

Nehmen wir zwei erwachsene Menschen zum Muster, Petra und Paul. Petra und Paul lernen sich kennen, finden sich anhaltend sympathisch, sind also einander zugeneigt, finden den jeweils anderen körperlich anziehend und stellen fest, dass sie gemeinsame Interessen haben und somit etwas miteinander „anfangen“ können. Sie werden sich nun öfter treffen, etwas zusammen unternehmen und schließlich auch wiederholt intimen Austausch haben. Damit führen sie eine Partnerschaft. Wir werden sagen: Petra und Paul haben sich ineinander verliebt. Die Phase des Sich-Verliebens ist aber keine zwingende Voraussetzung für die Entstehung einer Partnerschaft.

Was genau ist das Phänomen des Sich-Verliebens? Es ist ein natürlicher Impuls, der mit der Pubertät aufkommt. So wie ein Kind alles für die eigene Entwicklung wichtige spielerisch erlernen und kennenlernen muss, muss der heranwachsende Mensch die Möglichkeit intimer Zweisamkeit entdecken. Das ist verständlicherweise, wie alles andere unbekannte, mit Ängsten verbunden. Also hat die Natur es so eingerichtet, dass wir uns verlieben. Das bedeutet, dass wir die Illusion entwickeln, ein bestimmter Mensch sei etwas ganz besonderes, wobei es keine Rolle spielt, welche Eigenschaften dieser Mensch hat; in den Augen des Verliebten ist er perfekt, und was nicht passt wird schön geredet. Letztlich muss man den Menschen nicht einmal persönlich kennen. Wir verlieben uns in der Pubertät auch in einen Rockstar oder eine Filmschauspielerin.

Der Mensch, in den wir uns verlieben, ist recht willkürlich gewählt; wir suchen ihn tatsächlich aus, allerdings unbewusst. Wir entwickeln Zuneigung zu einem bestimmten Menschen und potenzieren diese ins unermessliche; dadurch bilden wir uns ein überbordendes Gefühl zu ihm ein und überhöhen ihn in unserer Vorstellung zu einem perfekten Wesen. Nur über diesen Weg können wir die diffusen unbewussten Ängste überwinden und uns überhaupt auf einen anderen Menschen so einlassen, dass das Kennenlernen sensuellen und sexuellen Miteinanders möglich ist. Ein perfekter und nur für uns bestimmter Mensch kann uns nichts antun wollen, also können wir uns ihm nähern. Natürlich läuft das alles im Unterbewusstsein ab; bewusst nehmen wir nur wahr, dass wir „verliebt“ sind.

Nun ist nicht alles Illusion, was in der Beziehung zwischen den Verliebten besteht. Die Zuneigung ist echt, auch das Begehren, das sich dann im ersten Kuss oder auch in der Entdeckung der Sexualität ausdrückt. Die Illusion besteht nur in dem Punkt, dass der Mensch weder perfekt ist noch der Einzige ist, mit dem man eine Beziehung eingehen könnte. Weil der Glaube daran aber so groß ist, bricht für den Verliebten eine Welt zusammen, wenn das Gegenüber sich anderweitig verliebt; denn ganz plötzlich, ohne jeden Übergang, ist ein anderer Mensch der absolute und einzige, mit dem man eine Beziehung führen will und kann. Man selbst hat „Liebeskummer“, bis man sich in einen anderen Menschen verliebt; und plötzlich ist jener das Ein und Alles, und der Mensch davor spielt keine Rolle mehr.

Diese Phase des Sich-Verliebens mit all den Freuden und dem Leiden ist absolut notwendig für unsere Entwicklung, aber sie ist letztlich nur ein Spiel, und es ist ebenso unerlässlich, aus dieser Phase herauszuwachsen. Eine ernsthafte Partnerschaft ist im Zustand dauerhaften Verliebtseins nicht möglich. Selbst die Partnerschaften, die aus einer pubertären Verliebtheit heraus entstanden sind und sich ins Erwachsenenalter gerettet haben, haben in der Regel eine Veränderung durchgemacht; das Gegenüber ist nicht mehr der einzige Mensch, mit dem man eine Partnerschaft führen könnte. Da aber Zuneigung, Begehren und gemeinsame Interessen immer noch gegeben sind, hält man aneinander fest.

Nun ist es so, dass viele Menschen in der Phase des Sich-Verliebens verbleiben. Sie brauchen das Spiel weiterhin, um eine Partnerschaft eingehen zu können. Nehmen wir wieder Petra und Paul. Sie lernen sich kennen, und es sind alle Voraussetzungen für eine Partnerschaft gegeben: Zuneigung, Begehren, gemeinsame Interessen. Doch Petra vermisst etwas, die berühmten Schmetterlinge im Bauch. Paul würde so gut zu ihr passen, aber sie ist einfach nicht in ihn verliebt. Sie hat die Erwartung, dass Paul der perfekte Partner ist, ihr Mr. Right. Und sie hat den Anspruch, dass sie sich nur mit dem perfekten Partner einlassen kann. Sie hält an einer Illusion fest. Sie ist in Paul verliebt und erwartet in einer Partnerschaft mit ihm, dass er auch in sie verliebt ist. Sie fordert ein Übermaß an Gefühl ein, das gar nicht existiert. Wir können jemanden anhaltend sympathisch finden, ihm zugeneigt sein. Ein „Mehr“ gibt es dabei nicht, aber das ist auch nicht vonnöten. Der verliebte Mensch glaubt aber, es müsste mehr da sein, und so setzt er eine harmonische Partnerschaft aufs Spiel, indem er unrealistische Erwartungen pflegt. Daran zerbrechen Partnerschaften in erster Linie, nur dass man es sich selten bewusst ist. Wir halten an dem aus der Pubertät kommenden Vorstellung fest, dass Verliebtsein zu einer Partnerschaft gehört, ja sogar Voraussetzung für eine harmonische Partnerschaft ist.

In unserer gegenwärtigen Gesellschaft – ich gehe in diesem Essay vom westeuropäischen Kulturkreis des 21. Jahrhunderts aus – ist es die Ausnahme, dass ein Mensch nur eine Partnerschaft in seinem Leben eingeht. Entsprechend ist die Partnersuche ein wiederkehrendes Thema, oft selbst noch im hohen Alter. Gleichzeitig gibt es eine Unmenge an sogenannten „kaputten Beziehungen“, deren Disharmonie unter anderem aus der oben erwähnten überzogenen Erwartungshaltung resultiert. Beide Aspekte sollten uns nachdenklich stimmen; wir sollten uns fragen, ob die sogenannte „Romantik“, wie das Verliebtheits-Spiel im Erwachsenenalter mitunter bezeichnet wird, der zielführende Weg zu einer harmonischen Partnerschaft ist.

Eine Alternative wäre, pragmatischer heranzugehen. Gehen wir von uns selber aus, von unseren Bedürfnissen. Was wollen wir? Was bedeutet eine harmonische Partnerschaft? Es bedeutet, dass wir uns nach einem Menschen sehnen, der eine große Rolle in unserem Leben spielt; er soll möglichst alle unsere Bedürfnisse, die wir im Zusammenhang mit einem anderen Menschen haben, befriedigen. Er sollte uns verstehen, gemeinsame Interessen pflegen, „erträglich“ sein in dem Sinne, dass man sich in seiner Gegenwart wohl fühlt. Und, was aus falscher Scham oder aus welchem Grund auch immer in seiner Bedeutung unterschätzt wird: es muss „im Bett funktionieren“. Das Gegenüber muss einem sensuell und sexuell geben, was man braucht, und man muss zugleich dem Gegenüber geben können, was es ersehnt. Die Floskel von den „inneren Werten, auf die es ankommt“ ist verlogen; man ist nicht ehrlich zu sich selbst, macht sich etwas vor. Denn das Begehren ist der Urgrund für eine Partnerschaft. Wenn die Intimität keine entscheidende Rolle spielt, dann ist es eine Freundschaft. In diesem Sinne ist das Begehren und der Austausch sensueller und sexueller Intimität der Dreh- und Angelpunkt einer Partnerschaft. Eine Partnerschaft, in der es „im Bett nicht funktioniert“, ist somit zum Scheitern verurteilt.

Wenn wir uns aktiv um eine Partnerschaft bemühen wollen, könnten wir den „erwachsenen“ Weg wählen. Das bedeutet, dass wir weder auf einen aufkommenden Anfall von Verliebtheit warten noch uns mit dem „romantischen“ Zirkus aufhalten, dem angeblich notwendigen Klischee-Rollenspiels der Eroberung bzw. des Erobert-Werdens mit den üblichen Requisiten wie Rosen und Komplimente; vor allem, wenn man letztgenannte nicht wirklich so meint. Wir können die Floskeln und Spielchen weglassen und uns ernsthaft kennenlernen. Das setzt aber etwas voraus, was wir so gar nicht gewohnt sind, was uns regelrecht peinlich ist; wir müssten den Anfang machen, und nicht warten, bis jemand sich um uns bemüht.

Besonders Frauen haben – bedingt durch Jahrhunderte (Jahrtausende?) alte Tradition, Konvention und Sozialisation – Hemmungen, die Partnersuche aktiv anzugehen. Zu sehr ist die Vorstellung in unseren Köpfen verankert, dass die Frau sich erobern lassen muss. Und wenn sie selbst zu „erobern“ versucht, wird ihr das anders ausgelegt als bei Männern: Männer bemühen sich um eine Frau, Frauen schmeißen sich an den Mann ran. Ich will auch deshalb im folgenden Beispiel Petra zur aktiven Protagonistin machen. Ich könnte das ganze aber auch von Paul ausgehen lassen.

Petra und Paul sitzen im Bürgeramt und warten. Es geht ewig nicht weiter. Sie sitzen sich zufällig gegenüber, in Sprechweite. Sie schauen sich immer mal an, denn sie finden sich gegenseitig attraktiv. (Natürlich ist das der erste Impuls einer Annäherung; wie soll man auch von inneren Werten und gleichen Interessen ausgehen, wenn man noch nicht mal ein Wort gewechselt hat?) Petra spricht Paul schließlich an: „Meinst du, wir kommen heute noch hier raus?“ Sie kommen ins Gespräch. Zunächst sind es nur Sprüche zur Situation, dann folgen allmählich persönlichere Dinge. Irgendwann fragt Petra ihn, ob er gebunden sei, oder Single, oder wie auch immer sie es formuliert. Sie will herausfinden, ob eine Partnerschaft mit Paul möglich wäre. Es ist nicht nötig, das irgendwie indirekt herauszufinden. Warum sollte sie nicht direkt fragen? Paul wird die Frage so verstehen, dass Petra Interesse an ihm hat; daran ist nichts verkehrtes, denn so ist es ja tatsächlich. Ist Paul Single, darf Petra guten Gewissens vorschlagen, mal was trinken zu gehen, um sich näher kennenzulernen. Geht Paul darauf ein, werden sie sich treffen, um herauszufinden, ob eine Partnerschaft zwischen ihnen realistisch ist.

Szenenwechsel. Die Stunde der Verabredung. Natürlich darf Paul einen Blumenstrauß mitbringen, aber ist das unbedingt nötig? Auch dass er sie einlädt, ist überflüssig; ebenso könnte sie „einen ausgeben“, oder man bezahlt getrennt. Auf das alles kommt es nicht an; vielmehr darauf, offen und ehrlich zu sein und möglichst viel vom anderen zu erfahren. Wenn vieles zusammenpasst, ist der Weg zu einer Partnerschaft geebnet. (Aber es muss nicht alles passen: Wäre es wirklich schlimm, wenn Paul auf Hardrock steht, während Petra lieber Beethoven und Chopin hört?) Bis zu diesem Punkt kann man davon ausgehen, dass sich zwischen Paul und Petra eine Freundschaft entwickeln wird. Sie werden sich wiedersehen, etwas zusammen unternehmen usw.

Die Beziehung im Sinne einer Partnerschaft beginnt natürlich mit dem intimen Austausch. Es ist wahrscheinlich, dass die zwei sich irgendwann tief in die Augen schauen und sich dann küssen werden. Und früher oder später im Bett landen. Wenn das kontinuierlich fortgesetzt wird, leben sie eine Partnerschaft. Der Weg dahin ist im allgemeinen ein langwieriger und mit einer Vielzahl „romantischer“ Rituale verbunden, das entscheidende wird hinausgezögert, denn es gilt als unschicklich, sich zu früh auf „das Eine“ einzulassen. Auch haben wir verlernt – oder nie gelernt? – unser Begehren ernst zu nehmen und ohne falsche Scham zum Ausdruck zu bringen. Vielleicht traut sich Paul ewig nicht, Petra zu küssen, vielleicht ist nie die richtige Gelegenheit da. Und Petra denkt, dass Paul gar nicht mehr will als Freundschaft. Vielleicht kommt es sogar zu Küssen, aber im Bett landen sie trotzdem nicht. Denn wer sagt schon: „Ich will wissen, wie du dich anfühlst, lass uns zu mir/dir gehen und uns berühren und schauen, was passiert.“ Das aber wäre nicht nur konsequent, sondern auch ehrlicher und zielführender als die ganze romantische Verschämtheit. Denn vielleicht fühlt es sich nicht gut an, trotz aller Zuneigung und trotz aller Gemeinsamkeiten. Dann braucht man sich nichts vorzumachen: daraus wird bei aller Freundschaft keine Partnerschaft. Und fühlt es sich gut an, und man landet wieder im Bett, um diesmal weiter zu gehen, kann die Enttäuschung sich doch noch einstellen. Vielleicht nicht gleich beim ersten Mal; vielleicht erst bei zweiten oder fünften Versuch stellt man fest, dass man sexuell nicht kompatibel ist.

Ist das schlimm? Nein, aber in dem Fall sollten Petra und Paul bei der Freundschaft bleiben. Eine Partnerschaft eingehen, die bedeutet, dass man ausschließlich nur miteinander sexuell verkehrt, wäre für beide eine Qual. Wer so pragmatisch an diese Dinge herangeht, hat die Chance, eine harmonische Partnerschaft einzugehen; und harmonisch bedeutet nicht zuletzt guter Sex. Der Verliebte dagegen wird auf Teufel komm raus mit diesem einen Menschen, in den er sich „verguckt“ hat – ein bezeichnender Ausdruck! – eine Partnerschaft leben wollen und womöglich schlechten Sex in Kauf nehmen. Glücklich wird er damit kaum werden.

Nun kommt es nur in seltenen Fällen vor, dass zwei Menschen sich gegenseitig alle wesentlichen Bedürfnisse befriedigen können. Das gilt nicht nur für die sensuellen und sexuellen, sondern für alle Bedürfnisse. Letztere werden in Freundschaften ausgelebt. Weil Petra ihren Paul nicht dazu bewegen kann, sich mal eine Beethoven-Symphonie anzuhören, macht sie das halt mit Erwin, und zu Rockkonzerten geht Paul lieber mit seinem besten Freund Holger. Alles kein Problem, denn hier handelt es sich um Dinge, die mit körperlicher Intimität nichts zu tun haben. Vielleicht findet Paul es nicht einmal problematisch, wenn sich Petra beim Musikhören an Erwin ankuschelt.

Diskrepanzen, die das Intimleben betreffen, werden in einer Partnerschaft im allgemeinen verdrängt. Denn es gilt die eiserne Regel, dass intimer Austausch ausschließlich zwischen den zwei Personen stattfindet, die die Partnerschaft führen.

Dabei ist es höchst unwahrscheinlich, von einem Menschen allein das zu bekommen, was man zur Befriedigung seiner sensuellen und sexuellen Sehnsüchte braucht; und man kann auch selten alle Sehnsüchte befriedigen, die das Gegenüber hat. Selbst wenn das nicht ausgesprochen wird – wer redet schon darüber? – so kommen die Defizite irgendwann zutage. Die häufigste Konsequenz ist das Fremdgehen, natürlich hinter dem Rücken der Partner:in, was dann zu Verletzung und Bruch führt. Der weniger schmerzliche aber keineswegs glücklichere Weg besteht aus Rücksichtnahme, Verzicht und Kompromissen. Früher oder später stellt sich das Unbehagen ein, die Erkenntnis, dass bei aller Zuneigung die Partnerschaft nicht wirklich harmonisch ist.

Es ginge auch anders: dass man Partnerschaft prinzipiell neu denkt und definiert. Man könnte eine Partnerschaft eingehen in dem Wissen, dass man sich im sensuellen und sexuellen Sinne einander nicht alles geben kann. Das setzt eine bewusste Auseinandersetzung mit dem voraus, was als Defizit wahrgenommen wird. Man könnte darüber reden, seine Sehnsüchte offenlegen; und wenn sie sich nicht durch den anderen erfüllen lassen, könnte man dennoch zusammen bleiben und gemeinsam überlegen, wie eine Lösung aussehen könnte. Die effektivste und konsequenteste dürfte die sein, dass man eine weitere Partnerschaft eingeht. Vielleicht reicht eine zweite nicht aus, vielleicht braucht es sogar eine dritte. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass sensuelle und sexuelle Bedürfnisse meist mit zwei Partnerschaften abgedeckt werden können. Mehr als drei sind weder notwendig noch zu realisieren, da jede Beziehung dem Zeitfaktor unterliegt.

Verlassen wir mal die abstrakte Ebene und untersuchen konkret, wo mögliche sensuelle und sexuelle Diskrepanzen in einer Partnerschaft aufkommen könnten. Die häufigste ist zugleich die am wenigsten augenfällige: das Intimleben lässt keine Wünsche offen, aber einer der beiden will öfter als der andere. Vielleicht wünscht sich eine der Personen (irgendwann) eine ausschließliche Konzentration aus das Sensuelle; das Gegenüber will aber weiterhin sexuell aktiv sein. Einer braucht ein ausgedehntes Vorspiel während der andere gleich zur Sache kommen muss, um die Lust nicht zu verlieren. Er oder sie oder beide könnten bisexuell veranlagt sein. Es liegt auf der Hand, dass eine zweite Partnerschaft sinnvoll wäre. Auch kann man einen bestimmten Fetisch haben, den das Gegenüber nicht teilt. Oder sie kriegt mit ihm keinen Orgasmus. Statt einer verlogenen Rücksichtnahme, um der Partner:in entgegenzukommen und die Partnerschaft zu „retten“, quält man sich selbst und den anderen. Sie lässt ihn öfter ran als ihr lieb ist, er trifft sich heimlich mit Männern, oder sie wartet, bis er endlich eingeschlafen ist, um sich einsam und voller Scham selbst einen Orgasmus zu verschaffen.

Die gesunde Alternative wäre, sich den Defiziten und Diskrepanzen zu stellen und sich gegenseitig zu „erlauben“, eine Co-Partner:in zu suchen. Man könnte sich sogar bei der Suche unterstützen, gemeinsam suchen. Es ist sogar eine Freundschaft mit den jeweiligen Co-Partner:innen denkbar, ja wahrscheinlich. Vorausgesetzt, man betrachtet sie nicht als Rival:innen, sondern als einen entspannenden Ausgleich. Tatsächlich leiden Partnerschaften oft daran, dass es ein quantitatives wie qualitatives Zuviel miteinander gibt. Das bezieht sich gar nicht so sehr auf das Intimleben. Die permanente Auseinandersetzung mit ein und demselben Menschen, so gern man ihn hat, führt zu Ermüdungserscheinungen und Konflikten. Eine Co-Partnerschaft ist nicht nur für den einzelnen gesünder, sondern für die Partnerschaft an sich.

Warum aber fällt es uns so schwer, der Partner:in eine Co-Partnerschaft zuzugestehen? In erster Linie, weil wir die Befürchtung haben, dass die Zuneigung, die die Partner:in für den anderen Menschen empfindet, von der Zuneigung zu uns abgezogen wird. Die Partner:in hat uns dann „weniger gern“, befürchten wir. So ist es nicht. Denn wie anfangs erwähnt ist Sympathie nicht quantitativ variabel. Und Zuneigung, also anhaltende Sympathie, ist es ebenso wenig. Wir sind einer Partner:in zugeneigt, und wir sind noch einer anderen Partner:in zugeneigt. Die eine Zuneigung ist nicht größer oder kleiner als die andere, und die eine kann durch die andere nicht kleiner werden.

Nun werden die Leser:innen meines Essays schon länger den Begriff „Liebe“ vermissen, der bisher nicht vorkam; dieser wurde bisher bewusst vermieden, um ihn abschließend zu behandeln. Da der Begriff in unserem Sprachgebrauch recht inflationär behandelt und als Synonym für eine Vielzahl von Phänomenen verwendet wird – z.B. für Zuneigung, Verliebtsein, Leidenschaft, eine allgemein humanistische Gesinnung – will ich bewusst nur ein Phänomen damit bezeichnen und dieses in Bezug zu unserem Thema setzen.

Liebe ist kein Gefühl und auch kein Gefühlszustand. Diese Aussage klingt revolutionär, aber nur deswegen, weil wir den Begriff meistens – zumindest im Zusammenhang mit dem Phänomen Partnerschaft – mit jener „Romantik“ assoziieren, die bereits als illusorischer Komplex beschrieben wurde. Liebe ist selten Ausgangspunkt einer Partnerschaft; sie kann sogar gänzlich fehlen, ohne dass eine Partnerschaft deswegen „weniger wert“ wäre. Wenn sie in einer Partnerschaft existiert, hat sie sich allmählich entwickelt.

Liebe ist bedingungslose Fürsorge. Ein Handeln, weshalb man besser „(das) Lieben“ sagen sollte. Am besten lassen sich Begriff und Phänomen anhand der Liebe einer Mutter zu ihrem Kind erklären. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind nichts ist, was automatisch gegeben ist. Es gibt genug Beispiele, die das belegen. Auch das beweist, dass Liebe kein Gefühl ist, etwas das man automatisch „empfindet“, wenn man ein Kind geboren hat. Das ist eine weitere pauschalisierend romantische Illusion. Dennoch ist die Liebe der Mutter zu ihrem Kind die Regel.

Liebe ist etwas, das jenseits von Sympathie und Antipathie steht. Gerade das ist ihr wesentliches Merkmal. Die Mutter liebt das Kind unabhängig davon, ob sie Zuneigung zu ihm verspürt oder ob das Kind ihr zugeneigt ist. Sie trägt Sorge für das Kind, und zwar bedingungslos. Sie stellt keine Erwartungen, nicht einmal die, wiedergeliebt zu werden. Sie wird auch später bedingungslos für das Kind Sorge tragen, wenn es älter ist und sie womöglich schlecht behandelt. Denn für einen Menschen, den man liebt, muss man nicht einmal Zuneigung verspüren. Zuneigung verspürt man zu einem Menschen, weil er so ist wie er ist; Lieben tut man einen Menschen auch, obwohl er so ist wie er ist.

Eine Partnerschaft geht man nur mit einem Menschen ein, dem man zugeneigt ist. Man erwartet zudem, dass auch er zu einem Zuneigung verspürt. Natürlich gibt es auch den Fall, dass ein Mensch, den man liebt, zugleich eine passende Partner:in wäre: Zuneigung, Begehren, gleiche Interessen. Häufiger kommt es aber vor, dass man im Laufe einer Partnerschaft irgendwann beginnt, die Partner:in zu lieben. Das bedeutet, dass man bedingungslos Sorge für sie trägt, ohne zu erwarten, dass das Gegenüber es ebenfalls tut. Mitunter entsteht aber eine Wechselwirkung; die Partner:innen lieben sich gegenseitig, was die Partnerschaft festigt. Denn Liebe ist Handeln, und handeln kann man am vor allem im intensiven Zusammensein, das ja bei einer Partnerschaft gewöhnlich gegeben ist.

Fürsorge ist jedoch auch aus der Distanz möglich. Sie ist zwar dann nicht immer ein Handeln, aber in jedem Fall ein Handeln-wollen. Wir sprechen dann davon, dass ein Mensch „sich Sorgen macht“. Die Mutter, der das Sorgerecht aberkannt wurde, liebt ihr Kind trotz der Unmöglichkeit, für es zu sorgen, wenn sie um es besorgt ist. Ein Liebender wird immer wissen wollen, wie es dem Geliebten geht und jede Anstrengung versuchen, zu seinem Wohlsein beizutragen, selbst aus der Ferne.

In der Partnerschaft wird die Liebe spätestens dann offensichtlich, wenn der Geliebte sich vom Liebenden trennt. Denn wenn auch die Partnerschaft zu Ende ist, so liebt man meist immer noch. Der erste natürliche Impuls des Liebenden bei der Trennung ist die Angst, den Geliebten aus den Augen zu verlieren, ihn nicht mehr lieben, also Sorge tragen zu können. Man wird versuchen, ihn zu halten, die Partnerschaft zu erhalten. Doch eine Trennung hat meist gute Gründe. Nicht zwingend ist die Zuneigung beim Geliebten verschwunden; vielleicht ist das Begehren nicht mehr da, oder die gemeinsamen Interessen sind weniger geworden. In jedem Fall hat der Geliebte für sich erkannt, dass er in der Partnerschaft nicht mehr glücklich ist. Der Liebende, dem das Glück und Wohlergehen des Geliebten über alles geht, wird irgendwann einsehen, dass er loslassen muss. Im Idealfall bleibt die Freundschaft erhalten, und der Liebende kann den Geliebten immer noch lieben.

Abschließend will ich eine letzte Frage aufwerfen: Verträgt sich denn Liebe mit einer Co-Partnerschaft? Ich denke schon. Gerade der Liebende, der sich ja das höchste Glück für den Geliebten wünscht, wird diesem von Herzen zugestehen, was er ihm selbst nicht geben kann…

*****November 2023