Personen
John Gabriel Borkmann, früher Bankdirektor
Gunhild, seine Frau
Erhard, Student, ihr Sohn
Ella Rentheim, Frau Borkmanns Schwester
Fanny Wilton
Wilhelm Foldal
Erster Akt
Frau Borkmann Erhard! Endlich!
Ella Ja, sieh mich nur erstaunt an, Gunhild.
Frau Borkman Hast Du Dich nicht im Weg geirrt? Der Verwalter wohnt doch im Seitengebäude.
Ella Nicht mit dem Verwalter habe ich heute zu reden.
Frau Borkman So willst Du von mir etwas?
Ella Ja, – Gunhild, nun sind es bald acht Jahre, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.
Frau Borkman Jedenfalls seit wir uns das letzte Mal gesprochen haben.
Ella Seit wir uns gesprochen haben, jawohl. – Denn gesehen hast Du mich wohl zuweilen, – wenn ich meine alljährliche Reise machen musste hierher zum Verwalter.
Frau Borkman Ein oder zweimal, glaube ich. Gesprochen aber haben wir uns das letzte Mal hier in meinem Zimmer –
Ella Ja, ja, ich weiß, Gunhild!
Frau Borkman – eine Woche bevor er, – bevor er herauskam.
Ella O, lass doch das ruhen!
Frau Borkman Es war die Woche, bevor er, – der Bankdirektor wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.
Ella Gewiss, gewiss! Den Augenblick werde ich wohl nicht vergessen! Aber der Gedanke daran ist zu niederschmetternd. Dabei auch nur einen Augenblick zu verweilen, – o!
Frau Borkman Und doch dürfen die Gedanken um nichts anderes kreisen! Nein, ich begreife es nicht! Ich fasse es nicht, wie so etwas – etwas so Entsetzliches über eine Familie kommen kann! Und denk nur, – über unsere Familie! Über eine so vornehme Familie wie die unsere! Wer hätte denken sollen, dass gerade sie davon betroffen würde!
Ella Ach, Gunhild – da waren noch viele, viele andere Familien, die von dem Schlag betroffen wurden.
Frau Borkman Nun ja; aber diese andern gehen mich nicht viel an. Denn die, die haben doch nur ein Stück Geld, – oder einige Papiere zu verschmerzen! Aber wir –! Ich! Und dann Erhard –, der doch damals noch ein kleines Kind war! Der Schimpf, der uns Unschuldigen angetan wurde! Die Schande! Die hässliche, grässliche Schande! Und dann noch obendrein der vollständige Ruin!
Ella Sag‘ mir, Gunhild, – wie trägt er es ?
Frau Borkman Erhard, meinst Du?
Ella Nein, – er selbst. Wie trägt er es?
Frau Borkman Glaubst Du, dass ich danach frage ?
Ella Fragen? Du brauchst doch nicht zu fragen –
Frau Borkman Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mit ihm verkehre? Mit ihm zusammenkomme? Ihn jemals sehe?
Ella Nicht einmal das!
Frau Borkman Er, der hinter Schloss und Riegel fünf Jahre hat sitzen müssen! O, diese drückende Schmach! Und wenn man nun bedenkt, was seinerzeit der Name John Gabriel Borkman bedeutet hat! – Nein, nein, nein, – ich will ihn nie wieder sehen! – Nie!
Ella Du bist hartherzig, Gunhild.
Frau Borkman Gegen ihn, ja!
Ella Er ist doch Dein Mann.
Frau Borkmann Hat er nicht vor Gericht gesagt, ich wäre es gewesen, die zum Ruin den ersten Anstoß gab! Ich hätte übermäßig viel Geld gebraucht –?
Ella War denn nicht etwas Wahres daran?
Frau Borkman Hat er selbst es nicht etwa haben wollen? Alles sollte so sinnlos luxuriös sein –
Ella Das weiß ich wohl. Aber eben deshalb hättest Du ihn zurückhalten sollen.
Frau Borkman Wusste ich denn, dass es nicht sein Eigentum war, – das Geld, das er mir zum Vergeuden gab? Und das er selbst auch vergeudet hat.
Ella Na, das wird wohl seine Stellung so mit sich gebracht haben, denk‘ ich mir. Zum großen Teil wenigstens.
Frau Borkman Freilich, es hieß ja immer, wir müssten »repräsentieren«. Und repräsentieren, das tat er denn auch gründlich! Und beim Vornamen nannten sie ihn, – »John Gabriel«, »John Gabriel«. Jedes Kind wusste, was für eine Größe »John Gabriel« war!
Ella Er war auch damals eine Größe, Du.
Frau Borkman Scheinbar, ja. Niemals aber vertraute er mir auch nur mit einem Worte an, wie es eigentlich um ihn stand. Niemals ließ er verlauten, wo er die Mittel hernahm.
Ella Mag sein, – die andern ahnten das doch auch nicht.
Frau Borkman Seine Handlungsweise anderen gegenüber, die mag ihm noch hingehen. Aber mir die Wahrheit zu sagen, das war seine Pflicht. Und das hat er nie getan! Nur mich anlügen tat er, –
Ella Das war sicher nicht der Fall, Gunhild! Er verschwieg vielleicht. Aber lügen – das tat er sicher nicht.
Frau Borkman Nenn‘ es, wie Du willst. Es läuft doch auf eins hinaus. – Dann kam aber auch der Zusammenbruch. An allen Enden. Und schließlich war die ganze Herrlichkeit zum Teufel.
Ella Ja, alles stürzte zusammen – ihm – und anderen.
Frau Borkman Aber das sage ich Dir, Ella, – noch gebe ich es nicht auf! Ich werde mir schon meine Genugtuung verschaffen. Darauf kannst Du Dich verlassen!
Ella Genugtuung?
Frau Borkman Genugtuung für den Verlust des Namens und der Ehre und des Vermögens! Genugtuung für mein ganzes verpfuschtes Leben! Ich habe nämlich jemand in der Reserve, damit Du’s nur weißt – einen, der das alles reinwaschen soll, was – was der Bankdirektor besudelt hat.
Ella. Aber Gunhild! Gunhild!
Frau Borkmann Wisse, es lebt ein Rächer! Der alles wieder gutmachen soll, was sein Vater an mir verbrochen hat!
Ella Erhard!
Frau Borkman Ja, Erhard, – mein Prachtjunge! Der wird die Familie, das Haus, den Namen schon wieder aufrichten! Alles, was sich aufrichten lässt. – Und vielleicht noch mehr.
Ella Und wie, meinst Du, sollte das geschehen?
XXX
Frau Borkman. Mag es geschehen, wie es will. Ich weiß nicht, wie es geschehen wird. Aber ich weiß, daß es eines Tages geschehen wird und muß. Blickt sie fragend an. Ja, – Ella, – hast Du Dich nicht, schon als er noch klein war, im Grunde mit demselben Gedanken getragen?
Ella. Nein, das kann ich eigentlich nicht sagen.
Frau Borkman. Nicht? Warum hast Du Dich denn seiner angenommen? Als das Ungewitter losbrach über – über diesem Hause.
Ella. Du selbst konntest es damals doch nicht, Gunhild.
Frau Borkman. Ach nein, – das ist nur zu wahr. Und sein Vater, – der hatte einen gewichtigen Abhaltungsgrund, – saß er doch, – so fest verwahrt –
Ella empört. Daß Du so reden kannst–! O Du–!
Frau Borkman mit giftigem Ausdruck. Und daß Du Dich dazu verstehen konntest, Dich des Kindes von einem John Gabriel anzunehmen! So ganz, als ob es Dein eigenes wäre –. Mir es wegzunehmen, – und damit heimzufahren! Und den Jungen zu behalten, jahraus jahrein. Bis er nahezu erwachsen war. Blickt sie mißtrauisch an. Warum hast Du das eigentlich getan, Ella? Warum hast Du ihn behalten?
Ella. Ich gewann ihn mit der Zeit so lieb –
Frau Borkman. Mehr als ich, – seine Mutter!
Ella ausweichend. Das weiß ich nicht. Und überdies war Erhard etwas schwächlich, während seines Wachstums –
Frau Borkman. Erhard – schwächlich!
Ella. Ja, so kam es mir vor – wenigstens damals. Außerdem ist an der Westküste die Luft viel milder als hier, weißt Du.
Frau Borkman lächelt bitter. So, so. Ist sie das? Abbrechend. Ja, Du hast in der Tat gewaltig viel für Erhard getan, Du. In verändertem Tone. Na, Du hast ja allerdings auch die Mittel dazu. Lächelt. Du hattest ja solches Glück, Ella. Gelang es Dir doch, alles zu retten, was Dir gehörte.
Ella gekränkt. Ich habe in der Sache für mich keinen Schritt getan, – das kann ich Dir versichern. Ich hatte – noch lange, lange nachher – keine Ahnung davon, daß die Papiere, die auf der Bank für meine Rechnung lagen, – daß die nicht angetastet waren –
Frau Borkman. Ja, ja. Auf so was verstehe ich mich nicht. Ich sage bloß, Du hattest Glück. Blickt sie fragend an. Als Du nun aber eigenmächtig unternahmst, Erhard großzuziehen an meiner Statt –? Was hattest Du dabei für eine Absicht?
Ella sieht sie an. Absicht –?
Frau Borkman. Ja, – eine Absicht hast Du doch wohl gehabt. Zu was wolltest Du ihn machen? Was aus ihm machen, meine ich.
Ella langsam. Ich wollte Erhard den Weg ebnen, ein glücklicher Mensch zu werden im Leben.
Frau Borkman wegwerfend. Pah, – Leute in unserer Lage haben mehr zu tun, als an das Glück zu denken.
Ella. An was denn sonst?
Frau Borkman blickt sie ernst und ausdrucksvoll an. Erhard muß vor allen anderen Dingen danach streben, so hoch zu steigen und so weit über das Land zu glänzen, daß kein Mensch mehr den Schatten sieht, den sein Vater auf mich geworfen hat – und auf meinen Sohn.
Ella forschend. Sag‘ mir, Gunhild, – stellt Erhard selbst an sein Leben eine solche Forderung –?
Frau Borkman betroffen. Ja, das wollen wir doch hoffen!
Ella. – oder stellst Du nicht vielmehr diese Forderung an ihn?
Frau Borkman kurz. Die Forderungen, die wir an uns stellen, Erhard und ich, die decken sich.
Ella dumpf und langsam. So sicher bist Du also Deines Jungen, Gunhild.
Frau Borkman heimlich triumphierend. Ja, Gott sei Lob und Dank, – das bin ich. Darauf kannst Du Dich verlassen.
Ella. Dann mußt Du Dich doch eigentlich glücklich fühlen. Trotz alledem.
Frau Borkman. Das tue ich auch. In der Hinsicht, gewiß. Dann aber kommt – jeden Augenblick, siehst Du, – die andere Geschichte auf mich eingestürmt wie ein Ungewitter.
Ella in verändertem Tone. Sag‘ mir – gerade heraus – denn deshalb bin ich eigentlich zu Dir gekommen –
Frau Borkman. Was?
Ella. Eine Sache, über die ich gern mit Dir gesprochen hätte. – Sag‘ mir, – Erhard wohnt doch nicht hier draußen bei – bei Euch andern.
Frau Borkman hart. Erhard kann bei mir hier nicht wohnen. Er muß in der Stadt wohnen –
Ella. Das hat er mir geschrieben.
Frau Borkman. Wegen seiner Studien muß er das. Er kommt aber jeden Abend auf ein Weilchen zu mir heraus.
Ella. So könnte ich ihn vielleicht sehen? Und gleich mit ihm reden?
Frau Borkmann. Er ist noch nicht da. Ich erwarte ihn aber jeden Augenblick.
Ella. Doch, Gunhild, – er muß schon da sein. Denn ich höre seine Schritte oben.
Frau Borkman mit einem flüchtigen Blick. Oben im Saale?
Ella. Ja. Ich habe seine Schritte oben gehört von dem Augenblick an, als ich eintrat.
Frau Borkman mit abgewandtem Blick. Das ist nicht er, Ella.
Ella stutzt. Nicht Erhard? Ahnungsvoll. Wer ist es denn?
Frau Borkman. Der Bankdirektor.
Ella leise, in unterdrücktem Schmerz. Borkman. John Gabriel Borkman!
Frau Borkman. So geht er auf und ab. Hin und her. Vom Morgen bis zum Abend. Tagaus tagein.
Ella. Ich habe allerdings dies und das munkeln hören –
Frau Borkman. Das glaube ich gern. Die Leute munkeln gewiß manches über uns hier draußen.
Ella. Erhard hat Andeutungen darüber gemacht. In seinen Briefen. Daß sein Vater sich meistens isoliert halte, – da oben. Und Du hier unten.
Frau Borkman. Ja, – so haben wir’s gehalten, Ella. Unausgesetzt, – seit sie ihn freigelassen und nach Hause geschickt haben zu mir. – Die ganzen, langen acht Jahre.
Ella. Nie habe ich mir aber vorstellen können, daß es wirklich wahr sei. Daß es überhaupt möglich sei –!
Frau Borkman nickt. Es ist wahr. Und wird sich auch nicht ändern.
Ella blickt sie an. Ein furchtbares Leben muß das sein, Gunhild.
Frau Borkman. Mehr als furchtbar! Bald nicht mehr zum Aushalten.
Ella. Nur zu begreiflich.
Frau Borkman. Stets und ständig seinen Schritt oben zu hören! Vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. – Und wie das hier unten widerhallt!
Ella. Der Widerhall ist allerdings sehr stark.
Frau Borkman. Manchmal kommt es mir vor, als hätte ich oben im Saal einen kranken Wolf im Käfig. Gerade über meinem Kopf. Lauscht und flüstert: Hör‘ nur! Hör‘! Auf und ab, – auf und ab geht der Wolf.
Ella behutsam. Könnte es nicht anders werden, Gunhild?
Frau Borkman ablehnend. Er hat nie einen Schritt getan zu diesem Zweck.
Ella. Aber könntest Du denn nicht den ersten Schritt tun?
Frau Borkman fährt auf. Ich! Nach alledem, was er an mir gesündigt hat! – Nein, ich danke sehr! Dann soll der Wolf lieber oben weiter rumoren.
Ella. Es wird mir hier doch zu warm. Du mußt mir schon gestatten, abzulegen.
Frau Borkman. Ich habe Dich ja vorhin gefragt –
Ella legt Mantel und Hut auf einen Stuhl bei der Eingangstür.
Ella. Begegnest Du ihm auch nicht gelegentlich außer dem Hause?
Frau Borkman lacht bitter auf. In der Gesellschaft, meinst Du?
Ella. Ich meine, wenn er ins Freie geht. Auf den Waldwegen oder –
Frau Borkman. Der Bankdirektor geht nie aus.
Ella. Auch in der Dämmerung nicht?
Frau Borkman. Niemals.
Ella ergriffen. Er kann es nicht über sich gewinnen?
Frau Borkman. Wird wohl so sein. Sein großer Mantel und sein Filzhut hängen im Wandschrank. Im Hausflur, weißt Du –
Ella vor sich hin. – in dem Schrank, worin wir spielten, als wir noch klein waren –
Frau Borkman nickt. Dann und wann einmal, – spät abends, – da höre ich ihn herunterkommen – um sich anzuziehen und auszugehen. Dann aber bleibt er gewöhnlich mitten auf der Treppe stehen, – und kehrt um. Und dann geht er wieder hinauf in den Saal.
Ella behutsam. Kommt keiner von seinen alten Freunden zu ihm auf Besuch?
Frau Borkman. Er hat keine alten Freunde.
Ella. Er hatte doch so viele – in früheren Tagen.
Frau Borkman. Hm! Die wußte er sich doch auf so hübsche Art vom Halse zu schaffen. Er wurde seinen Freunden ein teurer Freund, – der John Gabriel.
Ella. Ach ja, darin magst Du schon recht haben, Gunhild.
Frau Borkman heftig. Übrigens muß ich sagen, daß es erbärmlich, gemein, elend, kleinlich ist, so großen Wert zu legen auf das bißchen, was sie durch ihn etwa verloren haben. Das war ja doch nur ein Verlust von Geld. Weiter nichts.
Ella, ohne zu antworten. Und so lebt er denn oben mutterseelenallein. Ganz sich selbst überlassen.
Frau Borkman. Ja, das mag wohl sein. Ich habe freilich sagen hören, ein alter Kopist oder Hilfsschreiber käme dann und wann zu ihm hinauf.
Ella. Ach, das ist gewiß der Foldal. Die zwei waren doch Jugendfreunde, soviel ich weiß.
Frau Borkman. Ja, ich glaube, das waren sie. Ich kenne ihn übrigens gar nicht. Denn in unserem Kreis verkehrte er nicht. Als wir noch einen hatten –
Ella. Aber jetzt kommt er zu Borkman?
Frau Borkman. Ja. Er ist eben nicht sehr wählerisch. Aber freilich kommt auch er nur in der Dämmerstunde.
Ella. Dieser Foldal gehört mit zu denen, die beim Bankbruch Verluste erlitten haben.
Frau Borkman leichthin. Ich glaube mich zu entsinnen, daß er auch etwas Geld verloren hat. Das war aber gewiß so unbedeudend –
Ella mit leichtem Nachdruck. Es war sein ganzer Besitz.
Frau Borkman lächelt. Na, Du lieber Gott, – sein Besitz, hör‘ mal, der war doch wohl verschwindend klein. Nicht der Rede wert.
Ella. Es war auch nicht die Rede davon, – von Foldals Seite, – während des Prozesses.
Frau Borkman. Und überhaupt kann ich Dir sagen, daß Erhard ihn reichlich entschädigt hat für die Kleinigkeit.
Ella verwundert. Erhard! Wie hat Erhard das können?
Frau Borkman. Er hat sich der jüngsten Tochter Foldals angenommen. Hat sie unterrichtet, – so daß vielleicht mit der Zeit noch einmal etwas aus ihr wird, und sie ihr eigenes Auskommen hat. Sieh, – das ist sicher weit mehr, als was ihr Vater für sie hätte tun können.
Ella. Ihr Vater, – der lebt wohl in ärmlichen Verhältnissen, denke ich mir.
Frau Borkman. Und dann hat Erhard durchgesetzt, daß sie Musik studiert. Sie ist nun schon so weit, daß sie hinauf kann zu ihm – zu ihm da oben auf dem Saal, um ihm vorzuspielen.
Ella. Also die Musik liebt er immer noch so sehr?
Frau Borkman. Ach ja, das mag er wohl. Er hat doch das Klavier, das Du geschickt hast – als er hier erwartet wurde –
Ella. Und auf dem spielt sie ihm vor?
Frau Borkman. Ja, – von Zeit zu Zeit. In den Abendstunden. Das hat Erhard auch fertig gebracht.
Ella. Da muß also das arme Mädchen den weiten Weg hier heraus und wieder zurück in die Stadt machen?
Frau Borkman. Nein, das hat sie nicht nötig. Erhard hat es so arrangiert, daß sie bei einer Dame bleiben kann, die hier in der Nähe wohnt. Es ist eine gewisse Frau Wilton –
Ella lebhaft. Frau Wilton!
Frau Borkman. Eine sehr reiche Dame. Du kennst sie schwerlich.
Ella. Der Name ist mir bekannt. Frau Fanny Wilton, glaube ich –
Frau Borkman. Ja, ganz recht.
Ella. Erhard hat sie öfters erwähnt in seinen Briefen. – Sie wohnt jetzt hier draußen?
Frau Borkman. Ja, sie hat hier eine Villa gemietet und ist vor kurzer Zeit aus der Stadt hier heraus gezogen.
Ella etwas zögernd. Es heißt, sie sei von ihrem Mann geschieden.
Frau Borkman. Der Mann ist wohl schon mehrere Jahre tot.
Ella. Ja, – aber geschieden waren sie –. Er ließ sich scheiden –
Frau Borkman. Er verließ sie, – das hat er getan. Die Schuld lag gewiß nicht auf ihrer Seite.
Ella. Kennst Du sie näher, Gunhild?
Frau Borkman. So ziemlich. Sie wohnt ja ganz in der Nähe. Und so spricht sie zuweilen bei mir vor.
Ella. Und sie gefällt Dir?
Frau Borkman. Sie ist ungemein verständig. So merkwürdig klar in ihrem Urteil.
Ella. In ihrem Urteil über Menschen, meinst Du?
Frau Borkman. Ja, hauptsächlich darin. Erhard zum Beispiel, den hat sie förmlich studiert. So recht auf dem ff, – aus dem Grunde seiner Seele. Und darum vergöttert sie ihn auch, – was nur natürlich ist.
Ella etwas lauernd. Dann ist sie am Ende mit Erhard noch besser bekannt als mit Dir?
Frau Borkman. Ja. Erhard ist sehr häufig mit ihr in der Stadt zusammengekommen. Ehe sie herauszog.
Ella unüberlegt. Und doch zog sie aus der Stadt?
Frau Borkman stutzt und blickt sie unwirsch an. Doch! Was meinst Du damit?
Ella ausweichend. Na lieber Gott, – wie soll ich es meinen –?
Frau Borkman. Du sagtest das so sonderbar. Du meintest etwas damit, Ella!
Ella blickt ihr fest in die Augen. Nun ja, – allerdings, Gunhild. Ich meinte wirklich etwas damit.
Frau Borkman. Nun, so sag‘ es doch nur grade heraus!
Ella. Vor allem will ich Dir das sagen, daß auch ich eine Art Recht auf Erhard habe, wie mir scheint. Oder meinst Du etwa nicht?
Frau Borkman sieht das Zimmer entlang. Natürlich! Das viele Geld, das er Dir gekostet hat –
Ella. Ach was! Nicht deswegen, Gunhild. Sondern weil ich ihn lieb habe –
Frau Borkman mit einem Hohnlächeln. Meinen Sohn? Kannst Du das? Du? Trotz alledem?
Ella. Ja, ich kann es. Trotz alledem. Und ich tue es. Ich habe Erhard lieb. So, wie ich überhaupt einen Menschen lieb haben kann – jetzt. In meinen Jahren.
Frau Borkman. Na ja, mag sein; aber –
Ella. Und da bin ich natürlich bekümmert, sobald ich spüre, daß ihn etwas bedroht.
Frau Borkman. Erhard etwas bedroht! Ja, was bedroht ihn denn? Oder wer bedroht ihn?
Ella. Erstens wohl Du, – auf Deine Art –
Frau Borkman erregt. Ich!
Ella. – und dann auch diese Frau Wilton, – fürchte ich.
Frau Borkman sieht sie eine Weile sprachlos an. Und so etwas traust Du Erhard zu! Meinem Jungen! Ihm, der eine große Mission zu vollbringen hat!
Ella wegwerfend. Ach was, Mission –!
Frau Borkman empört. Und das wagst Du mit solchem Hohn zu sagen?
Ella. Glaubst Du, daß ein Mensch in Erhards Jahren, – jung, frisch und gesund, – glaubst Du etwa, daß der hingeht und sich opfert für – für so etwas wie eine »Mission«!
Frau Borkman stark und fest. Erhard tut es! Ich weiß es sicher.
Ella schüttelt den Kopf. Du weißt es nicht und Du glaubst es nicht, Gunhild.
Frau Borkman. Ich glaube es nicht!?
Ella. Du hast Dich da nur hinein geträumt! Denn wenn Du daran Dich nicht festklammern könntest, so würdest Du sicherlich ganz verzweifeln.
Frau Borkman. Allerdings würde ich dann verzweifeln. Heftig. Und das sähest Du vielleicht am liebsten, Ella!
Ella richtet den Kopf in die Höhe. Ja! Das sähe ich am liebsten, – wenn Du Dir schon nicht zu helfen weißt, ohne daß Erhard darunter leiden muß!
Frau Borkmann drohend. Zwischen uns willst Du treten! Zwischen Mutter und Sohn! Du!
Ella. Ich will ihn befreien von Deinem Einfluß, – Deiner Gewalt, – Deiner Herrschaft.
Frau Borkman triumphierend. Das kannst Du nicht mehr! Du hattest ihn in Deinem Garn – bis zu seinem fünfzehnten Jahr. Aber schau, jetzt habe ich ihn wiedergewonnen!
Ella. So werde ich ihn Dir wieder abgewinnen! Mit heiserer Stimme, halb flüsternd. Wir beide, wir haben schon einmal um einen Menschen auf Tod und Leben gekämpft, Gunhild!
Frau Borkman sieht sie schadenfroh an. Ja, und ich trug den Sieg davon.
Ella mit Hohnlächeln. Bist Du noch immer der Meinung, der Sieg sei ein Gewinn für Dich gewesen?
Frau Borkmann finster. Nein; – darin hast Du grausam recht.
Ella. Es wird auch diesmal kein Gewinn für Dich werden.
Frau Borkmann. Ist das kein Gewinn, die mütterliche Gewalt über Erhard zu behalten?
Ella. Nein –; denn nur die Gewalt willst Du über ihn haben.
Frau Borkmann. Und Du?
Ella mit Wärme. Ich will sein liebendes Gemüt, – seine Seele, – sein ganzes Herz –!
Frau Borkmann ungestüm. In Zeit und Ewigkeit bekommst Du das nicht mehr!
Ella blickt sie an. Hast Du vielleicht dafür schon gesorgt?
Frau Borkmann lächelt. Ja, ich war so frei. Hast Du das aus seinen Briefen nicht herauslesen können?
Ella nickt langsam. Doch. Dein ganzes Wesen war schließlich in seinen Briefen.
Frau Borkmann stichelnd. Ich habe die acht Jahre ausgenützt – seit ich ihn wieder unter meinen Augen habe, meine Liebe.
Ella beherrscht sich. Was hast Du Erhard von mir gesagt? Läßt es sich erzählen?
Frau Borkmann. O freilich!
Ella. So erzähle doch!
Frau Borkmann. Ich habe ihm nur gesagt, was wahr ist.
Ella. Nun also?
Frau Borkmann. Ich habe ihm unablässig eingeschärft, er möchte sich freundlichst gegenwärtig halten, daß wir es Dir verdanken, wenn wir jetzt leidlich anständig leben. Daß wir überhaupt leben.
Ella. Weiter nichts?
Frau Borkmann. O, so etwas tut weh, Du. Das kenne ich aus eigener Erfahrung.
Ella. Aber ungefähr hat Erhard das doch schon früher gewußt.
Frau Borkmann. Als er zurückkam zu mir, da bildete er sich ein, Du tätest das alles aus gutem Herzen. Blickt sie schadenfroh an. Jetzt glaubt er das nicht mehr, Ella.
Ella. Was glaubt er denn jetzt?
Frau Borkmann. Er glaubt, was die Wahrheit ist. Ich fragte ihn, wie er es sich wohl erkläre, daß Tante Ella niemals zu uns auf Besuch käme –
Ella unterbricht sie. Das hat er längst gewußt!
Frau Borkmann. Er weiß jetzt mehr. Du hattest ihm eingeredet, es sei, um mich zu schonen und – und den, der dort oben im Saal geht –
Ella. So war es auch.
Frau Borkmann. Jetzt glaubt Erhard davon auch nicht ein Wort mehr.
Ella. Was für eine Meinung hast Du ihm denn von mir beigebracht?
Frau Borkmann. Er glaubt, was die Wahrheit ist: daß Du Dich unser schämst, – uns verachtest. Oder tust Du das etwa nicht? Gingst Du nicht einmal mit der Absicht um, ihn mir ganz wegzunehmen? Besinne Dich, Ella. Du hast es gewiß nicht vergessen.
Ella ablehnend. Es war in der Zeit des ärgsten Skandals. Als die Sache öffentlich verhandelt wurde. – Ich gehe jetzt nicht mehr mit solchen Gedanken um.
Frau Borkmann. Das würde Dir auch nichts nützen. Denn was würde sonst aus seiner Mission werden! Ich danke schön, Du! Mich hat Erhard nötig, – nicht Dich. Und darum ist er für Dich tot! Und Du für ihn!
Ella kalt, entschlossen. Wir werden ja sehen. Denn jetzt bleibe ich hier!
Frau Borkmann starrt sie an. Hier auf dem Gute?
Ella. Ja, hier!
Frau Borkmann. Hier – bei uns? Die ganze Nacht?
Ella. Hier beschließe ich meine Tage, wenn es sein soll.
Frau Borkmann faßt sich. Nun ja, Ella, – das Gut gehört ja Dir.
Ella. Ach was –!
Frau Borkmann. Alles gehört ja Dir. Der Stuhl, auf dem ich sitze, ist Dein. Das Bett, in dem ich mich schlaflos wälze, gehört Dir. Das Brot, das wir essen, erhalten wir von Dir.
Ella. Das läßt sich eben nicht anders machen. Borkman darf ja nichts besitzen. Denn gleich würden sie kommen und es ihm nehmen.
Frau Borkmann. Ich weiß, ich weiß. Wir müssen uns schon darein finden, von Deiner Gnade und Barmherzigkeit zu leben.
Ella kalt. Ich kann Dir nicht verwehren, die Sache von der Seite anzusehen, Gunhild.
Frau Borkmann. Nein, das kannst Du nicht. – Wann sollen wir ausziehen?
Ella sieht sie an. Ausziehen?
Frau Borkmann erregt. Du bildest Dir doch nicht etwa ein, daß ich hier wohnen bleibe unter einem Dache mit Dir! – Nein, dann noch lieber ins Armenhaus oder auf die Landstraße!
Ella. Gut. Dann gib mir Erhard mit –
Frau Borkmann. Erhard! Meinen Sohn! Mein Kind!
Ella. Ja, – dann fahre ich gleich wieder heim!
Frau Borkmann überlegt eine Weile, dann kurz entschlossen. Erhard soll selbst wählen zwischen uns.
Ella sieht sie zweifelnd und unsicher an. Selbst wählen? Ja, – riskierst Du das, Gunhild?
Frau Borkmann lacht grell auf. Ob ich es riskiere! Meinen Jungen wählen zu lassen zwischen seiner Mutter und Dir! Ja freilich riskiere ich das.
Ella lauschend. Kommt da jemand? Mir ist, als hörte ich –
Frau Borkmann. Es wird wohl Erhard sein –
Es klopft schnell nacheinander an die Eingangstür, die dann ohne weiteres geöffnet wird. Frau Wilton – in Gesellschaftstoilette und Mantel – tritt ein. Hinter ihr das Stubenmädchen, das nicht die Zeit gehabt hat, sie anzumelden, und ratlos dreinschaut. Die Tür bleibt halb offen. Frau Wilton ist eine auffallend schöne, üppige Dame in den dreißiger Jahren. Volle, rote, lächelnde Lippen. Lebhafte Augen. Starkes, dunkles Haar.
Frau Wilton. Guten Abend, liebste Frau Borkman!
Frau Borkman etwas trocken. Guten Abend, gnädige Frau. Zum Stubenmädchen, indem sie auf das Gartenzimmer deutet. Nehmen Sie die Lampe da mit hinaus und zünden Sie sie an.
Das Stubenmädchen holt die Lampe und trägt sie hinaus.
Frau Wilton erblickt Ella. O, ich bitte um Entschuldigung, – Sie haben Besuch –
Frau Borkman. Nur meine Schwester, die heut angekommen ist –
Erhard Borkman reißt die halbgeöffnete Eingangstür ganz auf und stürmt herein. Er ist ein junger Mensch mit hellen, fröhlichen Augen. Elegant gekleidet. Keimender Schnurrbart.
Erhard Borkman an der Schwelle, freudestrahlend. Ja, was ist denn das! Tante Ella hier? Eilt auf sie zu und ergreift ihre Hände. Tante, Tante! Nein, ist’s möglich! Du hier?
Ella schlingt die Arme um seinen Hals. Erhard! Mein lieber, guter Junge! Nein, bist Du aber groß geworden! Ach, wie gut das tut, Dich einmal wieder zu sehen!
Frau Borkman in scharfem Ton. Was soll das heißen, Erhard, – Du hältst Dich im Hausflur versteckt?
Frau Wilton schnell. Erhard – Herr Borkman hat mich herbegleitet.
Frau Borkman mißt ihn mit den Augen. So – so, Erhard, Du kommst nicht zuerst zu Deiner Mutter?
Erhard. Ich war nur einen Augenblick bei Frau Wilton, – um die kleine Frida abzuholen.
Frau Borkman. Ist das Fräulein Foldal auch mit?
Frau Wilton. Ja, – sie steht im Hausflur draußen.
Erhard durch die Tür sprechend. Gehen Sie nur hinauf, Frida.
Pause. Ella beobachtet Erhard. Er scheint verlegen und etwas ungeduldig; sein Gesicht nimmt einen gespannten und kühleren Ausdruck an.
Das Stubenmädchen trägt die brennende Lampe ins Gartenzimmer, geht wieder hinaus und schließt die Tür hinter sich.
Frau Borkman mit erzwungener Höflichkeit. Ja, Frau Wilton, – wenn Sie den Abend hier verbringen wollen, so –
Frau Wilton. Tausend Dank, liebe Frau Borkman. Das ist durchaus nicht meine Absicht. Wir sind anderswo eingeladen. Man erwartet uns bei Advokat Hinkel.
Frau Borkman sieht sie an. Uns? Wen meinen Sie damit?
Frau Wilton lachend. Na, eigentlich meine ich nur mich selbst. Die Damen des Hauses beauftragten mich aber, den Studiosus Borkman mitzubringen, – wenn ich zufällig seiner ansichtig würde.
Frau Borkman. Und das war der Fall, wie ich sehe.
Frau Wilton. Ja, glücklicherweise. Da er so liebenswürdig war, bei mir vorzusprechen, – der kleinen Frida wegen.
Frau Borkman trocken. Du, Erhard, – ich wußte gar nicht, daß Du die Familie kennst, – diese Hinkels.
Erhard irritiert. Ich kenne sie auch eigentlich nicht. Etwas ungeduldig hinzufügend: Du weißt doch selber am besten, Mutter, welche Leute ich kenne und welche nicht.
Frau Wilton. Du lieber Gott! In dem Haus wird man bald bekannt! Muntere, lustige, gastfreie Leute. Eine Masse junger Damen!
Frau Borkman mit Nachdruck. Wie ich meinen Sohn kenne, ist das eigentlich keine Gesellschaft für ihn, Frau Wilton.
Frau Wilton. Lieber Gott, aber er ist doch auch jung, Frau Borkman!
Frau Borkman. Ja, Gott sei Dank ist er jung. Es wäre sonst traurig.
Erhard seine Ungeduld schlecht verhehlend. Nun ja, ja, Mutter, – es versteht sich doch von selbst, daß ich heut nicht zu Hinkels gehe. Ich bleibe natürlich bei Dir und Tante Ella.
Frau Borkman. Das wußte ich wohl, mein lieber Erhard.
Ella. Nein, Erhard, – meinetwegen laß Dich nur ja nicht abhalten –
Erhard. Doch, doch, liebe Tante – die Sache ist erledigt. Sieht Frau Wilton unsicher an. Aber was tun wir nun? Wird es sich eigentlich machen lassen? Sie haben ja schon zugesagt – für mich.
Frau Wilton aufgeräumt. Unsinn! Warum sollte es sich nicht machen lassen? Bin ich erst da in den hellen, festlichen Salons, – einsam und verlassen – dann sage ich eben ab – für Sie.
Erhard gedehnt. Ja, wenn Sie meinen, daß es geht, so –
Frau Wilton leicht und flott. Ich habe schon so manches liebe Mal zugesagt und abgesagt – für meine Person. Und Sie wollten Ihre Tante verlassen, wo sie eben angekommen ist? Pfui, Monsieur Erhard, – heißt das wie ein Sohn gehandelt?
Frau Borkman unangenehm berührt. Wie ein Sohn?
Frau Wilton. Oder sagen wir: ein Pflegesohn, Frau Borkman.
Frau Borkman. Das müssen Sie schon hinzufügen.
Frau Wilton. Ach, meines Erachtens hat man einer guten Pflegemutter mehr zu verdanken als der rechten Mutter.
Frau Borkman. Haben Sie selbst diese Erfahrung gemacht?
Frau Wilton. Du lieber Himmel, – meine Mutter habe ich so gut wie gar nicht gekannt. Hätte ich aber auch so eine gute Pflegemutter gehabt, – dann wäre ich vielleicht jetzt nicht so – so unartig, wie die Leute von mir behaupten. Zu Erhard. Nun also hüsch zu Hause geblieben bei Mama und Tante – und Tee getrunken, Herr Studiosus! Zu den Damen. Adieu, liebe Frau Borkman! Empfehle mich, mein Fräulein!
Die Damen erwidern schweigend ihren Gruß. Sie schickt sich zum Gehen an.
Erhard geht hinter ihr her. Soll ich Sie nicht ein Stückchen begleiten –?
Frau Wilton bei der Tür, abwehrend. Keinen Schritt sollen Sie mich begleiten. Ich bin schon daran gewöhnt, meinen Weg allein zu gehen. Bleibt in der Türöffnung stehen, blickt ihn an und nickt. Nun nehmen Sie sich aber in acht, Herr Studiosus Borkman, – das sage ich Ihnen!
Erhard. Wovor soll ich mich in acht nehmen?
Frau Wilton lustig. Je nun – wenn ich jetzt meines Weges ziehe, – einsam und verlassen, wie gesagt, – dann erprobe ich den Runenzauber an Ihnen.
Erhard lacht. Ach so! Das wollen Sie wieder erproben.
Frau Wilton halb im Ernst. Ja, sehen Sie sich vor! Wenn ich jetzt meiner Wege gehe, dann sage ich innerlich, – so recht aus meinem innersten Willen heraus sage ich: Studiosus Erhard Borkman, – gleich nehmen Sie Ihren Hut!
Frau Borkman. Und dann nimmt er ihn, meinen Sie?
Frau Wilton lachend. Und ob –; sofort greift er nach dem Hut. Und dann sage ich weiter: Ziehen Sie hübsch den Überzieher an, Erhard Borkman! Und die Gummischuhe! Vergessen Sie ja die Gummischuhe nicht! Und kommen Sie mir nach! Folgsam, folgsam, folgsam!
Erhard mit erzwungener Heiterkeit. Da können Sie sicher sein!
Frau Wilton mit erhobenem Zeigefinger. Folgsam! Folgsam! – Guten Abend!
Sie lacht, nickt den Damen zu und schließt die Tür hinter sich.
Frau Borkman. Treibt sie wirklich solche Künste?
Erhard. Ach, kein Gedanke. Wie kannst Du glauben? Sie macht nur Spaß. Abbrechend. Aber reden wir jetzt nicht mehr von Frau Wilton.
Er nötigt Ella, in dem Lehnstuhl am Ofen Platz zu nehmen.
Erhard steht eine Weile da und sieht sie an. Daß Du die weite Reise gemacht hast, Tante Ella! Und noch dazu im Winter!
Ella. Sie wurde mir schließlich zur Notwendigkeit, Erhard.
Erhard. Wieso denn?
Ella. Ich mußte endlich einmal Ärzte hier in der Stadt konsultieren.
Erhard. Recht so!
Ella lächelt. Ist Dir das so recht?
Erhard. Daß Du Dich endlich dazu entschlossen hast, mein‘ ich.
Frau Borkman vom Kanapee her; kalt. Bist Du krank, Ella?
Ella blickt sie mit Härte an. Du weißt ganz gut, daß ich krank bin.
Frau Borkman. Na ja, etwas kränklich, wie Du es seit Jahr und Tag gewesen bist –
Erhard. Als ich noch bei Dir war, habe ich Dir oft genug gesagt, Du solltest mit dem Arzte reden.
Ella. Ach, in meiner Gegend, da ist keiner, zu dem ich rechtes Vertrauen habe. Und dann machte es sich damals auch nicht so arg fühlbar.
Erhard. Geht es Dir denn jetzt schlechter, Tante?
Ella. O ja, mein Junge, es geht mir allerdings schlechter.
Erhard. Aber es ist doch nicht gefährlich?
Ella. Ach, wie man’s nimmt.
Erhard eifrig. Ja, aber dann, liebe Tante, – dann darfst Du so bald nicht wieder nach Hause.
Ella. Nein, das will ich auch nicht.
Erhard. Du mußt in der Stadt bleiben. Denn da hast Du die besten Ärzte zur Auswahl.
Ella. Das war auch meine Absicht, als ich die Reise unternahm.
Erhard. Und sieh nur zu, daß Du ein recht gutes Logis bekommst, – so in einem stillen, gemütlichen Pensionat.
Ella. Ich bin heut morgen in meinem alten Quartier abgestiegen.
Erhard. Na, da hast Du’s ja auch ganz gemütlich.
Ella. Das schon, – aber ich werde trotzdem auf die Dauer nicht dort bleiben.
Erhard. So? Warum denn nicht?
Ella. Weil ich mich eines Besseren besonnen habe, seit ich hier bin.
Erhard verwundert. So –? Du hast Dich eines Besseren besonnen –?
Frau Borkman häkelt; ohne aufzublicken: Deine Tante will hier auf ihrem Gute wohnen, Erhard.
Erhard sieht die beiden abwechselnd an. Hier! Bei uns! Bei uns andern! – Ist das wahr, Tante?
Ella. Ja, ich habe mich jetzt dazu entschlossen.
Frau Borkman wie oben. Du weißt doch, es gehört alles Deiner Tante.
Ella. Und so bleibe ich hier bei Euch, Erhard. Vorläufig wenigstens. Bis auf weiteres. Ich wohne für mich allein. Drüben im Verwalterhause –
Erhard. Recht so. Da hast Du ja stets Zimmer für Dich bereit stehen. Mit plötzlicher Lebhaftigkeit. Was mir da einfällt, Tante, – bist Du nicht sehr müde von der Reise?
Ella. Etwas müde bin ich allerdings.
Erhard. Na, da müßtest Du doch zeitig zu Bette gehen, sollt‘ ich meinen.
Ella sieht ihn lächelnd an. Das will ich auch.
Erhard eifrig. Dann könnten wir ja morgen weiter plaudern, nicht wahr, – oder einen andern Tag? Nach Herzenslust. Von allem Möglichen. Du, die Mutter und ich. Wäre das nicht weit besser, Tante?
Frau Borkman erregt, indem sie sich vom Kanapee erhebt. Erhard, – ich sehe es Dir an, Du willst fort von mir?
Erhard zuckt zusammen. Wie meinst Du das?
Frau Borkman. Du willst zu – zu Hinkels.
Erhard unwillkürlich. Ach so! Faßt sich. Ja, meinst Du denn, ich sollte lieber bis tief in die Nacht dableiben und Tante Ella um ihren Schlaf bringen? Tante Ella ist doch krank, Mutter. Bedenke doch!
Frau Borkman. Du willst zu Hinkels, Erhard!
Erhard ungeduldig. Aber mein Gott, Mutter, – mir scheint, ich kann nicht gut umhin. Oder was meinst Du, Tante?
Ella. Das Beste ist, Du handelst in voller Freiheit, Erhard.
Frau Borkman geht drohend auf sie zu. Du willst ihn mir abspenstig machen!
Ella steht auf. O könnte ich nur, Gunhild!
Von oben ertönt Musik.
Erhard windet sich wie in Schmerzen. Ach, das halte ich nicht aus! Sieht sich um. Wo habe ich meinen Hut? Zu Ella. Kennst Du das Stück, das da oben gespielt wird?
Ella. Nein. Was ist denn das?
Erhard. Es ist die »Danse macabre«. Der Totentanz. Kennst Du den Totentanz nicht, Tante?
Ella mit schwermütigem Lächeln. Noch nicht, Erhard.
Erhard zu Frau Borkman. Mutter, – ich flehe Dich an, – laß mich fort!
Frau Borkman blickt ihn mit Härte an. Von Deiner Mutter fort? Also wirklich?
Erhard. Ich komme ja wieder – vielleicht schon morgen!
Frau Borkman in leidenschaftlicher Erregung. Du willst von mir fort! Zu den fremden Menschen willst Du! Zu – zu – nein, ich mag den Gedanken nicht ausdenken!
Erhard. Dort brennen viele Lichter. Und junge, fröhliche Gesichter gibt es da. Und Musik, Mutter!
Frau Borkman deutet nach oben. Da oben, da gibt es doch auch Musik, Erhard.
Erhard. Die Musik, – die treibt mich eben aus dem Hause.
Ella. Gönnst Du Deinem Vater nicht das bißchen Selbstvergessen?
Erhard. Ja, natürlich. Ich gönn‘ es ihm tausendmal. Wenn ich es nur selber nicht mit anzuhören brauche.
Frau Borkman sieht ihn ermahnend an. Sei stark, Erhard! Stark, mein Junge! Vergiß niemals, daß Du Deine große Mission hast!
Erhard. Ach, Mutter, – verschone mich doch mit solchen Redensarten! Ich tauge nun einmal nicht zum Missionär. – Gute Nacht, liebe Tante! Gute Nacht, Mutter!
Eilig ab durch den Flur.
Frau Borkman nach einer kurzen Pause. Du wirst ihn wohl doch bald wieder haben, Ella.
Ella. Könnte ich’s nur glauben.
Frau Borkman. Aber Du sollst sehen: nicht lange, und Du wirst ihn wieder verlieren.
Ella. Durch Dich, meinst Du?
Frau Borkman. Durch mich oder durch – die andere.
Ella. Dann sie noch lieber als Du.
Frau Borkman nickt langsam. Ich verstehe. Das sage ich auch. Sie noch lieber als Du.
Ella. Mag es ihn schließlich auch führen, wohin es will –
Frau Borkman. Das wäre am Ende einerlei, hätte ich fast gesagt.
Ella nimmt ihren Mantel und Hut. Zum ersten Mal im Leben sind wir beiden Zwillingsschwestern einig. – Gute Nacht, Gunhild.
Sie geht durch den Flur ab.
Die Musik oben ertönt stärker.
Frau Borkman steht eine Weile unbeweglich da, fährt dann zusammen, krümmt sich und flüstert unwillkürlich: Der Wolf heult wieder. – Der kranke Wolf. Steht einen Augenblick da, wirft sich dann auf den Zimmerteppich, wo sie sich ächzend windet, und flüstert in ihrem Jammer: Erhard! Erhard, – bleib mir treu! Ach, so komm doch zurück und hilf Deiner Mutter! Denn dieses Leben ertrage ich nicht länger!
Zweiter Akt
Der alte große Prunksaal des Rentheimschen Hauses. Die Wände sind mit alten Gobelins bekleidet, auf denen Jagdszenen, Hirten und Hirtinnen dargestellt sind, alles in verschossenen, schwindenden Farben. An der linken Wand eine Flügeltür und weiter vorn ein Klavier. In der linken Ecke der Hinterwand eine Tapetentür ohne Einfassung. In der Mitte der rechten Wand ein großer, geschnitzter, eichener Schreibtisch mit vielen Büchern und Papieren. Gleichfalls rechts, aber weiter vorn, ein Sofa mit Tisch und Stühlen. Die Möbel sind in steifem Empirestil gehalten. Auf dem Pulte und auf dem Tische brennen Lampen.
John Gabriel Borkman steht am Klavier, die Hände auf dem Rücken, und hört Frida Foldal zu, die eben die letzten Takte der »Danse macabre« spielt.
Borkman ist ein mittelgroßer, strammer und kräftig gebauter Mann in den sechziger Jahren. Vornehmes Aussehen, fein geschnittenes Profil, durchdringende Augen. Haar und Bart sind grauweiß und kraus. Er trägt einen schwarzen, nicht mehr ganz modernen Anzug und eine weiße Halsbinde. Frida Foldal ist ein hübsches, bleiches Mädchen von 15 Jahren; ihr Gesicht hat ein wenig den Ausdruck der Müdigkeit und Überanstrengung. Sie trägt ein helles Kleid, dürftig herausgeputzt.
Das Musikstück ist zu Ende. Pause.
Borkman. Raten Sie einmal, wo ich zuerst Töne wie diese hier gehört habe!
Frida blickt zu ihm auf. Nun, Herr Borkman?
Borkman. Es war unten in den Minen –
Frida versteht ihn nicht. In den Minen – so?
Borkman. Ich bin eines Bergmanns Sohn, müssen Sie wissen. Oder wissen Sie das vielleicht nicht?
Frida. Nein, Herr Borkman.
Borkman. Eines Bergmanns Sohn. Und mein Vater nahm mich zuweilen mit hinunter in die Minen. – Dort in der Tiefe singt das Erz.
Frida. So? Das singt?
Borkman nickt. Wenn es gebrochen wird. Die Hammerschläge, die es brechen, – das ist die Mitternachtsglocke, die läutet und es erlöst. Darum singt das Erz – vor Freude – in seiner Weise.
Frida. Warum denn das, Herr Borkman?
Borkman. Es will hinauf ans Tageslicht und den Menschen dienen.
Er geht auf und ab, die Hände fortwährend auf dem Rücken.
Frida sitzt eine Weile da und wartet, blickt dann auf ihre Uhr und steht auf. Entschuldigen Sie, Herr Borkman, – aber ich muß nun leider fort.
Borkman bleibt vor ihr stehen. Jetzt wollen Sie schon fort?
Frida legt die Noten in ihre Mappe. Ich muß wohl. Sichtlich verlegen. Denn ich bin heute abend wohin bestellt.
Borkman. Wo eine Gesellschaft ist?
Frida. Ja.
Borkman. Und Sie sollen sich hören lassen da vor der Gesellschaft?
Frida beißt sich auf die Lippe. Nein, – ich soll zum Tanz aufspielen.
Borkman. Nur zum Tanz?
Frida. Ja. Man will nach dem Abendessen tanzen.
Borkman blickt sie eine Weile an. Spielen Sie gern zum Tanz? So in den Häusern herum?
Frida zieht ihren Mantel an. Wenn ich einen Auftrag bekommen kann, so –. Es gibt ja immerhin etwas dabei zu verdienen.
Borkman ausforschend. Ist das Ihr erster und einziger Gedanke, wenn Sie so dasitzen und zum Tanz spielen?
Frida. Nein. Vor allem denke ich, wie traurig es ist, daß ich nicht selbst beim Tanzen mittun darf.
Borkman nickt. Das eben wollte ich wissen. Geht unruhig auf und ab. Ja, ja, ja, – selbst nicht mittun dürfen, das ist das allertraurigste. Bleibt stehen. Eins aber wiegt Ihnen alles auf, Frida.
Frida blickt ihn fragend an. Und das wäre, Herr Borkman?
Borkman. Dieses eine: Sie haben zehnmal mehr Musik im Leibe als die ganze Tanzgesellschaft zusammengenommen.
Frida lächelt ausweichend. Ach, das ist doch noch gar nicht so sicher.
Borkman hebt warnend den Zeigefinger. Sie werden doch nicht so verrückt sein, an sich selbst zu zweifeln!
Frida. Aber lieber Gott, wenn nun niemand davon weiß?
Borkman. Wenn Sie nur selbst es wissen, das genügt. – Wo spielen Sie denn heut abend.
Frida. Drüben bei Advokat Hinkel.
Borkman blickt sie plötzlich streng an. Hinkel, sagten Sie?
Frida. Ja.
Borkman mit einem bitteren und scharfen Lächeln. Gehen zu dem Mann Leute ins Haus? Kann der Mann Verkehr bekommen?
Frida. O ja, es sollen viel Leute hinkommen, – – habe ich Frau Wilton sagen hören.
Borkman heftig. Aber was für Leute? Können Sie mir das sagen?
Frida etwas ängstlich. Nein, das weiß ich wirklich nicht. Ja, – richtig, Herr Studiosus Borkman soll heut dort sein.
Borkman betroffen. Erhard! Mein Sohn?
Frida. Ja, er soll dort sein.
Borkman. Woher wissen Sie das?
Frida. Er hat es selbst gesagt. Vor einer Stunde.
Borkman. Ist er denn heut hier draußen?
Frida. Ja, er ist den ganzen Nachmittag bei Frau Wilton gewesen.
Borkman forschend. Wissen Sie, ob er auch hier im Hause war? Ich meine, ob er unten war und mit jemand gesprochen hat?
Frida. Ja, er war ein Weilchen bei der gnädigen Frau im Zimmer.
Borkman bitter. Aha, – dacht‘ ich es mir doch.
Frida. Aber noch eine fremde Dame war, glaube ich, bei ihr.
Borkman. So? Wirklich? Na ja, zur gnädigen Frau kommt ja wohl mitunter der und jener.
Frida. Wenn ich den jungen Herrn nachher treffe, soll ich ihm dann sagen, er möchte doch auch zu Ihnen heraufkommen?
Borkman barsch. Nichts sollen Sie sagen! Das will ich mir sehr verbeten haben! Die Leute, die mich zu sprechen wünschen, die sollen von selber kommen. Ich bitte niemand darum.
Frida. Nein, nein, – dann werde ich nichts sagen. – Gute Nacht, Herr Borkman.
Borkman brummt, auf und ab schlendernd. Gute Nacht.
Frida. Dürfte ich vielleicht die Wendeltreppe hinunterlaufen? Da geht es schneller.
Borkman. Ja doch! – Laufen Sie meinetwegen, welche Treppe sie wollen, hinunter. Und jetzt gute Nacht.
Frida. Gute Nacht, Herr Borkman.
Ab durch die kleine Tapetentür im Hintergrund links.
Borkman geht in Gedanken ans Klavier und will es zumachen, unterläßt es aber. Er sieht sich um in dem öden Raum und beginnt dann, auf und ab zu wandeln zwischen der Ecke am Klavier und der rechten Ecke des Hintergrundes, – ohne Ruhe und Rast, beständig hin und her. Schließlich geht er an den Schreibtisch, horcht in der Richtung der Flügeltür, nimmt schnell einen Handspiegel, besieht sich darin und bringt seine Halsbinde in Ordnung.
Es klopft an die Flügeltür. Borkman hört das Klopfen, blickt schnell zur Tür hin, schweigt aber.
Nach einer Weile klopft es wieder, diesmal stärker.
Borkman stützt, am Schreibtisch stehend, die linke Hand auf die Tischplatte und steckt die Rechte in die Brust. Herein!
Wilhelm Foldal tritt behutsam ein. Er ist ein Mann von abgearbeitetem Aussehen, gebeugter Haltung und hat sanfte, blaue Augen und dünnes, langes, graues Haar, das ihm über den Rockkragen herabfällt. Unter dem Arm hat er eine Mappe. Er hält einen weichen Filzhut in der Hand und trägt eine große Hornbrille, die er auf die Stirn hinaufschiebt.
Borkman verändert seine Stellung und blickt den Eintretenden mit einem Gemisch von Enttäuschung und Befriedigung an. Ach, Du bist es bloß.
Foldal. Einen schönen guten Abend, John Gabriel. Ich bin es, – in eigenster Person.
Borkman mit einem strengen Blick. Ich finde übrigens, Du kommst rechtschaffen spät.
Foldal. Na hör‘ mal, der Weg hierher ist keine Kleinigkeit. Besonders für einen, der zu Fuß gehen muß.
Borkman. Ja, warum gehst Du denn immer, Wilhelm? Du hast ja die Straßenbahn ganz in der Nähe.
Foldal. Gehen ist gesünder. Und dann spare ich auch die zehn Pfennig. – Na, ist Frida vorhin dagewesen und hat Dir vorgespielt?
Borkman. Diesen Augenblick ist sie gegangen. Bist Du ihr nicht draußen begegnet?
Foldal. Nein. Ich habe sie seit Urzeiten nicht gesehen. Seit sie zu dieser Frau Wilton ins Haus kommt.
Borkman setzt sich aufs Sofa und deutet mit einer Handbewegung auf einen Stuhl. Setz‘ Dich nur auch, Wilhelm.
Foldal setzt sich auf die Stuhlkante. Danke schön. Blickt ihn schwermütig an. Ach, Du glaubst gar nicht, wie einsam ich mich fühle, seit Frida von Hause fort ist.
Borkman. Herrjeh, – Du hast doch noch genug Kinder.
Foldal. Weiß Gott, ja. Ganze fünf Stück. Aber Frida, die war die einzige, die mich so ein bißchen verstanden hat. Schüttelt schwermütig den Kopf. Die andern, die verstehen mich alle durchaus nicht.
Borkman blickt finster vor sich hin und trommelt auf den Tisch. Ja, – das eben ist die Geschichte. Das ist der Fluch, der auf uns einzelnen, auf uns auserwählten Menschen lastet. Die Masse, die Menge, – der Durchschnitt, – haben kein Verständnis für uns, Wilhelm.
Foldal resigniert. Verständnis, – das verlangt man ja nicht gleich. Mit einem bißchen Geduld, da kann man immerhin ein Weilchen warten, bis es kommt.
Mit tränenerstickter Stimme. Aber Du, es gibt noch etwas Bittereres!
Borkman heftig. Etwas Bittereres als das gibt es nicht!
Foldal. O doch, John Gabriel. Ich hatte eben, – bevor ich wegging – eine häusliche Szene.
Borkman. Wieso denn?
Foldal herausplatzend. Zu Hause, da – da verachten sie mich.
Borkman fährt auf. Verachten Dich –!
Foldal wischt sich die Augen. Ich hatte es schon lange gemerkt. Heut aber kam es so recht zum Ausdruck.
Borkman nach einer kurzen Pause. Du trafst gewiß keine gute Wahl, als Du heiratetest.
Foldal. Es blieb mir doch so gut wie keine Wahl. Und übrigens, – man heiratet doch gern, wenn man so langsam in die Jahre kommt. Und so reduziert, so ganz auf den Hund gekommen wie ich damals war –
Borkman springt zornig auf. Soll das auf mich gehen? Ein Vorwurf –!
Foldal ängstlich. Aber um des Himmels willen, John Gabriel –!
Borkman. Doch, – Du denkst jetzt an das Unglück, das über die Bank hereinbrach –!
Foldal begütigend. Aber in der Geschichte schiebe ich doch die Schuld nicht auf Dich! Gott soll mich bewahren –!
Borkman brummt, indem er sich wieder setzt. Na, dann ist es gut.
Foldal. Übrigens glaub‘ nur nicht, daß ich mich über meine Frau beklage. Sehr gebildet ist sie ja nicht, die gute Seele, – das ist wahr. Aber es ist mit ihr doch auszukommen. Nein, Du! Die Kinder sind es –
Borkman. Konnt‘ es mir denken.
Foldal. Denn die Kinder, – die haben doch mehr Kultur. Und stellen darum auch höhere Anforderungen ans Leben.
Borkman sieht ihn teilnehmend an. Und darum verachten Dich die Rangen, Wilhelm?
Foldal zuckt die Achseln. Sieh mal – ich habe ja nicht sonderlich Karriere gemacht. Das muß ich ja zugeben –
Borkman rückt näher und legt die Hand auf seinen Arm. Wissen sie denn nicht, daß Du ein Trauerspiel geschrieben hast in Deiner Jugendzeit?
Foldal. Natürlich wissen sie das. Es scheint aber keinen besonderen Eindruck auf sie zu machen.
Borkman. Dann sind sie eben verständnislos. Denn Dein Trauerspiel ist gut. Das ist meine feste Überzeugung.
Foldal, dessen Gesicht sich aufhellt. Nicht wahr, es ist manches Gute darin, John Gabriel? Ach Gott, wenn ich es nur endlich schon angebracht hätte – beginnt eifrig die Mappe zu öffnen und in den Papieren zu blättern. Paß mal auf! Jetzt will ich Dir einige Änderungen zeigen –
Borkman. Hast Du es mit?
Foldal. Ja, – ich habe es mitgebracht. Es ist schon lange her, seit ich Dir es vorgelesen habe. Und darum dachte ich, es würde vielleicht eine Zerstreuung für Dich sein, einen Akt oder zwei zu hören –
Borkman abwehrend, indem er sich erhebt. Nein, nein, lassen wir das lieber für ein andermal.
Foldal. Nun ja, wie Du willst.
Borkman geht auf und ab. Foldal packt das Manuskript wieder ein.
Borkman bleibt vor ihm stehen. Es ist wahr, was Du vorhin sagtest, – Du hast keine Karriere gemacht. Aber das verspreche ich Dir, Wilhelm: wenn einmal die Stunde der Genugtuung für mich schlägt –
Foldal will aufstehen. Ach, wie dankbar bin ich Dir –!
Borkman mit einer Handbewegung. Du darfst sitzen bleiben. In wachsender Erregung. Wenn die Stunde der Genugtuung für mich schlägt –. Wenn sie einsehen, daß sie ohne mich nicht fertig werden können –. Wenn sie zu mir kommen, hierher, – und zu Kreuze kriechen und bitten und betteln, daß ich die Leitung der Bank wieder übernehme –! Der neuen Bank, die sie gegründet haben – und deren sie nicht Herr werden können – stellt sich an den Schreibtisch wie vorhin und schlägt sich an die Brust. Hier will ich stehen und sie empfangen! Und weit im Lande soll’s gehört werden, was für Bedingungen John Gabriel Borkman stellt, um – hält plötzlich inne und starrt Foldal an. Du siehst mich so zweifelnd an! Glaubst Du etwa nicht, daß sie kommen? Daß sie einmal zu mir kommen müssen, – müssen? Glaubst Du das nicht?
Foldal. Ja, weiß Gott, das glaube ich, John Gabriel.
Borkman setzt sich wieder aufs Sofa. Ich glaube es so fest. Weiß es mit so unerschütterlicher Gewißheit, – daß sie kommen. – Hätte ich die Gewißheit nicht gehabt, – dann hätte ich mir längst eine Kugel durch den Kopf geschossen.
Foldal erschrocken. Ach, um Gottes willen –!
Borkman triumphierend. Aber sie kommen! Sie kommen schon! Gib acht! Jeden Tag, jede Stunde kann ich sie hier erwarten. Und Du siehst, ich halte mich parat, sie zu empfangen.
Foldal mit einem Seufzer. Wenn sie nur recht bald kämen.
Borkman unruhig. Ja freilich; die Zeit vergeht; die Jahre vergehen; das Leben, – nein, nein, – ich wage nicht daran zu denken! Sieht ihn an. Weißt Du, wie ich mir manchmal vorkomme?
Foldal. Nun?
Borkman. Ich komme mir vor wie ein Napoleon, der in seiner ersten Feldschlacht zum Krüppel geschossen wurde.
Foldal legt die Hand auf die Mappe. Die Empfindung kenne ich auch.
Borkman. Na ja, das heißt im kleineren Maßstabe.
Foldal ruhig. Meine kleine Dichterwelt hat für mich einen großen Wert, John Gabriel.
Borkman heftig. Ja, aber ich erst, der ich Millionen hätte haben können! Die Bergwerke alle, die ich mir erschlossen hätte! Neue Minen ins Unendliche! Die Wasserfälle! Die Steinbrüche! Handelsstraßen und Schiffahrtsverbindungen über die ganze weite Welt. Alles, alles hätte ich allein ins Leben gerufen!
Foldal. Ja, – ich weiß wohl. Du wärst vor nichts zurückgeschreckt.
Borkman preßt die Hände zusammen. Und nun muß ich hier sitzen wie ein zu schanden geschossener Auerhahn und mit ansehen, wie die andern mir zuvorkommen – und mir’s vor der Nase wegschnappen, Stück für Stück!
Foldal. Du! So geht es mir auch.
Borkman, ohne ihn zu beachten. Hat man schon so etwas erlebt! Ich stand knapp vor dem Ziel. Nur acht Tage Frist, um mich zu rangieren, und alle Depositen wären wieder eingelöst worden. Alle Wertpapiere, die ich mit kühner Hand angegriffen hatte, die hätten wieder auf dem alten Platz gelegen. Um ein Haar wären die riesenhaften Aktiengesellschaften zustande gekommen. Kein einziger Mensch hätte einen Pfennig verloren –
Foldal. Lieber Gott ja, – so nah am Ziel, wie Du warst –
Borkman in verbissener Wut. Und da fiel mir der Verräter ins Genick! Gerade in den Tagen der Entscheidung! Sieht ihn an. Weißt Du, was ich für das infamste Verbrechen halte, das ein Mensch begehen kann?
Foldal. Nein, welches denn?
Borkman. Es ist nicht Mord. Auch Raub nicht oder nächtlicher Einbruch. Nicht einmal Meineid. Denn solche Taten werden doch meistens nur an Leuten verübt, die man haßt, oder die einem gleichgültig sind und einen nichts angehen.
Foldal. Nun also, John Gabriel, das Infamste –?
Borkman mit Nachdruck. Das Infamste ist, wenn ein Freund das Vertrauen des Freundes mißbraucht.
Foldal etwas bedenklich. Ja, aber hör‘ mal –
Borkman auffahrend. Ich sehe Dir an, was Du sagen willst. Das trifft aber nicht zu. Die Leute, die ihre Wertpapiere auf der Bank hatten, die hätten alles zurückbekommen. Auf Heller und Pfennig! – Nein, mein Lieber, – das Infamste, was ein Mensch begehen kann, das ist, wenn er die Briefe seines Freundes mißbraucht, – wenn er das der Öffentlichkeit preisgibt, was einem einzigen nur anvertraut war, unter vier Augen, wie zugeflüstert in einem leeren, dunkeln, verriegelten Zimmer. Der Mann, der zu solchen Mitteln greift, der ist durch und durch vergiftet und verpestet von einer mehr als schurkischen Moral. Und einen solchen Freund habe ich gehabt. – Und der hat mich zerschmettert.
Foldal. Ich ahne schon, auf wen Du anspielst.
Borkman. In meinem ganzen Wandel war keine Falte, die ich ihm nicht enthüllt hätte. Und dann, als der Augenblick gekommen war, da richtete er wider mich die Waffe, die ich ihm selber in die Hände gegeben hatte.
Foldal. Ich habe nie begreifen können, warum er –? Allerdings munkelten die Leute damals mancherlei.
Borkman. Was munkelte man? So sage es. Ich weiß ja nichts. Ich wurde ja doch gleich – isoliert. Was munkelten die Leute, Wilhelm?
Foldal. Du hättest Minister werden sollen, hieß es.
Borkman. Die Stellung wurde mir angeboten. Aber ich habe abgelehnt.
Foldal. Da standst Du ihm also nicht im Wege.
Borkman. O nein, – aus dem Grunde verriet er mich nicht.
Foldal. Ja, dann begreife ich wahrhaftig nicht –
Borkman. Dir kann ich es schon sagen, Wilhelm.
Borkman. Es war – so eine Art Weibergeschichte, weißt Du.
Foldal. Eine Weibergeschichte? Aber John Gabriel –?
Borkman abbrechend. Ja, ja, ja, – reden wir nicht mehr von den alten, dummen Geschichten. – Minister freilich wurden wir beide nicht.
Foldal. Aber er kam in die Höhe.
Borkman. Und ich stürzte in den Abgrund.
Foldal. O, welch fürchterliches Trauerspiel –
Borkman nickt ihm zu. So fürchterlich fast wie Deines, wenn ich es mir recht überlege.
Foldal arglos. Ja, mindestens so fürchterlich.
Borkman lacht leise. Aber von einer andern Seite betrachtet, ist es doch auch wieder eine Art Komödie.
Foldal. Komödie? Das?
Borkman. Wie es sich jetzt entwickeln will, – ja. Denn nun paß mal auf –
Foldal. Also?
Borkman. Als Du kamst, da fandest Du Frida nicht mehr hier.
Foldal. Nein.
Borkman. Nun, während wir beide hier sitzen, spielt sie zum Tanz bei dem Mann, der mich verriet und stürzte.
Foldal. Aber davon hatte ich ja keine Ahnung!
Borkman. Ja, sie nahm ihre Noten und ging von hier in – in das Haus dieser Herrschaften.
Foldal entschuldigend. Ja, ja, das arme Kind –
Borkman. Und rat einmal, wem unter andern sie aufspielt?
Foldal. Nun?
Borkman. Meinem Sohn.
Foldal. Was!
Borkman. Ja, was sagst Du dazu, Wilhelm? Mein Sohn ist heut abend dort in den Reihen der Tänzer. Darf ich da nicht von einer Komödie reden?
Foldal. Aber dann weiß er sicherlich nichts.
Borkman. Was weiß er nicht?
Foldal. Er weiß sicherlich nicht, auf welche Art er – dieser – na –
Borkman. Nenn ihn nur ruhig beim Namen. Jetzt alteriert es mich nicht mehr, wenn ich ihn höre.
Foldal. Ich bin überzeugt, Dein Sohn kennt den Sachverhalt nicht, John Gabriel.
Borkman sitzt finster da und klopft auf den Tisch. Er kennt ihn, Du, – so wahr ich lebe!
Foldal. Sollte man es aber dann für möglich halten, daß er in dem Haus verkehrt?
Borkman schüttelt den Kopf. Mein Sohn sieht wohl die Dinge mit andern Augen an als ich. Ich möchte darauf schwören, daß er auf der Seite meiner Feinde steht! Er meint jedenfalls, wie sie, der Advokat Hinkel hätte nur seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan, als er hinging und mich verriet.
Foldal. Aber, du lieber Gott, wer sollte ihm denn die Sache in dem Lichte geschildert haben?
Borkman. Wer? Vergißt Du denn, wer ihn erzogen hat? Zuerst seine Tante – seit seinem sechsten oder siebenten Jahr. Und später dann – seine Mutter!
Foldal. Ich glaube, Du tust ihnen unrecht in dem Punkt.
Borkman auffahrend. Ich pflege keinem Menschen unrecht zu tun! Ich sage Dir, sie haben ihn gegen mich aufgehetzt, eine wie die andere!
Foldal nachgiebig. Na ja, ja, – dann wird es wohl so sein.
Borkman erbittert. O, diese Weiber! Das Leben verleiden und verstören sie einem! Verpfuschen unser ganzes Schicksal, – unsern ganzen Siegeslauf.
Foldal. Du, nicht alle!
Borkman. So? Nenne mir eine einzige, die etwas taugt!
Foldal. Nein, das ist es eben. Die wenigen, die ich kenne, die taugen nichts.
Borkman höhnisch. Was hat es dann für einen Nutzen, daß es solche Weiber gibt, – wenn man sie nicht kennt!
Foldal mit Wärme. O doch, John Gabriel, es hat einen Nutzen. Denn ist es nicht ein herrlicher und erhebender Gedanke, gleichwohl da draußen, um uns her, in weiter Ferne irgendwo das wahre Weib zu wissen?
Borkman mit einer ungeduldigen Gebärde. Aber so hör‘ doch auf mit Deinem Dichtergewäsch!
Foldal blickt ihn tief gekränkt an. Dichtergewäsch – so nennst Du meinen heiligsten Glauben?!
Borkman mit Härte. Ja, ich bin so frei! Und wenn Du nicht weiter gekommen bist in der Welt, so liegt der Grund eben darin. Wolltest Du nur solche Sachen lassen, so könnte ich Dir noch auf die Beine helfen, – Dich in die Höhe bringen.
Foldal innerlich kochend vor Erregung. Ach, das kannst Du doch nicht.
Borkman. Ich kann es, wenn ich nur wieder zur Macht gelange.
Foldal. Damit hat es sicherlich noch seine guten Wege.
Borkman heftig. Bist Du etwa der Meinung, die Zeit würde nie kommen? Antworte mir darauf?
Foldal. Ich weiß nicht, was ich Dir antworten soll.
Borkman steht auf, kalt und vornehm, indem er mit einer Handbewegung zur Tür hindeutet. So bist Du hier überflüssig.
Foldal schnellt auf. Überflüssig –!
Borkman. Wenn Du nicht glaubst, mein Schicksal werde sich wenden –
Foldal. Aber ich kann doch nicht glauben, was gegen alle Vernunft ist! – Du müßtest doch rehabilitiert werden –
Borkman. Weiter! Nur weiter!
Foldal. Mein Examen habe ich freilich nicht gemacht; – aber so viel habe ich doch zu meiner Zeit gelernt –
Borkman schnell. Unmöglich, meinst Du?
Foldal. Es liegt kein Präzedenzfall vor.
Borkman. Braucht es auch nicht für Ausnahmemenschen.
Foldal. Das Gesetz kennt solche Rücksichten nicht.
Borkman hart und absprechend. Du bist kein Dichter, Wilhelm.
Foldal faltet unwillkürlich die Hände. Sagst Du das in vollem Ernst?
Borkman abweisend, ohne ihm zu antworten. Wir beide vergeuden nur die Zeit miteinander. Das Beste ist, Du kommst nicht mehr.
Foldal. Du willst also, daß ich gehe!
Borkman ohne ihn anzusehen. Ich habe Dich nicht mehr nötig.
Foldal sanftmütig, indem er seine Mappe nimmt. Na ja doch – das mag schon sein.
Borkman. Die ganze Zeit hast Du mich also belogen.
Foldal schüttelt den Kopf. Habe nie gelogen, John Gabriel.
Borkman. Hast Du nicht ewig Hoffnung und Glauben und Zuversicht in mich hineingelogen?
Foldal. Es war keine Lüge, solange Du an meinen Beruf glaubtest. Solange Du an mich glaubtest, solange glaubte ich an Dich.
Borkman. Wir haben uns also gegenseitig betrogen. Und am Ende uns selber betrogen – einer wie der andere.
Foldal. Aber ist das denn im Grunde nicht Freundschaft, John Gabriel?
Borkman mit einem bittern Lächeln. Gewiß, ja, betrügen, – das ist Freundschaft. Da hast Du recht. Die Erfahrung habe ich schon einmal gemacht.
Foldal richtet den Blick auf ihn. Also nicht zum Dichter berufen. Und das konntest Du mir so unbarmherzig sagen.
Borkman in etwas weicherem Ton. Nun, ich bin ja doch nicht sachkundig auf dem Gebiet.
Foldal. Mehr vielleicht als Du selber ahnst.
Borkman. Ich?
Foldal leise. Ja, Du. Denn sieh mal, ich habe selbst meine Zweifel gehabt, – dann und wann. Den grauenvollen Zweifel – ob ich nicht mein Leben verpfuscht habe um einer Einbildung willen.
Borkman. Wenn Du an Dir selbst zweifelst, dann stehst Du auf schwachen Füßen.
Foldal. Darum war es für mich ein Trost, herzukommen und mich aufzurichten an Dir, der den Glauben hatte. Nimmt seinen Hut. – Aber jetzt bist Du ein Fremder für mich.
Borkman. Du für mich auch.
Foldal. Gute Nacht, John Gabriel.
Borkman. Gute Nacht, Wilhelm.
Foldal links ab.
Borkman steht eine Weile da und starrt auf die Tür, die sich in zwischen geschlossen hat, macht eine Bewegung, als ob er Foldal zurückrufen wollte, besinnt sich aber anders und fängt an, auf und ab zu gehen, die Hände auf dem Rücken. Darauf bleibt er am Sofatisch stehen und löscht die Lampe aus. Es wird halbdunkel im Saale. Bald darauf klopft es an die Tapetentür links im Hintergrund.
Borkman, der am Tisch steht, fährt zusammen, dreht sich um und fragt mit lauter Stimme: Wer klopft da? Keine Antwort; es klopft zum zweitenmal.
Borkman bleibt stehen. Wer ist da? Herein!
Ella Rentheim, eine brennende Kerze in der Hand, erscheint in der Tür. Sie trägt dasselbe schwarze Kleid wie zuvor, den Mantel lose über die Schultern geworfen.
Borkman starrt sie an. Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir!
Ella macht die Tür hinter sich zu und nähert sich. Ich bin es, Borkman.
Sie stellt die Kerze aufs Klavier und bleibt dort stehen.
Borkman steht wie vom Blitz getroffen da, starrt sie unverwandt an und flüstert halblaut: Ist das – ist das Ella? Ist das Ella Rentheim?
Ella. Ja. – »Deine« Ella, – wie Du mich in früheren Zeiten nanntest. Einstmals. Vor langen – langen Jahren.
Borkman wie oben. Ja, Du bist es, Ella, – ich seh‘ es jetzt.
Ella. Kannst Du mich wiedererkennen?
Borkman. Ja, jetzt fange ich an –
Ella. Die Jahre sind herb und hart mit mir umgesprungen, Borkman. Findest Du nicht?
Borkman gezwungen. Du hast Dich etwas verändert. So auf den ersten Blick –
Ella. Die dunkeln Locken, die über den Nacken herabfielen, die habe ich nun nicht mehr. Die Locken, die Du einst so gern um Deine Finger geschlungen hast.
Borkman schnell. Richtig! Jetzt seh‘ ich es, Ella. Du hast Deine Frisur verändert.
Ella mit traurigem Lächeln. Ganz recht – die Frisur ist es.
Borkman ablenkend. Ich wußte übrigens nicht, daß Du in unserer Gegend seist.
Ella. Ich bin auch eben erst angekommen.
Borkman. Warum diese Reise, – jetzt zur Winterzeit?
Ella. Das werde ich Dir sagen.
Borkman. Willst Du etwas von mir?
Ella. Auch von Dir. Ehe wir aber davon reden, muß ich weit zurückgreifen.
Borkman. Du bist gewiß müde.
Ella. Ja, ich bin müde.
Borkman. Willst Du Dich nicht setzen? Dorthin, – aufs Sofa.
Ella. Danke schön. Ich muß mich wirklich setzen.
Sie geht nach rechts und setzt sich in die vordere Sofaecke. Borkman steht am Tisch, die Hände auf dem Rücken, und sieht sie an. Kurze Pause.
Ella. Es ist unendlich lange her, seit wir zwei uns gegenüber gestanden haben, Aug‘ in Auge, Borkman.
Borkman finster. Lange, lange ist es her. Viel Furchtbares liegt dazwischen.
Ella. Ein ganzes Menschenleben liegt dazwischen. Ein verspieltes Menschenleben.
Borkman blickt sie unwirsch an. Verspielt!
Ella. Ja, verspielt. Für uns beide.
Borkman in kaltem Geschäftston. Ich erachte mein Leben noch nicht für verspielt.
Ella. Nun gut, – aber mein Leben?
Borkman. Daran bist Du selbst schuld, Ella.
Ella mit einem Ruck. Und das sagst Du!
Borkman. Du hättest sehr wohl glücklich werden können ohne mich.
Ella. Glaubst Du?
Borkman. Wenn Du selbst nur gewollt hättest.
Ella bitter. Ich weiß allerdings, ein anderer stand mit offenen Armen bereit –
Borkman. Aber Du hast ihn abgewiesen –
Ella. Das habe ich getan.
Borkman. Einmal übers andere hast Du ihn abgewiesen. Jahraus, jahrein –
Ella höhnisch. –jahraus, jahrein habe ich das Glück abgewiesen, willst Du sagen?
Borkman. Du konntest sehr wohl auch mit ihm glücklich werden. Und dann wäre ich gerettet gewesen.
Ella. Du – ?
Borkman. Ja, dann hättest Du mich gerettet, Ella.
Ella. Wie meinst Du das?
Borkman. Er hat geglaubt, ich steckte hinter Deiner Ablehnung, – Deinen ewigen Weigerungen. Und da nahm er Rache. Denn das konnte er so leicht, – weil er ja doch die rückhaltlosen, vertrauensseligen Briefe von mir alle in Händen hatte. Davon machte er Gebrauch, – und da war es mit mir aus, – fürs erste wenigstens. Siehst Du, an alledem bist Du schuld, Ella!
Ella. Ei, sieh mal an, Borkman, – am Ende liegt wohl die Sache so, daß ich in Deiner Schuld stehe.
Borkman. Wie man es nimmt. Ich weiß recht wohl, was ich Dir alles zu verdanken habe. Du erwarbst den Hof hier in der Versteigerung, das ganze Gut. Du stelltest das Haus mir und – und Deiner Schwester ganz und gar zur Verfügung. Du nahmst Erhard zu Dir, – und sorgtest für ihn in jeder Beziehung –
Ella. – solange es mir erlaubt wurde –
Borkman. – es Dir von Deiner Schwester erlaubt wurde, ja. Ich habe mich in diese häuslichen Fragen nie hineingemischt. – Ja, wie gesagt, – ich weiß, welche Opfer Du mir und Deiner Schwester gebracht hast. Du konntest es aber auch, Ella. Und Du darfst nicht vergessen, daß ich es war, der Dich in den Stand gesetzt hat, es zu können.
Ella empört. Da bist Du gewaltig im Irrtum, Borkman! Mein innerstes Gefühl, meine warme Zuneigung für Erhard, – und auch für Dich, – das war es, was mich dazu antrieb.
Borkman unterbricht sie. Liebe Ella, lassen wir Gefühle und derlei Dinge aus dem Spiele. Was ich sagte, war natürlich so gemeint: wenn Du so handeltest, wie Du getan hast, so war ich es, der Dir dazu die Möglichkeit gegeben hat.
Ella lächelt. Hm, die Möglichkeit, die Möglichkeit –
Borkman feurig. Jawohl, die Möglichkeit! Als, die große, entscheidende Schlacht geliefert werden sollte, – als ich weder Verwandte noch Freunde schonen konnte, – als ich zu den Millionen, die mir anvertraut waren, greifen mußte und auch griff, – da verschonte ich alles, was Dein war, Dein‘ ganzes Hab und Gut, – obwohl ich darüber hätte verfügen und es verwenden können – wie alles übrige!
Ella kalt und ruhig. Das ist ganz richtig, Borkman.
Borkman. Allerdings. Und deshalb – als sie kamen und mich einsteckten, – da fanden sie denn auch Dein ganzes Besitztum unangerührt im Gewölbe der Bank.
Ella richtet den Blick auf ihn. Ich habe oft darüber nachgedacht, – warum verschontest Du eigentlich alles, was mir gehörte – und nur das allein?
Borkman. Warum?
Ella. Ja, warum? Sag‘ mir das.
Borkman hart und höhnisch. Du denkst vielleicht, ich tat es, um etwas in der Reserve zu haben – wenn die Sache schief gehen sollte?
Ella. Ach nein, – daran dachtest Du zu der Zeit sicher nicht.
Borkman. Niemals! Ich baute felsenfest auf meinen Sieg.
Ella. Aber warum denn eigentlich –?
Borkman zuckt die Achseln. Du lieber Gott, Ella, – es ist nicht so leicht, sich auf Beweggründe zu besinnen, die an die zwanzig Jahre zurückliegen. Ich erinnere mich nur: wenn ich da einsam herumging und im stillen mich mit den gewaltigen Unternehmungen trug, die ich ins Werk setzen wollte, dann war mir zumut, wie es etwa einem Luftschiffer zumute sein muß. In den schlaflosen Nächten war es mir, als ob ich einen Riesenballon füllte und im Begriff stünde, über ein unsicheres, gefahrvolles Weltmeer zu segeln.
Ella lächelt. Und hast doch nie am Siege gezweifelt ?
Borkman ungeduldig. So sind die Menschen, Ella. Sie zweifeln und sie glauben zu gleicher Zeit. Vor sich hin. Und das war wohl der Grund, weshalb ich Dich und Deine Habe nicht mitnehmen wollte in den Ballon.
Ella gespannt. Warum, frage ich! Sag‘, warum!
Borkman, ohne sie anzublicken. Man nimmt nicht gern das Teuerste mit an Bord auf solcher Fahrt.
Ella. Du hattest ja das Teuerste mit an Bord. Dein ganzes zukünftiges Leben –
Borkman. Das Leben ist nicht immer das Teuerste.
Ella atemlos. Hast Du das damals so angesehen?
Ella. Daß ich Dir das Teuerste wäre, dachtest Du?
Borkman. Ja, so etwas schwebt mir vor.
Ella. Und damals war doch Jahr und Tag darüber vergangen, daß Du mich sitzen ließest – und Dich verheiratet hattest mit – mit einer andern!
Borkman. Dich sitzen ließ, sagst Du? Du weißt ganz genau, daß es höhere Rücksichten waren, – nun ja, sagen wir andere Rücksichten, – die mich dazu zwangen. Ohne seinen Beistand konnte ich nicht vorwärts kommen.
Ella mit Überwindung. Du ließest mich also sitzen aus – höheren Rücksichten.
Borkman. Ich konnte seine Hilfe nicht entbehren. Und er beanspruchte Dich als Preis seiner Hilfe.
Ella. Und Du bezahltest den Preis. Die volle Summe. Ohne zu handeln.
Borkman. Es blieb mir keine Wahl. Ich mußte siegen oder fallen.
Ella mit bebender Stimme, indem sie ihn ansieht. Kann das wahr sein, was Du sagtest: daß ich Dir damals das Teuerste war auf der Welt?
Borkman. Damals und auch später, – lange, lange noch.
Ella. Und doch hast Du mich verschachert. Hast aus dem Recht Deiner Liebe ein Handelsgeschäft mit einem andern Mann gemacht. Hast meine Liebe verkauft um – den Posten eines Bankdirektors!
Borkman finster, mit gesenktem Kopf. Ich stand unter dem Zwange der Notwendigkeit, Ella.
Ella steht vom Sofa auf, in leidenschaftlicher, zitternder Erregung. Verbrecher!
Borkman fährt zusammen, beherrscht sich aber. Das Wort habe ich schon einmal gehört.
Ella. Ach, denk nur nicht, daß ich auf das anspiele, was Du gegen das Recht und die Gesetze des Landes verbrochen haben magst. Was Du mit den Aktien und Obligationen, – oder was es sonst war, – was Du damit angefangen hast – das, glaub‘ mir, ist mir gleichgültig! Wär‘ es mir vergönnt gewesen, an Deiner Seite zu stehen, als alles über Dir zusammenstürzte –
Borkman gespannt. Was dann, Ella?
Ella. Glaub‘ mir, ich hätte es froh und freudig mit Dir getragen. Die Schande, den Ruin, – alles, alles hätte ich Dir tragen helfen –
Borkman. Dazu hättest Du den Willen gehabt? Und die Kraft?
Ella. Den Willen wie die Kraft. Denn damals kannte ich ja nicht Dein großes, furchtbares Verbrechen –
Borkman. Welches? Was meinst Du?
Ella. Ich meine das Verbrechen, für das es keine Vergebung gibt.
Borkman starrt sie an. Du mußt von Sinnen sein.
Ella tritt näher an ihn heran. Du bist ein Mörder! Du hast die große Todsünde begangen!
Borkman weicht in der Richtung des Klaviers zurück. Du rasest, Ella!
Ella. Du hast das Liebesleben in mir gemordet. Immer näher. Verstehst Du, was das heißt? Die Bibel redet von einer geheimnisvollen Sünde, für die es keine Vergebung gibt. Ich habe früher nie verstehen können, was darunter gemeint war. Jetzt verstehe ich es. Die große, unverzeihliche Sünde, – das ist die Sünde, die man begeht, wenn man das Liebesleben mordet in einem Menschen.
Borkman. Und das hätte ich getan?
Ella. Du hast es getan! Ich hatte eigentlich nie ein rechtes Bewußtsein von dem, was mir widerfahren war, – bis zum heutigen Abend. Daß Du mich sitzen ließest und dafür Dich Gunhild zuwandtest, – das nahm ich einfach für eine allgemeine Unbeständigkeit von Deiner Seite. Und für das Ergebnis ihrer herzlosen Kunstgriffe. Und ich glaube beinahe, ich verachtete Dich ein bißchen – trotz allem. – Aber jetzt sehe ich es! Du ließest das Weib sitzen, das Du liebtest! Mich, mich, mich! Was Dir das Teuerste war auf der Welt, das warst Du bereit zu veräußern, um des Vorteils willen. Das ist der zwiefache Mord, den Du auf dem Gewissen hast! Der Mord an Deiner eigenen Seele und der meinen!
Borkman kalt und sich beherrschend. Daran erkenne ich Deine leidenschaftliche, zügellose Gemütsart wieder, Ella! Es paßt Dir so, die Sache von diesem Gesichtspunkt aus zu betrachten. Du bist ja ein Weib. Und da willst Du denn von nichts anderm wissen, nichts anderes gelten lassen in der ganzen Welt.
Ella. Jawohl –, das will ich auch nicht.
Borkman. Bloß Deine eigene Herzensangelegenheit –
Ella. Bloß die! Bloß die! Da hast Du recht.
Borkman. Du darfst aber nicht vergessen, daß ich ein Mann bin. Als Weib warst Du für mich das Teuerste auf der Welt. Allein wenn es sein muß, so kann doch ein Weib durch ein anderes ersetzt werden –
Ella blickt ihn mit einem Lächeln an. Machtest Du die Erfahrung, als Du Gunhild zur Frau genommen hattest?
Borkman. Nein. Aber meine Lebensaufgaben halfen mir auch das ertragen. Alle Machtquellen dieses Landes wollte ich mir Untertan machen. Alles, was der Boden und die Berge und die Wälder und das Meer an Reichtümern bargen, – alles wollte ich mir unterwerfen, wollte mir selbst die Gewalt aneignen und dadurch Wohlstand schaffen für viele, viele tausend andere.
Ella in der Erinnerung verloren. Ich weiß. So manchen lieben Abend haben wir von Deinen Plänen gesprochen–
Borkman. Ja, mit Dir konnte ich das, Ella.
Ella. Ich scherzte über Deine Entwürfe und fragte, ob Du sie alle wecken wolltest, des Goldes schlummernde Geister.
Borkman nickt. Auf den Ausdruck besinne ich mich noch. Langsam. »Des Goldes schlummernde Geister«.
Ella. Du nahmst es aber nicht für Scherz. Du sagtest: ja, ja, Ella, das eben will ich.
Borkman. So war es auch. Hatte ich nur erst den Fuß im Bügel –. Und das hing damals von dem einen Mann ab. Er konnte und er wollte mir an der Bank die leitende Stellung verschaffen, – wenn ich meinerseits –
Ella. Richtig, ja! Wenn Du dafür auf das Weib verzichtetest, das Du lieb hattest, – und das Dich unsäglich wieder liebte.
Borkman. Ich kannte seine blinde Leidenschaft für Dich. Wußte, daß er unter keiner andern Bedingung –
Ella. Und da schlugst Du ein.
Borkman heftig. Ja, das tat ich, Ella! Denn schau‘, die Machtbegierde, die war unbezwinglich in mir! Und da schlug ich ein. Mußte einschlagen. Und er half mir halb und halb empor zu den verführerischen Höhen, wohin es mich zog. Und ich stieg und stieg. Jahr um Jahr stieg ich –
Ella. Und ich war wie ausgelöscht aus Deinem Leben.
Borkman. Und gleichwohl stürzte er mich wieder hinunter in den Abgrund. Um Deinetwillen, Ella.
Ella nach kurzem, gedankenvollem Schweigen. Borkman, – glaubst Du nicht, über unserm ganzen Verhältnis habe etwas wie ein Fluch gelastet?
Borkman blickt sie an. Ein Fluch?
Ella. Ja. Meinst Du nicht auch?
Borkman unruhig. Ja. Aber warum eigentlich –? Ungestüm. Ach, Ella, – ich weiß bald nicht mehr, wer recht hat, – ich oder Du!
Ella. Du bist es, der sich versündigt hat. Du hast alles Menschenglück in mir getötet.
Borkman angstvoll. Sag‘ das doch nicht, Ella!
Ella. Wenigstens alles Weibesglück. Von der Zeit an, da Dein Bild in mir zu erlöschen anfing, habe ich dahingelebt wie unter einer Sonnenfinsternis. In all diesen Jahren hat es mir mehr und mehr widerstrebt, – ein lebendes Geschöpf zu lieben, bis es mir schließlich ganz unmöglich wurde. Nicht Menschen, nicht Tiere noch Pflanzen. Nur einen einzigen –
Borkman. Wen –?
Ella. Erhard natürlich.
Borkman. Erhard –?
Ella. Erhard, – Deinen, Deinen Sohn, Borkman.
Borkman. War er Dir wirklich so sehr ans Herz gewachsen?
Ella. Warum hätte ich ihn denn sonst zu mir genommen? Und ihn behalten, solange ich nur konnte? Warum?
Borkman. Ich dachte, es wäre aus Barmherzigkeit geschehen. Wie alles andere.
Ella in heftiger innerer Erregung. Barmherzigkeit, sagst Du! Haha! Ich habe von keiner Barmherzigkeit etwas gewußt, – seit Du mich sitzen ließest. Ich konnte es einfach nicht. Kam einmal ein armes, ausgehungertes Kind in meine Küche, das fror und weinte und um ein bißchen Essen bat, so ließ ich die Köchin dafür sorgen. Nie fühlte ich den Drang, das Kind zu mir ins Zimmer zu nehmen, es an meinem eigenen Ofen zu erwärmen, mich zu weiden an dem Anblick, wie es sich satt essen durfte. Und so war ich doch in meiner Jugend nie gewesen; dessen erinnere ich mich ganz genau! Du trägst die Schuld, daß in mir die Öde und Leere einer Wüste herrschte – in mir und um mich herum!
Borkman. Nur für Erhard nicht.
Ella. Ja. Für Deinen Sohn nicht. Aber sonst für alles, alles, was da lebt und sich regt. Du hast mein Leben um die Freude und das Glück einer Mutter betrogen. Und auch um die Sorgen und Tränen einer Mutter. Und, siehst Du, das war für mich vielleicht der schwerste Verlust.
Borkman. So? Denkst Du, Ella?
Ella. Wer weiß? Mit den Sorgen und Tränen einer Mutter wäre mir vielleicht am meisten gedient gewesen. In wachsender Erregung. Ich konnte mich aber damals bei dem Verluste nicht in Geduld fassen! Und darum nahm ich Erhard zu mir. Gewann ihn ganz. Gewann mir sein armes, vertrauensvolles Kinderherz, – bis zu der Stunde, da –. O!
Borkman. Bis zu welcher Stunde?
Ella. Bis seine Mutter, – seine leibliche Mutter, meine ich, ihn mir wieder genommen hat.
Borkman. Er konnte wohl nicht länger bei Dir bleiben. Mußte wohl in die Stadt.
Ella ringt die Hände. Ja, Du, aber ich ertrage die Verlassenheit nicht! Die Öde! Ertrag‘ es nicht, das Herz Deines Sohnes verloren zu haben!
Borkman mit einem gehässigen Ausdruck in den Augen. Hm, – Du hast es sicherlich nicht verloren, Ella. Man verliert nicht leicht Herzen an jemand hier unten – in der Parterrewohnung.
Ella. Ich habe Erhard hier verloren. Und sie hat ihn zurückgewonnen. Oder auch eine andere. Das geht deutlich genug aus den Briefen hervor –, die er mir dann und wann schreibt.
Borkman. Du bist also gekommen, um ihn zurückzuholen?
Ella. Ja, wenn sich das nur machen ließe –!
Borkman. Machen läßt sich’s schon, wenn Du durchaus willst. Denn Du hast ja den größten und ersten Anspruch auf ihn.
Ella. Ach, Anspruch, Anspruch! Was gilt denn hier ein Anspruch? Kommt er nicht aus eigenem Antrieb, – so habe ich ihn gar nicht. Und das eben muß ich! Ganz und ungeteilt muß ich jetzt das Herz meines Kindes haben!
Borkman. Du darfst nicht vergessen, daß Erhard schon in den Zwanzigern ist. Lange würdest Du wohl nicht darauf rechnen können, sein Herz ungeteilt zu besitzen, wie Du Dich ausdrückst.
Ella mit einem trüben Lächeln. Es brauchte auch nicht gar so lange zu sein.
Borkman. Nicht? Ich dachte, was Du beanspruchst, das beanspruchtest Du bis ans Ende Deiner Tage.
Ella. Das tue ich auch. Aber darum braucht es nicht so lange zu dauern.
Borkman betroffen. Was soll das heißen?
Ella. Du weißt doch wohl, daß ich kränklich gewesen bin die ganzen letzten Jahre?
Borkman. So?
Ella. Weißt Du das nicht?
Borkman. Nein, eigentlich nicht –
Ella blickt ihn überrascht an. Hat Dir Erhard das nicht erzählt?
Borkman. Kann mich wahrhaftig im Augenblick nicht besinnen.
Ella. Er hat vielleicht überhaupt nie von mir gesprochen?
Borkman. Doch, gesprochen hat er von Dir, das glaube ich wohl. Übrigens sehe ich ihn selten. Fast nie. Dort unten ist jemand, der ihn von mir fern hält. Fern, fern, verstehst Du.
Ella. Weißt Du das so gewiß, Borkman?
Borkman. Ganz sicher. In verändertem Ton. Also, Du bist kränklich gewesen, Ella?
Ella. Ja, das bin ich. Und in diesem Herbst nahm das Übel so sehr zu, daß ich hierher mußte, um mit erfahrenen Ärzten zu sprechen.
Borkman. Und hast am Ende schon mit ihnen gesprochen?
Ella. Ja, heute vormittag.
Borkman. Und was haben sie gesagt?
Ella. Sie haben mir volle Gewißheit gegeben über das, was ich schon längst geahnt hatte –
Borkman. Nun?
Ella schlicht und ruhig. Ich leide an einer tödlichen Krankheit, Borkman.
Borkman. Ach, glaub‘ doch so etwas nicht, Ella!
Ella. Es ist eine Krankheit, Du, für die es nicht Hilfe noch Heilung gibt. Die Ärzte wissen kein Mittel gegen sie. Sie müssen dem Übel seinen Lauf lassen. Können nichts tun, es aufzuhalten. Nur etwas Linderung können sie vielleicht schaffen. Und das ist ja noch ein Glück.
Borkman. Ach, das kann noch lange dauern, – glaube mir.
Ella. Es kann möglicherweise noch den Winter über dauern, sagte man mir.
Borkman, ohne sich etwas dabei zu denken. Na ja, der Winter, – der ist doch lang.
Ella leise. Wenigstens ist er lang genug für mich.
Borkman eifrig, ablenkend. Woher in aller Welt hast Du aber die Krankheit nur bekommen? Du hast doch sicherlich ein gesundes und regelmäßiges Leben geführt!? Wie hast Du Dir nur so etwas zugezogen?
Ella blickt ihn an. Die Ärzte meinten, ich hätte vielleicht einmal eine starke Gemütserschütterung gehabt.
Borkman aufbrausend. Gemütserschütterung! Aha, ich verstehe! Daran soll ich schuld sein!
Ella in wachsender, innerer Erregung. Das zu untersuchen, dazu ist es jetzt zu spät! Aber ich muß mein Herzblatt von Kind wieder haben, ehe ich von hinnen gehe. Es ist für mich ein so unsagbar trauriger Gedanke, daß ich von allem scheiden soll, was da lebt, – von Sonne und Luft und Licht scheiden soll, ohne hier ein einziges Wesen zurückzulassen, das meiner gedächte, das mich in warmer und wehmütiger Erinnerung behielte, – so, wie ein Sohn der Mutter gedenkt, die er verloren hat.
Borkman nach einer kurzen Pause. Nimm ihn, Ella, – wenn Du ihn erringen kannst.
Ella lebhaft. Willigst Du ein? Kannst Du das?
Borkman finster. Ja. Und es ist auch kein so großes Opfer. Denn ich besitze ihn ja doch nicht.
Ella. Dennoch dank‘ ich Dir von Herzen für das Opfer! – Nun habe ich aber noch eine Bitte. In meinen Augen eine große Bitte, Borkman.
Borkman. Na, so sag‘ es nur.
Ella. Du wirst es vielleicht kindisch von mir finden, – es nicht einmal verstehen –
Borkman. So sag‘ es nur, – sag‘ es!
Ella. Wenn ich tot bin – und lange dauert es ja nicht mehr – so hinterlasse ich ein nicht unbedeutendes Vermögen –
Borkman. Das kann ich mir denken.
Ella. Und es ist meine Absicht, Erhard alles zu vermachen.
Borkman. Es steht Dir ja auch niemand näher.
Ella mit Wärme. Nein, – es steht mir wahrlich niemand näher als er.
Borkman. Niemand aus Deiner eigenen Familie. Du bist die Letzte.
Ella nickt langsam. Das ist es gerade. Wenn ich sterbe, – so stirbt auch der Name Rentheim aus. Und dieser Gedanke peinigt mich so sehr. Ausgelöscht aus dem Dasein – und der Name mit –
Borkman fährt auf. Aha, – ich sehe, wo Du hinauswillst!
Ella leidenschaftlich. Laß das nicht zu! Laß Erhard den Namen tragen als mein Erbe!
Borkman blickt sie mit Härte an. Ich verstehe Dich. Du willst meinen Sohn davon erlösen, den Namen seines Vaters tragen zu müssen. So liegt die Sache.
Ella. Nimmermehr! Ich selbst hätte ihn trotzig und freudig getragen zusammen mir Dir! Aber eine Mutter, die bald sterben wird –. Ein Name ist ein festeres Band, als Du Dir wohl vorstellst, Borkman.
Borkman kalt und stolz. Schön, Ella. Ich bin Manns genug, meinen Namen allein zu tragen.
Ella ergreift seine Hände und drückt sie. Dank, Dank! Jetzt haben wir restlos miteinander abgerechnet! Ja, ja, laß nur! Du hast wieder gutgemacht, was Du gutmachen konntest. Denn wenn ich aus dem Leben bin, so überlebt mich Erhard Rentheim!
Die Tapetentür wird aufgerissen. Frau Borkman, das große Tuch über den Kopf geworfen, steht in der Türöffnung.
Frau Borkman in furchtbarer Erregung. Nie und nimmermehr soll Erhard so heißen!
Ella prallt zurück. Gunhild!
Borkman hart und drohend. Niemand hat von mir die Erlaubnis, mein Zimmer zu betreten.
Frau Borkman macht einen Schritt in den Saal. Ich nehme mir die Erlaubnis.
Borkman ihr entgegen. Was willst Du von mir?
Frau Borkman. Ich will für Dich kämpfen und streiten. Dich verteidigen gegen die bösen Mächte.
Ella. Die bösesten Mächte, die sind in Dir selbst, Gunhild!
Frau Borkman hart. Davon ist nicht die Rede. Drohend, mit aufgehobenem Arm. Das aber sage ich Euch, – seines Vaters Namen soll er tragen! Und stolz soll er ihn tragen und ihn wieder zu Ehren bringen! Und ich allein will seine Mutter sein! Ich allein! Mir soll das Herz meines Sohnes gehören. Mir und keiner anderen.
Ab durch die Tapetentür, die sie hinter sich zumacht.
Ella erschüttert und mitgenommen. Borkman, – Erhard wird zugrunde gehen in diesen Stürmen. Es muß zu einer Verständigung kommen zwischen Dir und Gunhild. Wir müssen gleich zu ihr hinunter.
Borkman blickt sie an. Wir? Du meinst, ich auch?
Ella. Wir alle beide.
Borkman schüttelt den Kopf. O, sie ist hart. Hart wie das Erz, das dem Bergesschacht zu entreißen einst mein Traum war.
Ella. So versuch‘ es jetzt!
Borkman steht, ohne zu antworten, da und blickt sie unschlüssig an.
Dritter Akt
Frau Borkmans Wohnzimmer. Die Lampe auf dem Kanapeetisch brennt noch immer. Im Gartenzimmer ist es finster.
Frau Borkman, das Tuch über den Kopf geworfen, tritt in heftiger innerer Erregung durch die Entreetür ein, geht ans Fenster und zieht die Vorhänge ein wenig zurück, darauf geht sie zum Ofen hin und setzt sich, springt aber bald wieder auf und zieht die Klingel. Sie bleibt am Kanapee stehen und wartet eine Weile. Niemand erscheint. Sie klingelt wieder, diesmal heftiger.
Bald darauf kommt das Stubenmädchen vom Hausflur herein. Sie macht einen verdrossenen, schlaftrunkenen Eindruck und sieht aus, als ob sie sich in aller Eile in die Kleider geworfen habe.
Frau Borkman ungeduldig. Wo stecken Sie denn, Malene? Ich habe schon zweimal geklingelt!
Das Stubenmädchen. Hab‘ es schon gehört, gnädige Frau.
Frau Borkman. Und doch kommen Sie nicht.
Das Stubenmädchen mürrisch. Na, ich habe mich doch erst ein bißchen anziehen müssen.
Frau Borkman. Ja, ziehen Sie sich ordentlich an. Und dann laufen Sie rasch und holen Sie meinen Sohn.
Das Stubenmädchen blickt sie erstaunt an. Den Herrn Studiosus soll ich holen?
Frau Borkman. Ja. Sagen Sie ihm nur, er möchte gleich herkommen; ich hätte mit ihm zu reden.
Das Stubenmädchen maulend. Dann ist es wohl das Beste, ich wecke beim Verwalter drüben den Kutscher.
Frau Borkman. Warum das?
Das Stubenmädchen. Damit er den Schlitten anspannt. So ’n scheußliches Schneewetter, wie heut nacht ist.
Frau Borkman. Ach, das tut nichts. Beeilen Sie sich nur und gehen Sie! Es ist ja hier gleich um die Ecke.
Das Stubenmädchen. Aber gnädige Frau, gleich um die Ecke ist das doch nicht.
Frau Borkman. Ach freilich. Wissen Sie denn nicht, wo die Villa Hinkel liegt?
Das Stubenmädchen anzüglich. Ach so, – da ist der Herr Studiosus heut abend?
Frau Borkman betroffen. Ja, wo sollte er denn sonst sein?
Das Stubenmädchen lächelt. Na, ich meinte bloß, er wäre da, wo er gewöhnlich ist.
Frau Borkman. Wo, meinen Sie?
Das Stubenmädchen. Bei dieser Frau Wilton oder wie sie heißt.
Frau Borkman. Bei Frau Wilton? Zu der pflegt doch mein Sohn nicht so oft zu gehen.
Das Stubenmädchen halb murmelnd. Ich habe von den Leuten gehört, er kommt jeden lieben Tag hin.
Frau Borkman. Das ist lauter dummes Zeug, Malene. Jetzt laufen Sie nur zu Hinkels hinüber und sehen Sie zu, daß Sie ihn sprechen können.
Das Stubenmädchen wirft den Kopf in den Nacken. Gott im Himmel, ja – ich gehe schon.
Sie schickt sich an, durch den Flur hinauszugehen. In demselben Augenblick öffnet sich die Eingangstür. Ella Rentheim und Borkman erscheinen auf der Schwelle.
Frau Borkman wankt einen Schritt zurück. Was soll das bedeuten?
Das Stubenmädchen, erschrocken, faltet unwillkürlich die Hände. Jessus! Jessus!
Frau Borkman flüstert dem Mädchen zu: Sagen Sie ihm, er möchte augenblicklich herkommen!
Das Stubenmädchen leise. Schön, gnädige Frau.
Ella und nach ihr Borkman treten ins Zimmer. Das Stubenmädchen schleicht sich hinter ihnen hinaus und macht die Tür hinter sich zu.
Kurze Pause.
Frau Borkman, die ihre Fassung wiederfindet, wendet sich zu Ella. Was will er hier unten bei mir?
Ella. Er will versuchen, mit Dir zu einer Verständigung zu gelangen, Gunhild.
Frau Borkman. Den Versuch hat er noch nie gemacht.
Ella. Er will es jetzt.
Frau Borkman. Das letzte Mal, daß wir uns gegenüber standen, – das war vor Gericht. Als ich vorgeladen war, um auszusagen –
Borkman nähert sich. Und heute bin ich es, der auszusagen hat.
Frau Borkman blickt ihn an. Du!
Borkman. Nicht über meine Vergehungen. Denn die kennt ja die ganze Welt.
Frau Borkman mit einem bitteren Seufzer. Ja, das ist ein wahres Wort. Die ganze Welt kennt sie.
Borkman. Aber sie weiß nicht, warum ich mich vergangen habe. Warum ich mich vergehen mußte. Die Menschen begreifen nicht, daß ich das mußte, weil ich eben ich war, – weil ich John Gabriel Borkman war, – und nicht ein anderer. Und Dir darüber Aufschluß zu geben, das will ich jetzt versuchen.
Frau Borkman schüttelt den Kopf. Nützt nichts. Antriebe sprechen nicht frei. Und Eingebungen auch nicht.
Borkman. Vor sich selbst können sie den Menschen freisprechen.
Frau Borkman macht eine abwehrende Handbewegung. Ach, laß doch das! Ich habe mehr als genug nachgedacht über diese Deine dunkeln Geschichten.
Borkman. Ich auch. Während der fünf endlosen Jahre in der Zelle – und anderswo – hatte ich Zeit dazu. Und in den acht Jahren oben auf dem Saal hatte ich noch mehr Zeit. Ich habe den ganzen Rechtsfall wieder aufgenommen, zu erneuter Prüfung – vor mir selber. Zu wiederholten Malen habe ich ihn wieder aufgenommen. Ich bin mein eigener Ankläger gewesen, mein eigener Verteidiger und mein eigener Richter. Unparteiischer als sonst irgend ein anderer, – das darf ich wohl sagen. Im Saale da oben bin ich hin und her gegangen und habe prüfend jede meiner Handlungen nach allen Seiten gedreht und gewendet. Habe sie von vorn betrachtet und von hinten – ebenso schonungslos, ebenso unbarmherzig wie nur ein Advokat. Und der Rechtsspruch, zu dem ich immer wieder komme, lautet so: der einzige, gegen den ich mich vergangen habe, – das bin ich selbst.
Frau Borkman. Und gegen mich etwa nicht? Nicht gegen Deinen Sohn?
Borkman. Du und er, Ihr seid mit einbegriffen, wenn ich von meiner Person rede.
Frau Borkman. Und die vielen hundert andern? Die Du ruiniert haben sollst, wie die Leute sagen?
Borkman heftiger. Ich hatte die Macht! Und dann das unbezwingbare Gebot in meinem Innern! Da lagen die gefesselten Millionen übers ganze Land, in der Bergestiefe, und riefen nach mir! Schrieen zu mir um Befreiung! Keiner von all den andern hörte es. Nur ich allein.
Frau Borkman. Ja, zu Schimpf und Schande des Namens Borkman.
Borkman. Ich möchte nur wissen, ob die andern, wenn sie die Macht gehabt hätten, nicht genau so gehandelt hätten wie ich.
Frau Borkman. Keiner, keiner außer Dir hätte es getan!
Borkman. Vielleicht. Doch nur deshalb nicht, weil sie nicht meine Fähigkeiten besaßen. Und hätten sie es getan, so hätten sie eben bei ihrem Tun meine Zwecke nicht vor Augen gehabt. Die Tat wäre dann eine andere geworden. – Kurz und gut, – ich habe mich selbst freigesprochen.
Ella weich und bittend. Darfst Du das aber auch so zuversichtlich sagen, Borkman?
Borkman nickt. Ich habe mich freigesprochen in dem Punkte. Nun aber kommt die große, erdrückende Selbstanklage.
Frau Borkman. Und die wäre?
Borkman. Da oben bin ich herumgegangen und habe volle acht kostbare Jahre meines Lebens vergeudet! Denselben Tag, da ich freikam, hätte ich hinaustreten sollen in die Wirklichkeit, – hinaus in die Wirklichkeit, die hart wie das Eisen ist und das Träumen nicht kennt! Ich hätte von unten wieder anfangen und mich von neuem emporschwingen sollen hinauf zu den Höhen, – und höher hinauf als je zuvor, – allem, was dazwischen lag, zum Trotze.
Frau Borkman. Ach, das wäre nur ganz dasselbe Leben wieder geworden wie früher, – glaube mir.
Borkman schüttelt den Kopf und sieht sie belehrend an. Es geschieht nichts Neues. Aber was geschehen ist, – das wiederholt sich auch nicht. Das Auge ist’s, was die Taten wandelt. Das neugeborene Auge wandelt die alte Tat. Abbrechend. Aber das verstehst Du nicht.
Frau Borkman kurz. Allerdings nicht.
Borkman. Ja, das eben ist der Fluch, daß ich bei keiner Menschenseele je Verständnis gefunden habe.
Ella blickt ihn an. Bei keiner, Borkman?
Borkman. Vielleicht bei einer ausgenommen. Vor langer, langer Zeit. In den Tagen, da ich keines Verständnisses zu bedürfen glaubte. Sonst, später, bei gar niemand! Ich habe keinen gehabt, der voll Wachsamkeit und immer in Bereitschaft gewesen wäre, mich zu rufen, – mir zu läuten wie eine Morgenglocke, – mich wieder aufzumuntern zu fröhlicher Arbeit –. Und dann mir beizubringen, daß ich nichts verübt hätte, was nicht wieder gutzumachen wäre.
Frau Borkman lacht spöttisch. So, das muß Dir also doch von andern beigebracht werden?
Borkman zornentflammt. Jawohl, wenn die ganze Welt im Chorus mir entgegenkläfft, ich sei ein unrettbar verlorener Mann, so können wohl Augenblicke über mich kommen, wo ich nahe daran bin, es selbst zu glauben. Richtet den Kopf in die Höhe. Dann kommt aber mein innerstes Bewußtsein wieder siegreich nach oben. Und das spricht mich frei!
Frau Borkman sieht ihn mit Härte an. Warum bist Du nie gekommen, um bei mir das zu suchen, was Du Verständnis nennst?
Borkman. Hätte das genützt, – wenn ich zu Dir gekommen wäre?
Frau Borkman macht eine abwehrende Handbewegung. Du hast immer nur Dich selbst geliebt, – das ist die ganze Geschichte.
Borkman stolz. Ich habe die Macht geliebt –
Frau Borkman. Die Macht, ja!
Borkman. – die Macht, Menschenglück zu schaffen weit, weit um mich her!
Frau Borkman. Es stand einmal in Deiner Macht, mich glücklich zu machen. Hast Du sie dazu verwendet?
Borkman, ohne sie anzusehen. Eins muß gewöhnlich unterliegen – bei einem Schiffbruch.
Frau Borkman. Und Dein eigener Sohn! Hast Du Deine Macht dazu verwendet – oder hast Du dafür gelebt und geatmet, ihn glücklich zu machen?
Borkman. Ihn kenne ich nicht.
Frau Borkman. Ja, das ist wahr. Du kennst ihn nicht einmal.
Borkman mit Härte. Dafür hast Du, – Du, seine Mutter, gesorgt.
Frau Borkman blickt ihn an und sagt mit Hoheit im Ausdruck: O, Du weißt nicht, wofür ich gesorgt habe!
Borkman. Du?
Frau Borkman. Ja, ich. Ich allein.
Borkman. So sag‘ es doch.
Frau Borkman. Für Dein Andenken habe ich gesorgt.
Borkman mit kurzem, trockenem Lachen. Für mein Andenken? Sieh mal an! Das klingt ja beinah, als ob ich schon tot wäre.
Frau Borkman mit Nachdruck. Das bist Du auch.
Borkman langsam. Da hast Du vielleicht recht. Auffahrend. Aber nein, nein! Noch nicht! Ich war nahe, sehr nahe daran. Aber jetzt bin ich erwacht. Bin wieder munter geworden. Noch liegt das Leben vor mir. Ich sehe es, dieses neue, schimmernde Leben, das da gärt und harrt –. Und auch Du wirst es noch zu sehen bekommen.
Frau Borkman mit erhobener Hand. Träume Du nicht mehr vom Leben! Bleib ruhig, wo Du liegst!
Ella empört. Gunhild! Gunhild,–wie kannst Du nur –!
Frau Borkman, ohne auf sie zu achten. Ich will das Denkmal errichten über dem Grabe.
Borkman. Die Schandsäule, meinst Du wohl?
Frau Borkman in wachsender Erregung. O nein, kein Denkmal von Stein oder Metall soll es werden. Und niemand soll eine höhnende Inschrift in dieses Denkmal eingraben dürfen, das ich errichte. Es soll sein wie ein Gehege, wie ein natürlicher Zaun von Bäumen und Büschen, dicht, ganz dicht gepflanzt um Dein Grabesleben. Verdecken soll es alles Dunkle, das einmal war. Und vor den Augen der Menschen Vergessenheit breiten über John Gabriel Borkman!
Borkman mit heiserer und schneidender Stimme. Und dieses Liebeswerk willst Du üben?
Frau Borkmann. Nicht durch eigene Kraft. Daran darf ich nicht denken. Aber ich habe mir einen Helfer auferzogen, daß er sein Leben einsetze für dieses Eine. Er soll ein Leben führen in Reinheit und Hoheit und lichtem Glanz, so daß Dein eigenes Leben unter dem Tage getilgt ist aus der Erinnerung der Menschen!
Borkman finster und drohend. Wenn Du Erhard meinst, so sag‘ es nur gleich!
Frau Borkman sieht ihm fest in die Augen. Ja, Erhard ist es. Mein Sohn. Er, auf den Du Verzicht leisten willst – als Sühne für Deine eigenen Taten.
Borkman mit einem Blick auf Ella. Als Sühne für meine schwerste Schuld.
Frau Borkman absprechend. Für das, was Du an einer Fremden verschuldet hast. Denk an das, was Du an mir verschuldet hast! Blickt beide triumphierend an. Aber er gehorcht Euch nicht! Wenn ich ihn rufe in meiner Not, dann kommt er! Denn bei mir will er sein! Bei mir und bei niemand sonst – hält lauschend inne und ruft aus: Da hör‘ ich ihn! Da ist er, – da ist er! Erhard!
Erhard Borkman reißt eilig die Entreetür auf und tritt ins Zimmer. Er hat den Überzieher an und den Hut auf dem Kopf.
Erhard bleich und ängstlich. Aber Mutter, – um Gotteswillen, was –!
Er erblickt Borkman, der an der Türöffnung zum Gartenzimmer steht, fährt zusammen und nimmt den Hut ab.
Erhard schweigt eine Weile; dann fragt er: Was willst Du von mir, Mutter? Was ist hier vorgefallen?
Frau Borkman breitet die Arme nach ihm aus. Ich will Dich sehen, Erhard! Du sollst bei mir sein – immer!
Erhard stammelnd. Bei Dir –? Immer! Was meinst Du damit?
Frau Borkman. Dich haben, Dich haben will ich! Denn da ist jemand, der Dich mir nehmen will!
Erhard prallt einen Schritt zurück. Ah, – Du weißt also!
Frau Borkman. Gewiß. Weißt Du es auch?
Erhard stutzt und sieht sie an. Ob ich es weiß? Ja, natürlich –
Frau Borkman. Aha, ein abgekartetes Spiel! Hinter meinem Rücken! Erhard, Erhard!
Erhard schnell. Mutter, sag‘ mir, was weißt Du?
Frau Borkman. Ich weiß alles. Ich weiß, daß Deine Tante hier ist, um Dich mir abspenstig zu machen.
Erhard. Tante Ella!
Ella. So hör‘ nur mich erst einen Augenblick!
Frau Borkman fortfahrend. Sie wünscht, ich soll Dich an sie abtreten. Sie will Dir Mutter sein, Erhard! Du sollst ihr Sohn sein und nicht meiner fortan mehr. Du sollst alles erben, was sie besitzt. Deinen Namen ablegen und den ihren annehmen!
Erhard. Tante Ella, ist das wahr?
Erhard. Keine Silbe habe ich davon bis jetzt gewußt. Warum willst Du mich denn wieder bei Dir haben?
Ella. Weil ich fühle, daß ich Dich hier verliere.
Frau Borkman mit Härte. Durch mich verlierst Du ihn, – jawohl! Und das ist nur in der Ordnung.
Ella sieht ihn bittend an. Erhard, ich darf Dich jetzt nicht verlieren. Denn Du mußt wissen, daß ich ein einsamer, – sterbender Mensch bin.
Erhard. Sterbender –?
Ella. Ja, ein sterbender Mensch. Willst Du bei mir bleiben bis zum letzten Augenblick? Dich ganz an mich anschließen? Mir sein wie ein leiblich Kind –
Frau Borkman unterbricht sie. – und Deine Mutter im Stich lassen und Deine Lebensaufgabe vielleicht auch? Willst Du das, Erhard?
Ella. Es ist mir bestimmt, daß ich bald sterbe. – Antworte mir, Erhard.
Erhard bewegt und mit Wärme. Tante Ella, – Du bist unsagbar gut zu mir gewesen. In Deinem Hause habe ich aufwachsen dürfen in einem so sorglosen Glücksgefühl, wie es schöner dem Leben keines Kindes beschert sein kann –
Frau Borkman. Erhard, Erhard!
Ella. Ach, wie das wohltut, daß Du immer noch so denkst!
Erhard. – aber ich kann mich jetzt nicht für Dich opfern. Es ist mir unmöglich, Dir ein Sohn zu sein und in einem solchen Dasein ganz aufzugehen –
Frau Borkman triumphierend. O, ich wußt‘ es wohl! Du bekommst ihn nicht! Du bekommst ihn nicht, Ella!
Ella schwermütig. Ich seh‘ es. Du hast ihn zurückerobert.
Frau Borkman. Ja, ja, – mein ist er und mein bleibt er! Erhard! – nicht wahr, Du, – wir beide, wir werden noch eine gute Strecke Weges zusammen gehen.
Erhard mit sich selber kämpfend. Mutter, – ich sag‘ es lieber gerade heraus –
Frau Borkman gespannt. Nun?
Erhard. Die Strecke Weges, Mutter, die wir zusammen gehen, wird wohl nur kurz sein.
Frau Borkman steht da wie vom Schlag gerührt. Was soll das heißen?
Erhard ermannt sich. Lieber Gott, Mutter, – ich bin doch jung! Mir ist, als müßte ich in der Stubenluft hier noch rein ersticken.
Frau Borkman. Hier – bei mir!
Erhard. Ja, hier bei Dir, Mutter!
Ella. So geh mit mir, Erhard!
Erhard. Ach, Tante Ella, es ist um kein Haar besser bei Dir. Anders ist es da. Aber darum nicht besser. Nicht besser für mich. Nach Rosen und Lavendel riecht es, – Stubenluft dort wie hier!
Frau Borkman erschüttert, aber mit erkämpfter Fassung. Stubenluft bei Deiner Mutter, sagst Du!
Erhard mit wachsender Ungeduld. Ja, ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll. Diese ganze krankhafte Fürsorge und – und Vergötterung – oder was es sonst sein mag. Ich halt‘ es nicht länger aus!
Frau Borkman sieht ihn mit tiefem Ernst an. Vergißt Du die Aufgabe, der Du Dein Leben geweiht hast, Erhard?
Erhard ungestüm. Ach, sag‘ doch lieber: der Du mein Leben geweiht hast! Du, Du bist mein Wille gewesen! Selber habe ich nie einen haben dürfen! Aber ich kann dieses Joch jetzt nicht länger ertragen! Ich bin jung! Bedenke das doch, Mutter! Mit einem höflichen, rücksichtsvollen Blick auf Borkman. Ich kann nicht mein Leben einsetzen, um die Schuld eines andern zu sühnen. Dieser andere sei, wer er mag.
Frau Borkman, von wachsender Angst erfaßt. Wer hat Dich so verwandelt, Erhard?
Erhard betroffen. Wer –? Könnte ich es denn nicht selbst sein, der –?
Frau Borkman. Nein, nein, nein! Du bist unter fremde Einwirkungen geraten. Deine Mutter hat keinen Einfluß mehr auf Dich. Und auch nicht Deine – Deine Pflegemutter.
Erhard in erzwungenem Trotz. Ich stehe unter meinem eigenen Einfluß, Mutter! Und auch unter der Kraft meines eigenen Willens!
Borkman nähert sich Erhard. Dann ist vielleicht auch meine Stunde endlich einmal gekommen.
Erhard kühl und mit abgemessener Höflichkeit. Wie –? Wie meint Vater das?
Frau Borkman spöttisch. Ja, das möchte ich wirklich auch wissen.
Borkman unbeirrt fortfahrend. Höre, Erhard, – möchtest Du denn nicht mit Deinem Vater gehen? Durch den Lebenswandel eines andern kann nicht einem Menschen aufgeholfen werden, der zu Fall gekommen ist. Das sind alles leere Träume, die man Dir vorgefabelt hat – hier unten in der Stubenluft. Auch wenn Du ein Leben führtest wie alle Heiligen zusammengenommen, – es würde mir nicht das geringste nützen.
Erhard mit abgemessener Ehrerbietung. Ein sehr wahres Wort.
Borkman. Jawohl. Und ebensowenig würde es nützen, wenn ich so hinvegetieren wollte in Reue und Zerknirschung. Mit Träumen und Hoffnungen habe ich versucht mir durchzuhelfen – in allen diesen Jahren. Aber so etwas ist nicht meine Sache. Und jetzt will ich heraus aus den Träumen.
Erhard mit einer leichten Verbeugung. Und was will – was will Vater demnach tun?
Borkman. Mich aufraffen will ich. Wieder von vorn anfangen. Nur durch seine Gegenwart und durch seine Zukunft kann der Mensch seine Vergangenheit sühnen. Durch Arbeit, – durch unablässige Arbeit für all das, was in der Jugend mir vor Augen stand, als wär‘ es das Leben selbst. Aber jetzt in tausendmal höherem Maße als damals. Erhard, – willst Du mit mir sein und mir helfen in diesem neuen Leben?
Frau Borkman erhebt warnend die Hand. Tu es nicht, Erhard!
Ella mit Wärme. Doch, doch, tu es. Hilf ihm, Erhard!
Frau Borkman. Und das rätst Du ihm? Die Einsame, – die Sterbende!
Ella. Mit mir mag es gehen, wie es will.
Frau Borkman. Wenn nur ich es nicht bin, die ihn Dir nimmt.
Ella. Nun ja, Gunhild.
Borkman. Willst Du, Erhard?
Erhard in peinlicher Verlegenheit. Vater, – ich kann nicht mehr. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Borkman. Aber was willst Du denn eigentlich?
Erhard auflodernd. Ich bin jung! Ich will auch einmal leben! Mein eigenes Leben will ich leben!
Ella. Nicht einmal ein paar kurze Monate willst Du opfern, um ein armes, erlöschendes Menschendasein zu erhellen?
Erhard. Tante, ich kann nicht, so gern ich auch wollte.
Ella. Auch nicht einem Wesen zuliebe, das Dir so unsäglich gut ist?
Erhard. So wahr ich lebe, Tante, – ich kann es nicht.
Frau Borkman faßt ihn scharf ins Auge. Und auch Deine Mutter kann Dich nicht mehr halten?
Erhard. Ich werde Dich immer lieb haben, Mutter. Aber ich kann fortan nicht mehr für Dich allein leben. Denn das hier ist für mich kein Leben.
Borkman. Nun so komm und schließ Dich doch mir an. Denn leben heißt arbeiten, Erhard. Komm, laß uns Hand in Hand ins Leben hinauswandern und arbeiten!
Erhard leidenschaftlich. Aber ich will jetzt nicht arbeiten! Denn ich bin jung! Bis heute habe ich nicht gewußt, daß ich es bin. Aber jetzt fühle ich, wie es mich durchglüht! Ich will nicht arbeiten! Nur leben, leben, leben!
Frau Borkman ruft ahnungsvoll aus: Erhard, – wofür willst Du leben?
Erhard mit funkelnden Augen. Für das Glück, Mutter!
Frau Borkman. Und wo glaubst Du das zu finden?
Erhard. Ich habe es schon gefunden!
Frau Borkman schreit auf. Erhard –!
Erhard geht rasch zur Eingangstür und öffnet sie.
Erhard ruft hinaus: Fanny, – jetzt kannst Du kommen!
Frau Wilton, im Mantel, erscheint auf der Schwelle.
Frau Borkman mit erhobenen Händen. Frau Wilton –!
Frau Wilton ein wenig scheu, mit einem fragenden Blick auf Erhard. Ich darf also –?
Erhard. Ja, jetzt kannst Du kommen. Ich habe alles gesagt.
Frau Wilton tritt ins Zimmer. Erhard schließt die Tür hinter ihr zu. Sie macht eine abgemessene Verbeugung vor Borkman, der schweigend ihren Gruß erwidert.
Kurze Pause.
Frau Wilton mit gedämpfter, aber fester Stimme. Das Wort ist also gesprochen. Und ich begreife recht wohl, daß ich hier angesehen werde wie eine, die im Haus ein großes Unglück angerichtet hat.
Frau Borkman langsam, indem sie sie starr anblickt. Sie haben den letzten Rest von dem vernichtet, wofür ich noch leben konnte. Ungestüm. Aber das, – das ist ja doch ganz unmöglich!
Frau Wilton. Ich verstehe sehr wohl, daß es Ihnen unmöglich erscheinen muß, Frau Borkman.
Frau Borkman. Sie müssen sich doch selbst sagen können, daß es unmöglich ist. Oder wie –?
Frau Wilton. Ich möchte eher sagen, es sei ganz widersinnig. Aber es ist nun einmal so.
Frau Borkman wendet sich an Erhard. Ist das Dein voller Ernst, Erhard?
Erhard. Es ist für mich das Glück, Mutter. Das ganze große, herrliche Lebensglück. Weiter kann ich nichts sagen.
Frau Borkman zu Frau Wilton, indem sie die Hände zusammenpreßt. Ach, wie haben Sie meinen unglücklichen Sohn betört und verführt.
Frau Wilton wirft stolz den Kopf in den Nacken. Das habe ich nicht getan.
Frau Borkman. Sie hätten das nicht getan, sagen Sie?!
Frau Wilton. Nein. Ich habe ihn weder betört noch verführt. Aus eigenem Antrieb ist Erhard mir näher getreten. Und aus eigenem Antrieb bin ich ihm auf halbem Wege entgegengekommen.
Frau Borkman mißt sie mit einem verächtlichen Blick. Sie, ja! Das glaube ich gern.
Frau Wilton beherrscht sich. Frau Borkman, – über dem Menschenleben walten Mächte, die Sie nicht sonderlich gut zu kennen scheinen.
Frau Borkman. Was für Mächte, wenn ich fragen darf?
Frau Wilton. Die Mächte, die zweien Menschen gebieten, ihren Lebensweg untrennbar – und rücksichtslos zu vereinen.
Frau Borkman lächelt. Ich dachte, Sie wären schon untrennbar vereint – mit einem andern.
Frau Wilton kurz. Jener andere hat mich verlassen.
Frau Borkman. Aber er lebt doch, sagt man.
Frau Wilton. Für mich ist er tot.
Erhard eindringlich. Ja, Mutter, für Fanny ist er tot. Und was geht mich überhaupt dieser andere an!
Frau Borkman wirft ihm einen strengen Blick zu. Du kennst sie also, – diese Geschichte mit dem andern?
Erhard. Ja, Mutter, ich kenne sie von Anfang bis Ende.
Frau Borkman. Und doch sagst Du, sie ginge Dich nichts an!
Erhard in abweisendem Übermut. Ich weiß nur das eine, daß ich glücklich sein will! Ich bin jung! Ich will leben, leben, leben!
Frau Borkman. Ja, Du bist jung, Erhard. Zu jung für dergleichen.
Frau Wilton ernst und nachdrücklich. Glauben Sie nur, Frau Borkman, ich habe ihm genau dasselbe gesagt. Meine ganzen Lebenverhältnisse habe ich ihm dargelegt. Immer wieder habe ich ihm vorgestellt, daß ich volle sieben Jahre älter bin als er –
Erhard unterbricht sie. Aber, Fanny, – das war mir ja längst bekannt.
Frau Wilton. – aber nichts, – nichts hat gefruchtet.
Frau Borkman. So? Wirklich nicht? Warum haben Sie ihn denn nicht ohne weiteres abgewiesen? Ihm Ihr Haus verboten? Sehen Sie, das hätten Sie rechtzeitig tun sollen!
Frau Wilton blickt sie an und sagt mit gedämpfter Stimme. Das konnte ich einfach nicht, Frau Borkman.
Frau Borkman. Warum konnten Sie nicht?
Frau Wilton. Weil auch für mich nur in diesem Einen, diesem Einzigen das Glück sich verkörperte.
Frau Borkman geringschätzig. Hm, – das Glück, das Glück –
Frau Wilton. Ich habe bis jetzt nicht gewußt, was es heißt: glücklich zu sein im Leben. Und ich kann doch unmöglich das Glück von mir weisen, bloß weil es so spät kommt.
Frau Borkman. Und wie lange, glauben Sie, wird das Glück währen?
Erhard unterbrechend. Ob kurz, ob lang, Mutter, – das ist einerlei!
Frau Borkman zornig. Verblendeter Mensch, Du! Siehst Du denn nicht, wohin das alles führt?
Erhard. Was geht mich die Zukunft an. Mag nicht vorwärts noch rückwärts schauen! Nur auch einmal zu leben verlange ich!
Frau Borkman schmerzlich. Und das nennst Du leben, Erhard!
Erhard. Ja, siehst Du denn nicht, wie schön sie ist!
Frau Borkman ringt die Hände. Und diese erdrückende Schande soll ich also auch noch tragen!
Borkman im Hintergrund mit schneidender Härte. Ha, – Du bist’s ja gewohnt, Gunhild, so etwas zu tragen.
Ella flehentlich. Borkman –!
Erhard ebenso. Vater –!
Frau Borkman. Ich soll tagtäglich mit eigenen Augen sehen, wie mein leiblicher Sohn zusammen mit einer – einer –
Erhard unterbricht sie mit Härte. Nichts wirst Du sehen, Mutter! Hab‘ nur keine Furcht! Ich bleibe nicht länger hier.
Frau Wilton rasch und entschlossen. Wir, wir reisen, Frau Borkman.
Frau Borkman erblassend. Sie reisen auch! Am Ende miteinander?
Frau Wilton nickt. Ich gehe nach dem Süden. Ins Ausland. Zusammen mit einem jungen Mädchen. Und Erhard geht mit.
Frau Borkmann. Mit Ihnen und – einem jungen Mädchen?
Frau Wilton. Ja. Es ist die kleine Frida Foldal, die ich zu mir ins Haus genommen habe. Sie soll in die Welt, um Musik zu studieren.
Frau Borkman. Und so nehmen Sie sie mit?
Frau Wilton. Ja, ich kann doch das junge Ding nicht allein hinausschicken.
Frau Borkman unterdrückt ein Lächeln. Was sagst Du denn dazu, Erhard?
Erhard etwas verlegen, zuckt die Achseln. Ja, Mutter, – wenn Fanny es durchaus haben will, so –
Frau Borkman kalt. Darf man fragen, wann die Herrschaften reisen?
Frau Wilton. Wir reisen sofort, noch heute Nacht. Mein Schlitten hält unten auf der Straße, – vor der Hinkelschen Villa.
Frau Borkman blickt sie von oben bis unten an. Aha, – das war also die Abendgesellschaft!
Frau Wilton lächelt. Es waren allerdings nur Erhard und ich dort. Und die kleine Frida – selbstverständlich.
Frau Borkman. Und wo ist die jetzt?
Frau Wilton. Sie sitzt im Schlitten und wartet auf uns.
Erhard in peinlicher Verlegenheit. Mutter, – Du begreifst –? Ich wollte Dir diesen Auftritt ersparen – Dir und den andern.
Frau Borkman blickt ihn tief gekränkt an. Du wolltest reisen, ohne mir Lebewohl zu sagen?
Erhard. Ja, ich fand, es wäre so besser gewesen. Besser für beide Teile. Alles war fix und fertig. Die Koffer waren gepackt. Als Du dann aber nach mir schicktest, da –. Will ihr die Hände reichen. Also, leb‘ wohl, Mutter.
Frau Borkman macht eine abwehrende Handbewegung. Komm mir nicht nahe!
Erhard zaghaft. Ist das Dein letztes Wort?
Frau Borkman mit Härte. Ja.
Erhard wendet sich zu Ella. Leb‘ wohl, Tante Ella.
Ella drückt ihm die Hände. Leb‘ wohl, Erhard! Und genieße Dein Leben, – und werde so glücklich, so glücklich, – wie Du kannst!
Erhard. Ich danke Dir, Tante. Verbeugt sich vor Borkman. Leb‘ wohl, Vater. Flüstert Frau Wilton zu. Mach‘, daß wir fortkommen, so schnell wie möglich.
Frau Wilton leise. Ja, gehen wir.
Frau Borkman mit einem bösen Lächeln. Frau Wilton, – Sie meinen gewiß, klug zu handeln, wenn Sie das junge Mädchen mitnehmen?
Frau Wilton erwidert das Lächeln halb ironisch, halb ernsthaft. Die Männer sind so unbeständig, Frau Borkman. Und die Frauen auch. Ist Erhard mit mir fertig, – und bin ichs mit ihm, – so wird es für beide Teile gut sein, wenn der arme Junge etwas in der Reserve hat.
Frau Borkmann. Aber Sie selbst?
Frau Wilton. Ach, ich arrangiere mich schon – da seien Sie unbesorgt. Ich empfehle mich den Herrschaften!
Sie grüßt und geht durch die Entreetür ab. Erhard steht einen Augenblick da, als ob er unschlüssig sei; darauf wendet er sich um und folgt ihr.
Frau Borkman, die gesenkten Hände gefaltet. Kinderlos.
Borkman gleichsam zu einem Entschluß erwachend. Gut denn! Allein denn ins Unwetter hinaus! Meinen Hut! Meinen Mantel!
Er geht eilig zur Tür.
Ella tritt ihm angstvoll in den Weg. John Gabriel, wo willst Du hin?
Borkman. Hinaus ins Unwetter des Lebens, hörst Du. Laß mich, Ella!
Ella hält ihn fest. Nein, nein, Du darfst mir nicht hinaus! Du bist krank. Ich sehe es Dir an!
Borkman. Laß mich gehen, sage ich!
Er reißt sich los und geht in den Hausflur hinaus.
Ella in der Tür. Hilf mir ihn zurückhalten, Gunhild!
Frau Borkman steht mitten im Zimmer; kalt und hart: Ich halte keinen Menschen zurück, wer es auch sei. Sie mögen von mir gehen, allesamt. Einer wie der andere. Sie mögen ziehen, so weit – soweit sie nur wollen. Plötzlich, mit einem gellenden Aufschrei. Erhard, geh nicht fort.
Sie stürzt mit ausgebreiteten Armen auf die Tür zu. Ella tritt ihr in den Weg.
Vierter Akt
Offener Platz vor dem Hauptgebäude des Gutshofes, das rechts liegt. Man sieht eine Ecke des Hauses mit einem Portal, zu dem eine niedrige steinerne Treppe hinaufführt. Den Hintergrund entlang, bis dicht an das Gut hin, dehnen sich schroffe, tannenbewachsene Abhänge aus. Links vereinzelt kleine Gruppen niedrigen Gehölzes. Das Schneegestöber hat aufgehört, der frischgefallene Schnee aber hat den Boden mit einer hohen Decke überzogen. Ebenso die Tannen, deren Zweige sich schwer beladen neigen. Dunkle Nacht. Treibende Wolken. Der Mond tritt hie und da schwach hervor. Nur der Schnee wirft einen matten Widerschein auf die Umgebung.
Borkman, Frau Borkman und Ella Rentheim stehen draußen auf der Treppe. Borkman lehnt sich müde und abgespannt an die Mauer. Er hat einen altmodischen Mantel über die Schultern geworfen, hält einen weichen, grauen Filzhut in der einen Hand und einen schweren Knotenstock in der andern. Ella Rentheim trägt ihren Mantel auf dem Arm. Frau Borkman ist das große Tuch über den Nacken herabgeglitten, so daß ihr Haar unbedeckt ist.
Ella hat sich Frau Borkman in den Weg gestellt. Geh ihm nicht nach, Gunhild!
Frau Borkman in angstvoller Aufregung. Laß mich durch, sag‘ ich! Er darf nicht von mir gehen!
Ella. Es ist ganz zwecklos, sage ich Dir! Du holst ihn doch nicht ein.
Frau Borkman. Laß mich’s versuchen, Ella! Ich werde laut hinter ihm herschreien, die Landstraße hinab. Und den Schrei seiner Mutter, den muß er doch wohl hören!
Ella. Er kann Dich nicht hören. Er sitzt sicherlich schon im Schlitten –
Frau Borkmann. Nein, nein, – er kann doch noch nicht im Schlitten sitzen!
Ella. Er sitzt längst im Schlitten, verlaß Dich drauf.
Frau Borkman in Verzweiflung. Wenn er im Schlitten sitzt, – dann sitzt er da mit ihr, mit ihr, – ihr!
Borkman mit finsterem Lachen. Und da hört er gewiß den Schrei seiner Mutter nicht.
Frau Borkman. Nein, – da hört er ihn nicht. Lauscht. Still! Was ist das?
Ella ebenfalls lauschend. Es hört sich an wie Schellenklang.
Frau Borkman mit einem gedämpften Ausruf. Es ist ihr Schlitten!
Ella. Oder vielleicht ein anderer –
Frau Borkman. Nein, nein, es ist Frau Wiltons Schlitten. Ich kenne die Silberschellen! Horch! Jetzt fahren sie gerade hier vorbei – am Hügel unten!
Ella schnell. Gunhild, wenn Du hinter ihm herschreien willst, dann tu es jetzt gleich! Vielleicht wird er doch noch –!
Der Schellenklang ertönt ganz nahe im Walde.
Ella. Beeil‘ Dich, Gunhild! Jetzt sind sie gerade unter uns!
Frau Borkman steht einen Augenblick unschlüssig, erstarrt dann wieder zu eisiger Härte. Nein. Ich schreie nicht hinter ihm her. Erhard Borkman mag an mir vorüberfahren. Hinaus in die weite Ferne, – dem entgegen, was er jetzt das Leben nennt und das Glück.
Das Geläute verliert sich in der Ferne.
Ella nach einer Pause. Jetzt hört man das Schellengeläut nicht mehr.
Frau Borkman. Es klang mir wie ein Grabgeläut.
Borkman mit trockenem, gedämpftem Lachen. Hoho, – mir läuten sie noch nicht zu Grabe!
Frau Borkmann. Aber mir. Und ihm, der mich verlassen hat.
Ella nickt gedankenvoll. Wer weiß, ob sie ihm nicht doch das Leben und das Glück einläuten, Gunhild.
Frau Borkman auffahrend, blickt sie mit Härte an. Das Leben und das Glück, sagst Du!
Ella. Für ein kleines Weilchen wenigstens.
Frau Borkman. Würdest Du ihm das Leben und das Glück gönnen, – an ihrer Seite?
Ella warm and innig. Ja, – von ganzem Herzen und von ganzer Seele würde ich das!
Frau Borkman kalt. Dann mußt Du reicher sein an Kraft der Liebe als ich.
Ella blickt verloren vor sich hin, als sähe sie in die Ferne. Es ist vielleicht die Entbehrung der Liebe, was diese Kraft aufrecht erhält.
Frau Borkman richtet den Blick auf sie. Wenn dem so ist, – dann werde ich wohl bald ebenso reich sein wie Du, Ella.
Sie wendet sich um und geht ins Haus.
Ella steht eine Weile da und blickt Borkman besorgt an; darauf legt sie behutsam die Hand auf seine Schulter. John, jetzt komm und geh auch Du hinein.
Borkman, als ob er erwache. Ich?
Ella. Ja. Du verträgst die scharfe Winterluft nicht. Das sehe ich Dir an, John. So komm und geh mit mir hinein. Ins Haus hinein, wo’s warm ist.
Borkman unwirsch. Vielleicht wieder in den Saal hinauf?
Ella. Lieber zu ihr in die Stube.
Borkman fährt heftig auf. Mein Lebtag setze ich nicht mehr den Fuß in dieses Haus.
Ella. Wo willst Du denn aber hin? So spät in der Nacht, John?
Borkman setzt den Hut auf. Vor allen Dingen will ich nach meinen verborgenen Schätzen sehen.
Ella sieht ihn ängstlich an. John, – ich verstehe Dich nicht!
Borkman mit einem hüstelnden Lachen. Ach, ich meine nicht verstecktes Diebesgut. Hab‘ deswegen keine Angst, Ella. Hält inne und deutet nach außen. Sieh mal den an! Wer ist denn das?
Wilhelm Foldal kommt an der Ecke des Hauses zum Vorschein. Er trägt einen alten, schneebedeckten Überrock, hat die Hutkrempe abwärts gebogen und hält einen großen Regenschirm in der Hand. Er bewegt sich mit Mühe vorwärts durch den Schnee, indem er merklich mit dem linken Fuße hinkt.
Borkman. Wilhelm! Was willst Du hier bei mir – auf einmal wieder?
Foldal blickt auf. Herrjeh, – Du stehst draußen auf der Treppe, John Gabriel? Grüßt. Und Deine Frau auch, wie ich sehe!
Borkman kurz. Es ist nicht meine Frau.
Foldal. Bitte um Entschuldigung. Ich habe nämlich meine Brille im Schnee verloren. – Aber daß Du, der sonst nie einen Schritt zur Tür hinaus tut –?
Borkman keck-lustig. Es ist hohe Zeit, daß ich wieder ein Freiluftmensch werde, verstehst Du. Fast drei Jahre in der Untersuchungshaft, fünf Jahre in der Zelle, acht Jahre da oben im Saal –
Ella besorgt. Borkman, – ich bitte Dich, –!
Foldal. Ach ja, ja, ja –
Borkman. Aber was ich fragen möchte: was willst Du denn von mir?
Foldal, der noch immer unten an der Treppe steht. Ich wollte hinauf zu Dir, John Gabriel. Mir war, als müßte ich zu Dir in den Saal hinauf. Du lieber Gott, – der Saal!
Borkman. Zu mir wolltest Du, der Dir die Tür gewiesen hat.
Foldal. Herrgott, das ist ja ganz gleichgültig.
Borkman. Was ist denn mit Deinem Fuß? Du hinkst ja?
Foldal. Ja, denk nur, Du, ich bin überfahren worden.
Ella. Überfahren!
Foldal. Jawohl, von einem Schlitten –
Borkman. Oho!
Foldal. – mit zwei Pferden davor. Sie kamen in sausender Fahrt den Hügel herunter. Ich hatte nicht Zeit, auszuweichen, und da –
Ella. – und da hat man Sie überfahren?
Foldal. Man ist gerade auf mich losgefahren, gnädige Frau – oder Fräulein. Gerade auf mich los ist man gefahren, so daß ich in den Schnee purzelte und meine Brille verlor und mir den Regenschirm zerbrach; reibt sich den Knöchel – und auch der Fuß kam ein bißchen zu Schaden.
Borkman lacht in sich hinein. Weißt Du, wer in dem Schlitten saß, Wilhelm?
Foldal. Nein, wie hätte ich das sehen können? Es war ja ein geschlossener Schlitten, und die Vorhänge waren heruntergelassen. Und der Kutscher, der hielt keinen Augenblick an, wie ich da so hinpurzelte –. Aber das ist auch einerlei, denn – erregt. O, mir ist so eigentümlich froh zumute, Du!
Borkman. Froh?
Foldal. Ja, ich wüßte nicht, wie ich es sonst nennen sollte. Froh, das wird das Richtige sein. Denn etwas ganz Merkwürdiges hat sich ereignet! Und so konnte ich nicht anders, – ich mußte her und die Freude mit Dir teilen, John Gabriel.
Borkman barsch. Na, so teile denn die Freude!
Ella. Aber erst geh mit Deinem Freund ins Haus, Borkman.
Borkman mit Härte. Ich will nicht ins Haus, habe ich schon gesagt.
Ella. Du hörst doch, daß er überfahren wurde.
Borkman. Ach, überfahren werden wir allesamt – einmal im Leben. Dann muß man eben wieder aufstehen. Und tun, als ob nichts geschehen wäre.
Foldal. Das war ein tiefsinniges Wort, John Gabriel. Ich kann es ja auch recht gut hier draußen erzählen – in aller Eile.
Borkman in sanfterem Ton. Bitte, Wilhelm.
Foldal. Jetzt hör‘ mal zu! Du, denk Dir – wie ich vorhin nach Hause komme von dem Besuch bei Dir, – da finde ich einen Brief. – Rat einmal, von wem?
Borkman. Vielleicht von Deiner kleinen Frida?
Foldal. Richtig! Wie Du das gleich getroffen hast! Es war ein langer – ziemlich langer Brief von Frida, weißt Du. Ein Bedienter war dagewesen und hatte ihn gebracht. Und weißt Du, warum sie schreibt?
Borkman. Möglicherweise um von den Eltern Abschied zu nehmen.
Foldal. Auf ein Haar! Merkwürdig, wie gut Du raten kannst, John Gabriel! Ja, sie schreibt, Frau Wilton hätte ein großes Interesse für sie gefaßt. Und jetzt wollte die gnädige Frau mit ihr ins Ausland reisen. Damit Frida Musik studieren könnte, schreibt sie. Und Frau Wilton hätte auch für einen tüchtigen Lehrer gesorgt, der mitreisen sollte. Um Frida zu unterrichten. Denn ihre Erziehung ist ja leider Gottes in mancher Hinsicht ein bißchen verbummelt, verstehst Du.
Borkman lacht in sich hinein, daß es ihn schüttelt. Jawohl, jawohl. Ich verstehe alles großartig gut, Wilhelm.
Foldal eifrig fortfahrend. Und denke Dir, sie hörte erst heut abend von dem Reiseplan. In der Gesellschaft, Du weißt schon, na! Und gleichwohl nahm sie sich Zeit zum Schreiben. Und wie warm der Brief geschrieben ist, und wie schön und herzlich, das kannst Du Dir nicht vorstellen. Keine Spur mehr von Geringschätzung für ihren Vater. Und dann noch der feine Zug, weißt Du, daß sie uns schriftlich Lebewohl sagen wollte – ehe sie reiste. Lacht. Aber daraus wird nun freilich nichts!
Borkman blickt ihn fragend an. Wieso?
Foldal. Sie schreibt, sie reisten morgen früh. Ganz früh.
Borkman. Sieh mal an, – morgen? Schreibt sie das?
Foldal lacht und reibt sich die Hände. Ja, aber ich bin jetzt der Schlaue, siehst Du! Nun gehe ich gleich zu Frau Wilton –
Borkman. Jetzt in der Nacht?
Foldal. Na, mein Gott, so furchtbar spät ist es doch noch gar nicht. Und sollte die Haustür schon zu sein, so klingle ich. Ohne weiteres. Denn ich will und muß Frida vor ihrer Abreise sehen. Also gute Nacht, gute Nacht!
Er schickt sich zum Gehen an.
Borkman. Hör‘ mal, mein armer Wilhelm, – Du kannst Dir das mühsame Stück Weges sparen.
Foldal. Ach, Du denkst an den Fuß da –
Borkman. Ja, und dann wirst Du bei Frau Wilton doch nicht ins Haus kommen.
Foldal. O freilich. Ich klingle und reiße so lange an der Glocke, bis einer kommt und mir aufmacht. Denn Frida, die will und muß ich sehen.
Ella. Ihre Tochter ist schon weg, Herr Foldal.
Foldal steht wie vom Schlag gerührt. Frida schon weg! Wissen Sie das sicher? Von wem haben Sie das?
Borkman. Wir haben es von ihrem zukünftigen Lehrer.
Foldal. So? Und wer ist denn das?
Borkman. Ein gewisser Studiosus Erhard Borkman.
Foldal freudestrahlend. Dein Sohn, John Gabriel! Der reist mit!
Borkman. Jaha –; der soll Frau Wilton dabei behilflich sein, Deine kleine Frida auszubilden.
Foldal. Na, Gott sei Lob und Dank! Dann ist ja das Kind in den besten Händen. Aber ist es auch ganz sicher, daß sie schon mit ihr fort sind?
Borkman. Sie saßen mit ihr in dem Schlitten, der Dich auf der Straße überfahren hat.
Foldal schlägt die Hände zusammen. Herrjeh, meine kleine Frida saß in dem Prachtschlitten!
Borkman nickt. Ja, ja, Wilhelm, – Deine Tochter ist weich gebettet. Und der Studiosus Borkman auch. – Na, – hast Du auch die Silberschellen bemerkt?
Foldal. I freilich. – Silberschellen, sagst Du? Du, waren das Silberschellen? Ganz echte Silberschellen?
Borkman. Da kannst Du sicher sein. Alles war echt. Außen und – innen.
Foldal stillbewegt. Es ist doch eigentümlich, wie der Mensch manchmal so Glück hat! Da hat sich mein – mein bißchen Dichtertalent bei Frida in Musik umgesetzt. Und so bin ich denn doch nicht vergebens Dichter gewesen. Denn jetzt darf sie in die große, weite Welt hinaus, nach der ich mich einst in herrlichen Träumen gesehnt hatte. Im geschlossenen Schlitten darf sich die kleine Frida auf die Reise machen. Und Silberschellen am Sattelzeug –
Borkman. – und hat ihren Vater überfahren dürfen –
Foldal fröhlich. Ach was! Das schert mich nicht viel, – wenn bloß das Kind –. Na, nun bin ich doch zu spät gekommen. Und so will ich denn wieder nach Hause und ihre Mutter trösten, die in der Küche sitzt und weint.
Borkman. Sie weint?
Foldal lächelnd. Ja, denk Dir, – sie weinte sich fast die Augen aus, als ich ging.
Borkman. Und Du lachst, Wilhelm.
Foldal. Ich, freilich ja! Doch sie, die gute Seele, die versteht es nicht besser, siehst Du. Na, adieu denn! Es ist doch gut, daß die Straßenbahn so nahe ist. Adieu, adieu, John Gabriel! Empfehle mich, Fräulein!
Er grüßt und entfernt sich hinkend in derselben Richtung, in der er gekommen ist.
Borkman steht eine Weile still da und blickt vor sich hin. Adieu, Wilhelm! Es ist nicht das erste Mal im Leben, daß Du überfahren wurdest, alter Freund.
Ella blickt ihn mit unterdrückter Angst an. Du bist so bleich, so bleich, John –
Borkman. Das kommt von der Gefängnisluft da oben.
Ella. So habe ich Dich bisher nie gesehen.
Borkman. Du hast auch wohl bisher nie einen ausgebrochenen Sträfling gesehen.
Ella. Komm doch jetzt und geh mit ins Haus, John!
Borkman. Hör‘ auf mit Deinen Locktönen. Ich habe Dir ja gesagt –
Ella. Wenn ich Dich aber von Herzen bitte? Um Deinetwillen –
Das Stubenmädchen erscheint auf der Treppe.
Das Stubenmädchen. Entschuldigen, – die gnädige Frau hat gesagt, ich soll jetzt das Hoftor zumachen.
Borkman leise zu Ella. Da hörst Du’s, – sie wollen mich wieder einsperren!
Ella zum Stubenmädchen. Dem Herrn Direktor ist nicht ganz wohl. Er will noch ein bißchen frische Luft schöpfen.
Das Stubenmädchen. Die gnädige Frau hat aber ausdrücklich gesagt, –
Ella. Ich werde das Tor zumachen. Lassen Sie nur so lange den Schlüssel stecken –
Das Stubenmädchen. Na meinetwegen, – wie Sie wollen.
Wieder ab ins Haus.
Borkman steht einen Augenblick lauschend da; darauf geht er eilig in den Hof hinunter. Jetzt bin ich über die Mauer, Ella! Jetzt sollen sie mich nie wieder fassen!
Ella bei ihm unten. Aber Du bist ja doch auch im Haus ein freier Mann, John. Kannst kommen und gehen, ganz nach Belieben.
Borkman leise, wie von einem Schrecken erfaßt. Ins Haus zurück? Nie wieder! Hier draußen in der Nacht ist gut sein! Ginge ich jetzt in den Saal zurück – die Decke und die Wände würden zusammenstürzen. Und mich erdrücken. Mich breit quetschen wie eine Fliege –
Ella. Wo willst Du denn hin?
Borkman. Nur weit weg und immer weiter! Ich will sehen, ob ich wieder zur Freiheit gelangen kann und zum Leben und zu Menschen. Willst Du mit mir gehen, Ella?
Ella. Ich? Jetzt?
Ella. Und wie weit?
Borkman. So weit wie möglich.
Ella. Aber so bedenk doch. In die feuchte, kalte Winternacht –
Borkman mit rauhem Kehllaut. Oho, – Fräulein sind um ihre Gesundheit besorgt? Ja ja, – die ist allerdings etwas schwächlich.
Ella. Ich bin um Deine Gesundheit besorgt.
Borkman. Hahaha! Um die Gesundheit eines toten Mannes! Ich muß über Dich lachen, Ella!
Er geht weiter.
Ella hinter ihm her, hält ihn fest. Was sagst Du, daß Du bist?
Borkman. Ein toter Mann. Hast Du vergessen, daß Gunhild sagte, ich sollte ruhig bleiben, wo ich läge?
Ella wirft entschlossen den Mantel um. Ich gehe mit Dir, John.
Borkman. Ja, Ella! Wir zwei gehören ja doch zusammen. Geht weiter. So komm denn!
Sie sind allmählich in das Gehölz links hinübergelangt. Dies entzieht sie nach und nach den Augen der Zuschauer, so daß man schließlich nichts mehr von den beiden sieht. Das Haus und der Gutshof entschwinden dem Gesichtskreise. Die Landschaft, mit Abhängen und Höhenzügen, verändert sich fortwährend langsam und nimmt einen immer wilderen Charakter an.
Ellas Stimme aus dem Walde rechts. Wo sind wir, John? Ich kenne mich hier nicht mehr aus.
Borkmans Stimme weiter oben. Halt Dich nur an die Schneespuren hinter mir!
Ellas Stimme. Aber warum müssen wir denn so hoch steigen?
Borkmans Stimme näher. Wir müssen den krummen Steig hinauf.
Ellas Stimme. Ach, aber ich kann bald nicht mehr.
Borkman am Waldsaum rechts. Komm nur, komm! Jetzt haben wir es nicht mehr weit bis zur Fernsicht. Dort stand vor Zeiten eine Bank –
Ella erscheint zwischen den Bäumen. Daran denkst Du noch?
Borkman. Da kannst Du Dich ausruhen.
Sie sind bei einer schmalen, hochgelegenen Lichtung des Waldes angelangt. Hinter ihnen ein schroffer Abhang. Links, tief unten, dehnt sich eine weite Landschaft mit dem Fjord und hohen, fernen Bergrücken aus, immer ein Höhenzug hinter dem andern. In der Lichtung links eine abgestorbene Fichte mit einer Bank davor. Die Lichtung ist hoch mit Schnee bedeckt.
Borkman und hinter ihm Ella waten von rechts her mühsam durch den Schnee.
Borkman bleibt am Abgrund links stehen. Komm, Ella, dann sollst Du etwas sehen.
Ella bei ihm. Was willst Du mir zeigen, John?
Borkman zeigt hinaus. Sieh hin, wie frei und offen das Land vor uns daliegt – in weitem Umkreis!
Ella. Auf jener Bank haben wir früher oft gesessen – und hinausgeblickt in noch viel, viel weitere Fernen.
Borkman. In ein Traumland blickten wir damals.
Ella nickt schwermütig. Das Traumland unseres Lebens war es ja. Und nun ist das Land im Schnee begraben. – Und der alte Baum ist abgestorben.
Borkman, ohne auf sie zu hören. Kannst Du sehen, wie von den großen Dampfschiffen Rauch aufsteigt, draußen auf dem Fjord?
Ella. Nein.
Borkman. Ich sehe es. – Sie kommen und gehen. Sie verbrüdern das Leben auf dem ganzen Erdball. Sie schaffen den Seelen Licht und Wärme in aber und aber tausend Heimstätten. Das zu vollbringen, davon hat mir einst geträumt.
Ella leise. Und beim Traum, dabei ist es geblieben.
Borkman. Es ist beim Traum geblieben, ja. Horcht auf. Und drunten am Fluß – horch! Die Fabriken gehen! Meine Fabriken! Alle, die ich hätte schaffen wollen! Hör‘ nur, wie sie gehen. Sie haben Nachtarbeit. Tag und Nacht arbeiten sie also. Horch, horch! Die Räder wirbeln und die Walzen blitzen – immer herum, immer herum! Kannst Du es nicht hören, Ella?
Ella. Nein.
Borkman. Ich kann es hören.
Ella ängstlich. Ich glaube, Du irrst Dich, John.
Borkman gerät mehr und mehr in Feuer. Aber alle diese Dinge, weißt Du, – sind sozusagen nur die Vorposten rings um das Reich!
Ella. Um das Reich? Was für ein Reich meinst Du –?
Borkman. Mein Reich! Das Reich, von dem ich um ein Haar Besitz ergriffen hätte damals, als ich – als ich starb.
Ella erschüttert, mit leiser Stimme. Ach, John, John!
Borkman. Und da liegt es nun – schutzlos, herrenlos, – preisgegeben den Überfallen und Plünderungen der Banditen. – Ella! Siehst Du die Bergketten dort – in weiter Ferne? Eine über der anderen. Sie werden höher. Sie türmen sich. Dort ist mein tiefes, unermessenes, unerschöpfliches Reich!
Ella. Ach, John, aber ein so eisiger Hauch weht von dem Reiche her!
Borkman. Dieser Hauch wirkt auf mich wie Lebensluft. Dieser Hauch weht mich an wie ein Gruß von untertänigen Geistern. Ich wittere sie, die gefesselten Millionen; ich fühle die Erzadern, die ihre schlängelnden, astigen, verführerischen Arme nach mir ausstrecken. Ich sah sie vor mir wie lebendig gewordene Schatten, – in jener Nacht, als ich im Bankgewölbe unten stand, die Laterne in der Hand. Ich sollte Euch befreien damals! Und ich versuchte es. Aber ich vermocht‘ es nicht. Der Schatz sank wieder in die Tiefe. Mit vorgestreckten Händen. Aber ich will es euch zuflüstern hier, in der Stille der Nacht. Ich liebe euch, die ihr scheintot liegt in dunkler Tiefe! Ich liebe euch, ihr lebenheischenden Werte – mit eurem ganzen leuchtenden Gefolge von Macht und Herrlichkeit. Ich liebe, liebe, liebe euch!
Ella in verhaltener, wachsender Erregung. Ja, dort unten ist nach wie vor Deine Liebe, John. Sie ist immer dort gewesen. Doch hier oben im Licht des Tages, Du, – da war ein warmes, lebendiges Menschenherz, das für Dich pochte und schlug. Und dieses Herz hast Du zertreten. Ach, nicht nur das! Tausendmal Schlimmeres noch – Du hast es verkauft um – um –
Borkman erbebt, wie wenn ihn ein Schauer überliefe. Um des Reiches – und der Macht – und der Herrlichkeit willen, – meinst Du?
Ella. Ja, das meine ich. Ich hab‘ es Dir heut schon einmal gesagt. Du hast das Liebesleben gemordet in dem Weibe, das Dich liebte. Und das Du wieder liebtest. Soweit Du überhaupt jemand lieben konntest. Mit erhobenem Arm. Und darum weissage ich Dir, – John Gabriel Borkman, – niemals wirst Du den Preis empfangen, den Du für den Mord verlangt hast. Niemals wirst Du als Sieger einziehen in Dein kaltes, düsteres Reich.
Borkman wankt zur Bank hin und läßt sich wuchtig auf sie nieder. Fast muß ich fürchten, Du hast richtig geweissagt, Ella.
Ella geht zu ihm hin. Nicht fürchten sollst Du es, John. Dir könnte nichts Besseres widerfahren.
Borkman schreit auf und greift sich an die Brust. Ah –! Matt. Jetzt ließ sie mich los.
Ella rüttelt ihn. Was war das, John?
Borkman sinkt gegen die Lehne zurück. Eine Hand von Eis griff mir ans Herz.
Ella. John! Hast Du die Eishand nun doch gefühlt!
Borkman murmelt. Nein. – Keine Eishand – eine Hand von Erz war es.
Er gleitet ganz auf die Bank hin.
Ella reißt ihren Mantel herunter und deckt ihn damit zu. Bleib ruhig da, wo Du liegst! Ich gehe, Dir Hilfe zu holen.
Sie macht ein paar Schritte nach rechts, dann bleibt sie stehen, geht zurück und befühlt ihm lange den Puls und das Gesicht.
Ella leise und fest. Nein. Besser so, John Borkman. Für Dich besser so.
Sie hüllt ihn dichter in den Mantel ein und setzt sich vor der Bank in den Schnee nieder.
Kurze Pause.
Frau Borkman, in einen Mantel gehüllt, erscheint zwischen den Bäumen rechts. Vor ihr her geht das Stubenmädchen, mit einer brennenden Laterne.
Das Stubenmädchen leuchtet in den Schnee hinein. Doch, doch, gnädige Frau. Da sind ja ihre Fußspuren –
Frau Borkman blickt spähend umher. Ja, da sind sie! Da drüben sitzen sie auf der Bank. Ruft: Ella!
Ella steht auf. Suchst Du uns?
Frau Borkman hart. Ja, das muß ich wohl tun.
Ella zeigt auf Borkman. Sieh, da liegt er, Gunhild.
Frau Borkman. Er schläft?
Ella nickt. Einen tiefen und langen Schlaf, glaube ich.
Frau Borkman außer sich. Ella! Beherrscht sich und fragt mit gedämpfter Stimme: Hat er – freiwillig geendet?
Ella. Nein.
Frau Borkman erleichtert. Also nicht durch eigene Hand?
Ella. Nein. Es war eine eisige Hand von Erz, die ihm nach dem Herzen griff.
Frau Borkman zum Stubenmädchen. Holen Sie Hilfe. Wecken Sie die Gutsleute.
Das Stubenmädchen. Jawohl, gnädige Frau. Leise. Jessus, Jessus –
Ab durch den Wald rechts.
Frau Borkman steht hinter der Bank. Also die Nachtluft hat ihn getötet –
Ella. Es wird wohl so sein.
Frau Borkmann. – den kräftigen Mann!
Ella tritt vor die Bank hin. Willst Du ihn Dir nicht ansehen, Gunhild?
Frau Borkman abwehrend. Nein, nein, nein. Mit gedämpfter Stimme. Er war eines Bergmanns Sohn, – der Bankdirektor. Die frische Luft konnte er nicht vertragen.
Ella. Es war wohl mehr die Kälte, die ihn tötete.
Frau Borkman schüttelt den Kopf. Die Kälte, sagst Du? Die Kälte, – die hatte ihn schon längst getötet.
Ella nickt ihr zu. Ja, – und uns beide in Schatten verwandelt.
Frau Borkman. Da hast Du recht.
Ella mit schmerzlichem Lächeln. Ein Toter und zwei Schatten, – das war die Frucht der Kälte.
Frau Borkman. Ja, die Herzenskälte. – Und so können wir zwei wohl einander die Hände reichen, Ella.
Ella. Ich denke, jetzt können wir es.
Frau Borkman. Wir Zwillingsschwestern – über ihm, den wir beide geliebt haben.
Ella. Wir beiden Schatten – über dem toten Mann.
Frau Borkman, hinter der Bank, und Ella Rentheim, vor der Bank, reichen sich die Hände.