ERSTE FASSUNG :
1
Chor (synchron):
Madame Vauquer
geborene de Conflans
ist eine alte Frau
die seit vierzig Jahren in Paris eine gutbürgerliche Pension führt
und zwar in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg Saint-Marceau.
Diese unter dem Namen Haus Vauquer bekannte Pension
nimmt Männer wie Frauen auf
junge wie alte Leute
ohne dass böse Zungen je die Achtbarkeit dieses Unternehmens bestritten hätten.
…
Projektion:
HAUS VAUQUER
BÜRGERLICHE PENSION FÜR EHEPAARE UND EINZELPERSONEN
…
Chor (eine Stimme spricht durch, die anderen wiederholen einzelne Teile):
die Witwe Vauquer
ungefähr fünfzig Jahre alt
ähnelt all den Frauen, die viel durchgemacht haben
ihre Büste mit den hin und herschwappenden Fettmassen
ihre kleinen dicken Hände
die bleiche aufgeschwemmte Gestalt dieser kleinen Frau
ist das Ergebnis ihrer dumpfen Lebensweise
ihr verblühtes fleischiges Gesicht
aus dem die Nase wie ein Papageienschnabel heraussticht
ist kalt ist wie ein erster Herbstfrost
der Ausdruck der in Runzeln gebetteten Augen schwankt zwischen einem Balletteusenlächeln und dem sauertöpfischen Blinzeln des Gerichtsvollziehers
sie hat den glasigen Blick und die unschuldsvolle Miene einer Kupplerin
…
Chor (synchron):
die Pensionsgäste
…
Einzelstimmen (sprechen gleichzeitig und mehrmals; direkt zum Publikum?):
(1)
Madame Couture
Witwe
vertritt Mutterstelle bei:
Mademoiselle Victorine Taillefer
ein sehr junges Mädchen von
krankhafter Blässe
fahlblondem Haar
zierlichem Wuchs
(2)
ein alter Herr namens Poiret
Monsieur Poiret
so etwas wie ein lebender Mechanismus
wie ein grauer Schatten
Truthahnhals
Zwiebelkopf
aufgedunsenes Gesicht
(3)
Vautrin
ein Mann von etwa 40 Jahren
der sich für einen ehemaligen Kaufmann ausgab
Er hatte breite Schultern
einen gutgewölbten Brustkasten
kräftige Muskeln
und mächtige Hände mit dichten brennendroten Haarbüscheln an den Fingergliedern
Sein tiefgefurchtes Gesicht hatte einen Ausdruck von Härte
der dem verbindlichen freundlichen Benehmen widersprach.
(4)
Mademoiselle Michonneau
eine alte Jungfer
die Gestalt wie ein Gerippe
so knochig traten die Formen hervor
Welche Säure konnte dieses Geschöpf seiner weiblichen Formen beraubt haben?
Ihr leerer erloschener Blick ließ einen erschauern
ihr ausgemergeltes Gesicht war eine Drohung
Obgleich das Spiel der Leidenschaften ihr Gesicht verwüstet hatte
fand man in ihm noch immer gewisse Spuren einer zarten Feinheit des Gewebes
(5)
Eugene de Rastignac
ein junger Jurastudent mit weißem Teint schwarzen Haaren und blauen Augen
Erscheinung, Benehmen und Haltung ließen ihn als Sohn einer vornehmen Familie erkennen
in der man von der ersten Erziehung an auf Tradition und guten Geschmack Wert legt.
(6)
Monsieur Goriot
ein Greis von etwa 69 Jahren
ehemaliger Nudelfabrikant
genannt Vater Goriot
2
Die Goriot-Puppe.
Läster-Stimmen (durchgehend):
Vater Goriot ist ein Wüstling mit mit höchst befremdlichen Gelüsten.
…
Schatten einer ersten Dame.
Stimme: Wohnt hier Monsieur Goriot?
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen.
Nochmal der Schatten der ersten Dame.
Stimme: Nun sind es schon zwei!
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen.
Schatten einer zweiten Dame.
Stimme: Wohnt hier Monsieur Goriot?
Stimme: Das ist die dritte!
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen.
Nochmal der Schatten der zweiten Dame.
Stimme: Jetzt sind es schon vier!
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen. Durchgehende Lästerstimmen verstummen.
Stimme: Sie haben wohl drei dutzend davon!
Goriot: Ich habe nur zwei Töchter.
Stille. Goriot schaut zur Schattenwand, aber es kommt keine Dame mehr. Goriot macht eine Geste der Verzweiflung und verharrt darin. Längere Stille.
Spöttische Stimme: Na, Ihre Töchter besuchen Sie wohl nicht mehr?
Goriot (Geste ruckartig auflösend): Sie kommen gelegentlich -.
Stimmen: Ah! ah! Sie sehen sie noch manchmal? Bravo, Vater Goriot!
Lachen.
Stimme: Hätte der Vater Goriot so reiche Töchter, wie all diese Damen zu sein scheinen, die ihn besucht haben, so würde er nicht im dritten Stock meines Hauses wohnen, für fünfundvierzig Francs im Monat, und er würde nicht wie ein Bettler gekleidet herumlaufen.
Goriot nimmt eine tragische Haltung ein.
Stimmen: Nie hat er eine Tochter, nie eine Frau gehabt; leichtsinniger Lebenswandel hat ihn in ein schneckenartiges Wesen verwandelt, in eine menschenähnliche Molluske.
Stimmen allmählich durcheinander, übergehend in Musik und verzerrtes Spiel mit dem Wort MOLLUSKE.
3
Musik, dazu akustisch-lautmalerische samples.
Party-Szene. Im Hintergrund ein Mann und eine Frau tanzend. Im Vordergrund Eugene und die Beauseant sich unterhaltend.
Nasie läuft an Eugene vorbei; er dreht sich nach ihr um. Sie dreht sich ebenfalls um. Sie schauen sich an, gehen langsam aufeinander zu und tanzen zusammen.
Es sind nur jeweils die Beine der Figuren beleuchtet. Man unterscheidet sie durch das Schuhwerk.
Licht auf die Schattenwand. Musik wechselt in eine Art monotonen bedrückenden Klangteppich und Atem-Loop.
Man sieht den Schatten Vautrins und einen weiteren Schatten. Verfremdetes geheimnisvolles Flüstern (mit Hall?). Eugene tritt etwas entfernt hinzu, so dass auch sein Schatten sichtbar wird.
Stimme Vauquer: Wer geht da?
Der Schatten des anderen Mannes verschwindet auf einen Wink Vautrins.
Stimme Vautrin: Ich bin’s, Madame Vauquer, ich komme soeben nach Hause.
Eugene schleicht sich vorsichtig weg…
Stimme Vautrin (wiederholend?): Eugene?
…bis nur noch der Schatten Vautrins zu sehen ist. Dann Black und Klangteppich aus.
4
Stimmen. Später die Goriot-Puppe.
Vautrin: Oh oh, guten Morgen, Madame Vauquer.
Vauquer: Aber so hören Sie doch auf…
Vautrin: Sagen Sie nur ruhig: Sie Schlingel! Nur zu, sagen Sie es doch! Wollen Sie es wohl sagen! Warten Sie, ich werde Ihnen beim Tischdecken helfen. Bin ich nicht ein netter Kerl?
Couture, Victorine: Guten Morgen!
Vauquer: Wo waren Sie denn schon so früh am Morgen, meine Liebe?
Couture: Wir haben in St-Étienne du Mont unsere andacht verrichtet. Wir wollen doch heute zu Monsieur Taillefer gehen.
Vautrin: Es ist sehr schön, Mademoiselle Victorine, den lieben Gott zu bitten, dass er das Herz Ihres Vaters erweicht. Aber das genügt nicht, Sie brauchen einen Freund, der diesem Schweinehund einmal gründlich die Meinung sagt, diesem Unmensch, der drei Millionen haben soll und der Ihnen keine Mitgift gibt. Auch ein hübsches Mädchen braucht heutzutage eine Mitgift!
Vauquer: Armes Kind! Warten Sie nur, mein Engel, dieses Ungeheuer von Vater wird sich noch selbst ins Unglück stürzen.
Couture: Wenn wir ihn nur mal sehen könnten, wenn ich ihn nur sprechen könnte, um ihm den letzten Brief seiner verstorbenen Frau zu zeigen. Ich habe nie gewagt, den Brief der Post anzuvertrauen; er kennt meine Handschrift-
Vautrin: Oh, ihr unschuldigen, unglücklichen und verfolgten Frauen! so schlimm steht es um euch? In einigen Tagen werde ich mich mal mit Ihren Angelegenheiten befassen – und alles wird gut.
Victorine: Ach, Monsieur! Wenn Sie ein Mittel wissen, um zu meinem Vater zu gelangen, so sagen Sie ihm, daß seine Liebe und die Ehre meiner Mutter mir kostbarer sind als alle Reichtümer der Welt. Wenn Sie es erreichten, ihn ein wenig milder zu stimmen, so will ich für Sie beten. Seien Sie überzeugt, dass meine Dankbarkeit-
Poiret, Goriot, Michonneau: Guten Morgen!
Die Goriot-Puppe taucht auf, mit Teller und Löffel vor sich.
Eugene: Guten Morgen!
Vauquer: Guten Morgen, Monsieur Eugene, heute frühstücken Sie mal mit der ganzen Gesellschaft zusammen.
Eugene: Ich habe soeben ein merkwürdiges Abenteuer erlebt.
Poiret: Ein Abenteuer?
Vautrin: Nun, wieso erstaunt Sie das, Sie alte Schlafmütze? Der junge Mann sieht doch wohl so aus, als könne er schon mal ein Abenteuer haben.
Vauquer: Also los, erzählen Sie uns Ihr Abenteuer!
Eugene: Gestern war ich auf dem Ball der Vicomtesse de Beauséant, meiner Cousine. Es war ein wundervolles Fest, und ich habe mich amüsiert wie ein König-
Vautrin: Wie ein Zaunkönig.
Eugene: Monsieur! Was wollen Sie damit sagen?
Vautrin: Ich sage Zaunkönig, weil Zaunkönige sich besser amüsieren als Könige.
Poiret: Das ist wahr, ich möchte auch lieber so ein kleiner Vogel ohne Sorgen sein als ein König, und zwar aus dem Grunde-
Eugene: Also ich tanzte mit einer der schönsten Damen auf dem Ball, einer bezaubernden Gräfin, dem lieblichsten Wesen, das ich jemals gesehen habe. Und nun, heute morgen, bin ich dieser göttlichen Frau begegnet; es war neun Uhr und sie ging zu Fuß durch die Rue des Grès. Mein Herz schlug wie wild, und ich stellte mir vor-
Vautrin: Sie käme hierher. Ihre Gräfin heißt Anastasie de Restaud und wohnt in der Rue du Helder.
Goriot hebt jäh den Kopf.
Vautrin: Ich habe richtig vermutet-
Eugene: Warum zum Teufel kennen Sie den Namen- ?
Vautrin: Na, was denn, Vater Goriot kennt ihn doch auch, warum sollte ich ihn nicht kennen?
Eugene: Monsieur Goriot?
Goriot: Was ist los? sie war also sehr schön gestern Abend?
Eugene: Wer denn?
Goriot: Nas- Madame de Restaud!
Vauquer: Nun sehen Sie sich diesen alten Gauner an! wie seine Augen leuchten!
Michonneau: Er hält sie wohl aus?
Eugene: Oh ja, Sie war hinreißend schön! Ohne Madame de Beauséant wäre meine göttliche Gräfin die Ballkönigin gewesen. Die Männer hatten nur Augen für sie. Die anderen Frauen schäumten vor Wut. Wenn eine gestern glücklich gewesen ist, so war sie es.
Vauquer: Aber worin bestand denn nun Ihr Abenteuer? Haben Sie mit ihr gesprochen?
Eugene: Sie hat mich gar nicht gesehen. Aber eine der hübschesten Pariserinnen um neun Uhr auf der Rue des Grès zu treffen, eine Frau, die erst um zwei Uhr morgens vom Ball zurückgekehrt sin muss, ist das nicht seltsam?
Vautrin: Bah!
Goriot taucht ab.
Vauquer: Na, haben Sie ihn beobachtet? Es ist doch wohl klar, Vater Goriot sich für solche Weiber zugrunde gerichtet.
Eugene: Niemals wird man mich davon überzeugen können, dass eine Schönheit wie die Gräfin de Restaud dem Vater Goriot – angehört.
Vautrin: Aber wir haben auch gar nicht die Absicht, Sie davon zu überzeugen. Sie sind noch viel zu jung, um Paris genau zu kennen. Später einmal werden Sie einsehen, dass bei uns auch alte Leute ihre Leidenschaften haben-
Michonneau: Jaja-
Vautrin: Jaja, Mademoiselle Michonneau, haben wir nicht auch unsere kleinen Leidenschaften? – Jetzt senkt unsere alte Jungfer verschämt den Blick, wie eine Nonne vor antiken Statuen.
Lachen, welches in das Vergnügtsein des folgenden Paares übergeht: Handpuppenspiel. Poiret und Michonneau als Handpuppen schlendern vergnügt Hand in Hand vorbei.
Vauquer: Poiret und die Michonneau! Die sind so gut wie verheiratet. Heute gehen sie zum ersten Mal miteinander aus. Wenn die zusammenstoßen, die beiden Fossilien, muss es Funken sprühen wie bei einem Feuerzeug!
Das vergnügte Lachen geht in das Weinen über, die Handpuppen tauchen ab und die Goriot-Puppe auf. Goriot isst, dann hält er inne und starrt durchgehend auf einen Punkt.
Victorine: (weint).
Couture: Ach, meine Liebe, stellen Sie sich vor, er hat Victorine nicht einmal einen Stuhl angeboten, sie musste die ganze Zeit über stehen. Mir hat er ganz kalt, ohne sich im geringsten zu erregen, gesagt, wir möchten uns künftig die Mühe dieser Besuche sparen. Mademoiselle – er nannte Victorine nicht ein einziges Mal seine Tochter – schade sich selbst, wenn sie ihn dauernd belästige. Dieses Scheusal! Einmal im Jahr kommen wir! Da Victorines Mutter bei der Verheiratung kein Vermögen besessen hätte , habe sie nichts zu beanspruchen. Kurz, er sagte die härtesten Dinge gesagt – die arme Kleine zerfloss in Tränen. Sie warf sich ihrem Vater zu Füßen und erklärte ihm mutig, daß sie nur um der Mutter willen darauf bestanden habe, ihn zu sprechen, dass sie seinen Befehlen widerspruchslos gehorchen wolle, dass sie ihn aber anflehe, den letzten Willen der armen Verstorbenen zu lesen. Sie nahm den Brief und hielt ihn ihm hin und sagte die schönsten und gefühlvollsten Dinge von der Welt – ich weiß nicht, wo sie sie hernahm. Gott hat sie ihr eingegeben, denn das arme Mädchen sprach so ergreifend, daß ich weinen musste wie ein Schloßhund. Wissen Sie, was dieser Unhold von einem Mann tat? Er schnitt sich die Nägel! Den Brief der armen Madame Taillefer, der noch die Spuren ihrer Tränen trug, warf er auf den Kamin, indem er sagte: ›Es ist gut!‹ Er wollte seine Tochter zum Aufstehen bewegen, sie nahm seine Hände, um sie zu küssen, aber er zog sie zurück. Ist das nicht ein Verbrechen? Sein großer Lümmel von Sohn kam ins Zimmer, ohne seine Schwester auch nur zu grüßen.
Goriot: Das sind ja die reinsten Ungeheuer.
Couture: Und dann verließen Vater und Sohn das Zimmer, indem sie mich verabschiedeten und sich entschuldigten. Sie hätten dringende Geschäfte. Das war alles! Wenigstens hat er endlich seine Tochter gesehen. Ich begreife nicht, wie er sie verleugnen kann; gleicht sie ihm doch wie ein Ei dem anderen!
Vautrin: Aber Mademoiselle, Sie essen ja nicht. Der Papa hat sich also wieder einmal widerspenstig gezeigt.
Couture: Eine Schande war es!
Vautrin: Man muss ihm mal Vernunft beibringen.
Eugene: Mademoiselle könnte doch eine Alimentationsklage anstrengen, da sie durch ihren Vater vom Essen abgehalten wird.
Vauquer: Ach, sehen Sie nur, wie Vater Goriot Mademoiselle Victorine anstarrt.
Goriot will den Löffel zum Mund führen, bekommt von Vautrin einen Klaps auf den Hinterkopf. Lachen. Mehrmalige Wiederholung, am Ende landet Goriots Gesicht im Suppenteller.
Goriot: Monsieur, das war ein dummer Streich, und wenn Sie sich noch einmal so etwas mit mir erlauben, dann-
Vautrin: Nun, was dann, Papa?
Goriot: Werden Sie einst schwer dafür büßen.
Vautrin: In der Hölle, nicht wahr? In diesem kleinen finsteren Loch, in das man die unartigen Kinder steckt?
Lachen.
5
Musik. Man sieht nur die Beine Eugenes, wie sie wartend wippen.
Licht hinter der Schattenwand an. Man sieht die Goriotpuppe und Nasie. Entferntes Flüstern und Lachen, dann ein Kuss. Licht aus. Schließlich wird die Puppe zurück zum Bartresen gebracht, was Eugene mit den Augen verfolgt.
Parallel dazu sind nun die Beine eines zweiten Mannes – Maxime – zu sehen, ebenfalls wartend wippend. Nachdem Goriot weg ist, hört er auf zu wippen, macht einen Schritt vor und spricht.
Maxime: Ich gehe, Maurice. Sagen Sie Madame la Comtesse, daß ich mehr als eine halbe Stunde gewartet habe.
Nasie: Ah, Maxime, Sie wollten schon gehen?
Licht hinter der Schattenwand an. Nasie in einem Morgenrock, bewegt sich selbstverliebt zur Musik. Licht und Musik aus. Männliches Eifersuchts-Grummeln aus dem Mikro. Nasie tritt vor die Wand, man sieht nur ihre Beine. Sie geht an Eugene vorbei zu Maxime, bleibt aber in der Mitte stehen und dreht sich zu Eugene.
Nasie: Ah, Sie sind es, Monsieur de Rastignac – Es freut mich, Sie zu sehen.
Maxime: Meine Liebe, ich hoffe, dass du diesen Burschen hinauswerfen wirst.
In das Grummeln hinein wird die Nasie-Stimme mit dem Satz WARUM GEHEN SIE NICHT? geloopt. Dann alles aus.
Eugene: Madame, ich habe mich beeilt, Ihnen meine Aufwartung zu machen-
Ein weiteres Paar Männerschuhe wird sichtbar.
de Restaud: Guten Tag, Monsieur de Trailles!
Nasie: Monsieur de Restaud. Monsieur de Rastingnac. Monsieur de Rastignac ist ein Verwandter der Vicomtesse de Beauséant. Ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball der Madame de Beauséant kennenzulernen.
de Restaud: Ich bin entzückt, Monsieur, Ihre Bekanntschaft zu machen.
Musik. Ausblenden von Nasie und Maxime. Unverständliches Gespräch zwischen de Restaud und Eugene in die Musik hinein, während das Licht hinter der Schattenwand angeht: Nasie und Maxime treiben es miteinander. Zwischendurch immer mal die Stimme de Restauds: NASIE! und die Nasies: ICH KOMME! dann Licht aus.
Maxime: Ich hoffe, Nasie, daß Sie dieses Jüngelchen, dessen Augen wie Kohlen glühten, als Ihr Morgenrock sich öffnete, künftig abweisen lassen. Er könnte Ihnen Erklärungen machen, Sie kompromittieren, und Sie würden mich zwingen, ihn zu töten.
Nasie: Sind Sie toll, Maxime? Sind diese kleinen Studenten nicht ausgezeichnete Blitzableiter? Ich werde Restaud ein wenig gegen ihn aufhetzen.
Sie lachen. Nasie erscheint wieder auf der vorherigen Position. Musik und Gespräch aus.
de Restaud: Denk dir nur, meine Teure, das Gut der Familie des Monsieur liegt nicht weit von Verteuil an der Charente. Sein Großonkel und mein Großvater waren miteinander bekannt.
Nasie: Wie nett, dass wir so viele gemeinsame Bekannte haben.
Eugene: Mehr als man glaubt.
Nasie: Wie meinen Sie das?
Eugene: Nun, ich sah vorhin, wie ein Herr Ihr Haus verließ, mit dem ich Tür an Tür in derselben Pension wohne- den Vater Goriot.
Stille. Dann die Nasie-Stimme mit dem Satz WARUM GEHEN SIE NICHT? geloopt. Dann wieder aus.
de Restaud: Monsieur, Sie hätten wenigstens ›Monsieur Goriot‹ sagen können.
Nasie: Ich kenne niemanden, den wir lieber-
Eugene: Madame, Sie haben sicher mit Monsieur de Restaud etwas zu besprechen, seien Sie meiner Hochachtung versichert, und gestatten Sie mir-
Nasie: Wann immer Sie uns besuchen, werden Sie stets Monsieur de Restaud und mir den größten Gefallen tun.
Eugene wird ausgeblendet.
de Restaud: Maurice. Wann immer Monsieur erscheint, Madame und ich sind nicht zu sprechen.
Black.
6
Drei Stühle. Man sieht Madame de Beauséant sitzen, aber nur die Beine sind angeleuchtet. Die Beine von Eugene etwas abseits. DAjuda nur als Stimme.
dAjuda: Auf Wiedersehen.
Madame de Beauséant : Auf heute abend doch? Gehen wir nicht ins Theater?
dAjuda: Ich kann nicht.
Madame de Beauséant: Warum können Sie nicht ins Theater kommen?
dAjuda: Geschäfte! Ich diniere beim englischen Botschafter.
Madame de Beauséant: Sie werden absagen.
dAjuda: Sie fordern es?
Madame de Beauséant: Ja, gewiß!
dAjuda: Das ist es, was ich von ihnen hören wollte. – (leiser) Zu Monsieur de Rochefide!
Madame de Beauséant (schreibend): Da Sie bei Rochefide dinieren und nicht beim englischen Botschafter, schulden Sie mir eine Erklärung. Ich erwarte Sie! Claire. – Jacques! Sie werden um halb acht zu Monsieur de Rochefide gehen und sich nach dem Marquis d’Ajuda erkundigen. Befindet Monsieur le Marquis sich dort, so übergeben Sie ihm dieses Billett, ohne auf Antwort zu warten. Ist er nicht dort ist, so kommen Sie sofort mit meinem Brief zurück.
Eugene: (macht sich bemerkbar).
Madame de Beauséant: Verzeihen Sie, ich hatte einige Zeilen zu schreiben; jetzt stehe ich Ihnen ganz zu Ihrer Verfügung.
Black, dann wieder Licht. Eugene sitzt jetzt neben Madame de Beauséant auf einem der Stühle.
Madame de Beauséant: Also, lieber Cousin, womit kann ich Ihnen behilflich sein?
Eugene: Auf Ihrem Ball neulich war mir Madame de Restaud aufgefallen, und ich habe sie heute Vormittag besucht.
Madame de Beauséant: So müssen Sie ihr sehr ungelegen gekommen sein.
Eugene: Leider ja. Ich wollte Sie bitten, mir zu sagen, welche Dummheit ich begangen haben könnte. Ich erwähnte einen Vater-
Stimme: Madame la Duchesse de Langeais!
Ein weiteres Paar Frauenbeine taucht auf dem dritten Stuhl auf.
Antoinette: Guten Tag, meine Teure.
Madame de Beauséant: Welchem glücklichen Einfall verdanke ich das Vergnügen, Sie zu sehen, meine liebe Antoinette?
Antoinette: Oh, ich sah Monsieur d’Ajuda-Pinto bei Monsieur de Rochefide eintreten, und da dachte ich mir, dass Sie allein wären. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie beschäftigt sind-
Madame de Beauséant: Monsieur ist mein Cousin Eugene de Rastignac.
Antoinette: Claire, Sie wissen sicher, daß morgen das Aufgebot des Monsieur d’Ajuda-Pinto mit Mademoiselle de Rochefide veröffentlicht wird?
Madame de Beauséant: Das ist eins von den Gerüchten, an denen die Dummköpfe ihr Vergnügen haben. Warum sollte Monsieur d’Ajuda einen der bedeutendsten Namen Portugals gerade den Rochefides zum Geschenk machen? Leuten, deren Adel erst von gestern stammt?
Antoinette: Aber Berthe wird, wie man sagt, eine Rente von zweihunderttausend Francs beziehen.
Madame de Beauséant: Monsieur d’Ajuda ist zu reich, um solche Berechnungen anzustellen.
Antoinette: Aber, meine Teure, Mademoiselle de Rochefide ist ganz reizend.
Madame de Beauséant: Pah!
Antoinette: Aber wie dem auch sei, er diniert heute bei ihnen, und der Heiratsvertrag ist perfekt. Es erstaunt mich wirklich, daß Sie so schlecht informiert sind.
Madame de Beauséant: Was war das doch gleich für eine Dummheit, die Sie begangen haben?
Eugene: Ich habe unwissentlich Madame de Restaud einen Dolch ins Herz gestoßen. Ohne es zu ahnen, das ist mein ganzer Fehler. Ich verfiel darauf, ihnen von der Bekanntschaft mit einem Mann zu sprechen, den ich dabei beobachtet hatte, wie er das Haus über eine Geheimtreppe verließ, und der die Gräfin im Hintergrund des Korridors geküsst hatte.
beide Frauen (gleichzeitig): Wer war das?
Eugene: Ein alter Mann, der wie ich armer Student von zwei Louis im Monat hinten im Faubourg St-Marceau lebt, wirklich ein armer Kerl, über den sich alle Welt lustig macht und den wir Vater Goriot nennen!
Madame de Beauséant: Aber was sind Sie für ein Kind! Madame de Restaud ist eine geborene Goriot!
Antoinette: Die Tochter eines Nudelfabrikanten.
Eugene: Wie! Das ist ihr Vater?
Antoinette: Aber ja. Der Alte hat zwei Töchter, in die er geradezu vernarrt ist, obwohl die eine wie die andere ihn verleugnet.
Madame de Beauséant: Ist nicht die andere mit einem Bankier mit deutschem Namen verheiratet, einem Baron Nucingen? Heißt sie nicht Delphine? Eine Blondine, die eine Seitenloge in der Oper hat, die auch ins Theater geht und die sehr laut lacht, um sich bemerkbar zu machen?
Eugene: Sie haben ihren Vater verleugnet!
Madame de Beauséant: Ja, ja, ihren Vater, und er ist ein wahrer Vater, ein guter Vater, der jeder, wie man erzählt, fünf- bis sechshunderttausend Francs mitgegeben hat, um ihr Glück zu machen.
Antoinette: Dieser Vater hat alles hingegeben. Zwanzig Jahre lang hat er sein Innerstes, seine Liebe an seine Kinder verschwendet; an einem einzigen Tag hat er sein Vermögen verschenkt. Als die Zitrone so gründlich ausgepreßt war, warfen seine Töchter die Schale in die Gosse.
Madame de Beauséant: Die Welt ist wirklich gemein.
Antoinette: Gemein? Nein! sie geht ihren Gang, das ist alles. Aber ich lasse mich von der Welt nicht täuschen. Darum denke ich wie Sie. Die Welt ist ein Sumpfloch, versuchen wir, uns obenauf zu zu halten.
Black.
7
Musik. Die Schatten von Vautrin und Eugene. Musik aus.
Vautrin: Eugene – Wissen Sie, was Sie brauchen auf dem Weg, den Sie gehen? Eine Million, und zwar schnell. Diese Million – ich werde sie Ihnen verschaffen.
Eugene: Was muss ich denn tun?
Licht in einer entfernteren Ecke des Raumes. Man sieht den Saum eines Nachthemdes und nackte Mädchenfüße.
Vautrin: Fast nichts. Das Herz eines unglücklichen, liebebedürftigen jungen Mädchens ist wie ein gieriger Schwamm, der schwellend voll werden will von Liebe; ein ausgetrockneter Schwamm, der sich sofort mit allen Poren öffnet, wenn ein Tropfen Gefühl auf ihn fällt. Einer jungen Person den Hof zu machen, die in Einsamkeit, Verzweiflung und Armut dasitzt, ohne von ihrem künftigen Reichtum zu wissen, wahrhaftig, das heißt alle Trümpfe in der Hand haben, das heißt die Gewinnzahlen der Lotterie kennen, das heißt spekulieren, wenn man die Dinge im voraus weiß! Sie werden auf festem Fundament bauen, und ihre Ehe wird unzerstörbar sein. Fallen diesem jungen Mädchen Millionen zu, so wirft sie sie Ihnen zu Füßen, als wären es Kieselsteine.
Eugene: Wo aber so ein Mädchen hernehmen?
Vautrin: Sie gehört schon Ihnen, ist hier- in Ihrer Nähe!.
Eugene: Mademoiselle Victorine?
Vautrin: Sie ist bereits in Sie verliebt, Ihre kleine Baronin de Rastignac.
Eugene: Sie besitzt doch keinen Sou.
Vautrin: Ah! Da sind wir bereits bei der Sache. Vater Taillefer hat nur einen Sohn, dem er zum Schaden Victorines sein ganzes Vermögen hinterlassen will. Wenn es der Wille Gottes wäre, den jungen Taillefer zu sich zu rufen, so würde der Alte seine Tochter wieder aufnehmen. Victorine ist sanft und umgänglich, sie wird ihren Vater bald um den Finger wickeln und ihn tanzen lassen wie einen Brummkreisel; die Empfindsamkeit wird ihre Peitsche sein! Für Ihre Liebe wird sie viel zu empfänglich sein, um Sie zu vergessen. Sie werden sie heiraten. Ich für mein Teil nehme die Rolle der Vorsehung auf mich und werde dem Ratschluß Gottes ein wenig nachhelfen-
Eugene: Genug, Monsieur! Ich will nichts mehr hören.
Vautrin: Wie Sie wünschen, mein Bester! Denken Sie an das, was ich für Sie tun will. Ich gebe Ihnen vierzehnTage Frist- Sie haben die Wahl!
Vautrins Schatten verschwindet. Musik, und immer wieder eine weibliche Stimme, die EUGENE! ruft, sowie eine männliche, die VICTORINE! flüstert. (beide Stimmen mit Effekt). Dazu Schattenspiel hinter der Wand: Victorine bläst Eugene einen. Irgendwann Licht und Musik aus.
8
Die Beine von Madame de Beauséant und Eugene. DAjudas Stimme.
dAjuda: Ich bin meinen Verpflichtungen davongelaufen, denn es drängte mich, Sie zu sprechen.
Madame de Beauséant: Wie steht es um Ihre Bekanntschaft mit Madame de Nucingen? Ist es möglich, dass Sie ihr Monsieur de Rastignac vorstellen?
dAjuda: Sie wird entzückt sein, ihn kennenzulernen.
Madame de Beauséant wird ausgeblendet. Dafür Licht auf Delphines Beine, die auf einem Stuhl sitzt, die Beine übereinandergeschlagen. Ihre Schuhe stehen neben ihr.
dAjuda: Gnädige Baronin, ich habe die Ehre, Ihnen den Chevalier Eugene de Rastignac vorzustellen, einen Cousin der Vicomtesse de Beauséant.
Musik. Delphine streckt ihre Beine aus, Eugene zieht ihr die Schuhe an, wobei er über ihre Beine streicht. Eugene zieht Delphine hoch, sie tanzen zur Musik. In die Musik hinein spricht eine Frauenstimme mit Delay den Namen DE MARSEY mehrmals in sehnsuchtsvoll-erotischem Ton. Dann Musik aus, das Tanzpaar bleibt im Freeze stehen. Licht auf Madame de Beauséants Beine.
dAjuda: Ihr Cousin ist nicht mehr wiederzuerkennen. Er ist geschmeidig wie ein Aal, ich glaube, er wird es weit bringen. Sie allein vermochten ihm eine Frau zuzuführen, gerade dann, wenn sie Trost braucht.
Madame de Beauséant: Es fragt sich nur, ob sie nicht den noch liebt, der sie verlässt.
Black.
9
Die Goriot-Puppe. Eugene als Stimme.
Eugene: Ach, Monsieur Goriot, wie können Sie in einem solch elenden Hundeloch hausen, wahrend es Ihren Töchtern so glänzend geht?
Goriot: Ach, wozu sollte ich denn besser wohnen? Hier sitzt bei mir alles. Meine Töchter sind der ganze Inhalt meines Lebens. Wenn sie sich amüsieren, wenn sie glücklich sind und gut angezogen, was macht es dann aus, was ich anziehe und wo ich mich zur Ruhe lege? Mir ist nicht kalt, wenn sie es warm haben, und wenn sie lachen, wie könnte ich mich da grämen? Ich kenne keinen anderen Kummer als den ihren. – Mein Gott, wenn ein Mann meine kleine Delphine so glücklich machen würde, wie es eine Frau ist, die wirklich geliebt wird – ich würde ihm die Stiefel putzen, ich würde alles für ihn tun.
Eugene:. Was mich betrifft, so habe ich mich heute Abend in Madame Delphine verliebt.
Goriot: Ah!
Eugene: Ja. Ich habe ihr nicht mißfallen. Wir haben eine Stunde lang von nichts anderem als der Liebe gesprochen, und am Sonnabend, also übermorgen, soll ich sie besuchen.
Goriot: Oh, wie ich Sie lieben würde, Monsieur, wenn Sie meiner Tochter gefielen. Sie sind gut, Sie werden sie nicht quälen. Aber, wenn Sie sie hintergingen, so würde ich Ihnen auf der Stelle die Kehle durchschneiden. – Mein Gott, Sie haben sich also mit ihr unterhalten! Was hat sie Ihnen für mich aufgetragen?
Musik. Stimme aus dem Off, wiederholend: NICHTS!
Eugene: Sie läßt Ihnen durch mich- viele liebe Grüße senden.
Musik und Stimme eine Weile weiter, während Goriot Gesten des Glücks vollführt. Dann Black.
10
Delphine am Boden, wie erschöpft. Man sieht nur ihre Beine. Eugene nur als Stimme. Vor Eugenes erster Replik längeres Schweigen.
Eugene: Aber was haben Sie?
Delphine: Ich bin nicht glücklich. Die goldenen Ketten sind die schwersten.
Eugene: Was könnten Sie sich noch wünschen, Sie sind schön, jung, reich, geliebt!
Längeres Schweigen.
Delphine: Sie lieben mich wirklich?
Eugene: Ja.
Delphine: Sie werden nichts Schlechtes von mir denken, um was immer ich Sie auch bitten werde?
Eugene: Nein.
Delphine: Nehmen Sie meine Börse. Sie enthält hundert Francs, das ist alles, was diese so glückliche Frau besitzt. Gehen Sie in eins der Spielhäuser. Riskieren Sie die hundert Francs beim Roulette, verlieren Sie, oder bringen Sie mir sechstausend Francs. Ich werde Ihnen von meinen Sorgen erzählen, wenn Sie zurückgekehrt sind.
Musik. Delphine verharrt eine ganze Weile in derselben Haltung. Musik aus.
Eugene: Sechstausend Francs gewonnen!
Delphine: Sie haben mich gerettet!
Delphine steht auf und geht ein paar Schritte. Black und gleichzeitig die Schatten von Eugene und Delphine, die sich gegenüberstehen, hinter der Schattenwand. Delphine umarmt ihn und küsst ihn einmal. Black, dann wieder Licht auf die Beine Delphines am Boden, an der früheren Stelle. Dazu drei weibliche Stimmen, die die Repliken durcheinander sprechen, dabei immer lauter und aufgeregter werden. Delphines Stimme beginnt.
Stimmen:
(1) Sie müssen wissen, dass mein Mann mich nicht über einen Sou verfügen läßt. Meine Ersparnisse und das Geld, das mir mein armer Vater gab, habe ich verbraucht, und dann stürzte ich mich in Schulden.
(2) Sie können sich nicht vorstellen, was für Qualen ich heute gelitten habe, als Nucingen mir hartnäckig die sechstausend Francs verweigerte. Eine Summe, die er seiner Geliebten, einer Schauspielerin, jeden Monat schenkt!
(3) Sollte ich zu meinem Vater gehen? Torheit! Anastasie und ich, wir haben ihn ja bereits völlig zugrunde gerichtet; ich glaube, mein armer Vater würde sich selbst verkaufen, wenn er sechatausend Francs wert wäre.
Die Stimmen brechen mit einem Mal ab. Längeres Schweigen.
Delphine: Sie haben mich gerettet!
Black und gleichzeitig die Schatten von Eugene und Delphine, die sich gegenüberstehen, hinter der Schattenwand. Delphine umarmt ihn und küsst ihn einmal. Eugene zieht sie an sich, will sie küssen. Musik. Sie schiebt ihn weg. Er versucht es noch mal. Sie will sich ihm entziehen, er hält sie fest und versucht es wieder, sie stößt ihn von sich. Black.
11
Musik. Der Schatten von Eugene, der unruhig hin und her läuft. Die verfremdete Stimme Vautrins, die in Schleife den Satz Denken Sie an das, was ich für Sie tun will- Sie haben die Wahl! wiederholt. Musik und Stimme aus.
Licht in einer entfernteren Ecke des Raumes. Man sieht den Saum eines Nachthemdes und nackte Mädchenfüße. Eugene bleibt stehen. Schweigen.
Victorine: Haben Sie irgendeinen Kummer, Monsieur Eugene?
Eugene: Welcher Mann hat nicht seinen Kummer? Wenn wir wüßten, wir jungen Männer, daß man uns wahrhaft liebte, mit einer Ergebenheit, die uns für die Opfer entschädigte, die wir stets zu bringen bereit sind, so hätten wir vielleicht niemals Kummer.
Schweigen. Hörbares Atmen, das noch im folgenden weiter zu hören ist.
Eugene: Sie, Mademoiselle, meinen heute ihr Herz zu kennen; aber können Sie dafür einstehen, dass ihre Gefühle von Dauer sind?
Victorine: Ja-
Eugene: Wirklich? Und wenn Sie morgen reich und glücklich wären, wenn Ihnen ein ungeheures Vermögen zufiele, würden Sie dann noch immer den armen jungen Mann lieben, der ihnen in den Tagen Ihres Elends gefallen hat?
Victorine: Ja-
Eugene: Einen recht unglücklichen jungen Mann?
Victorine: Ja-
Victorine wird ausgeblendet. Das Atmen läuft eine Weile weiter, dazu in einem bestimmten Intervall das JA Victorines in Schleife. Vautrins Schatten taucht auf, mit ihm plötzliche Stille.
Vautrin: Ich wußte ja, daß Sie dahin kommen würden
Eugene: ich werde Mademoiselle Taillefer auf keinen Fall heiraten.
Vautrin lacht. Vautrin ausblenden. Das Lachen mit Delay unterlegen. Musik. Lachen aus. Die Goriot-Puppe taucht auf. Musik aus.
Goriot: Sie sind traurig, mein Sohn! Ich werde Sie aufheitern. – Sie glauben, daß Delphine Sie nicht liebt, nicht wahr?
Schweigen.
Goriot: Sie will Sie damit überraschen, aber ich bringe es nicht fertig, Ihnen das Geheimnis länger zu verbergen.
Ein Puppenhaus taucht auf.
Goriot: In drei Tagen werden Sie einziehen können.
Schweigen.
Goriot: Mein lieber Junge, ich habe für diese Sache mein Letztes hingegeben. Aber sehen Sie, es war viel Egoismus von mir dabei; ich habe bei Ihrem Wohnungswechsel meinen eigenen Vorteil mit im Auge. Sie werden mir eine Bitte nicht abschlagen, wie?
Eugene: Was ist es denn?
Goriot: Im obersten Stock des Hauses befindet sich noch ein Zimmer- da werde ich wohnen, nicht wahr? Ich werde Ihnen bestimmt nicht lästig fallen. – Oh, behalten Sie mich bei sich! – Sie werden sie heute abend sehen, sie erwartet Sie. Ihr Mann, der grobe Klotz von Elsässer, speist bei seiner Schauspielerin. – Also, Sie nehmen mich doch zu sich, nicht wahr?
Eugene: Ja, mein guter Vater Goriot, Sie wissen doch, wie sehr ich Sie liebhabe.
Goriot: Ich sehe es, Sie schämen sich meiner nicht- Sie nicht! – Sie müssen sie recht glücklich machen, versprechen Sie mir das! – Sie gehen heute abend zu ihr, nicht wahr?
Eugene: Ja natürlich! Ich habe aber noch etwas ganz Unaufschiebbares zu erledigen.
Goriot: Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?
Eugene: Tatsächlich, ja. Während ich zu Madame de Nucingen gehe, gehen Sie zu dem alten Taillefer, dem Vater von Mademoiselle Victorine und fragen ihn, wann ich ihn noch heute Abend in einer sehr dringlichen Sache sprechen könne.
Goriot: Ist es also wahr, Sie machen seiner Tochter den Hof, wie die Dummköpfe hier in der Pension erzählen?
Goriot ballt wütend die Faust.
Eugene: Ich schwöre Ihnen, daß ich nur eine Frau auf der Welt liebe. Delphine. Seit diesem Augenblick weiß ich es genau.
Goriot: Ah! Welches Glück!
Eugene: Aber der junge Taillefer schwebt in Lebensgefahr-
Goriot: Was geht das Sie an?
Eugene: Aber man muß dem Vater sagen, daß er seinen Sohn-
Vautrins Schatten. Bedrohliche Musik. dann Black.
12
Handpuppenspiel: Poiret, Michonneau und Goudureau.
Goudureau: Also, wir haben nunmehr die vollständige Gewißheit, daß der angebliche Vautrin, wohnhaft im Hause Vauquer, ein aus dem Lager von Toulon entwichener Sträfling ist, der dort unter dem Namen Trompe-la-Mort bekannt ist.
Poiret: Ah! Trompe-la-Mort! Er ist glücklich dran, wenn er sich diesen Namen erworben hat.
Goudureau: Sicher, diesen Spitznamen verdankt er dem Umstand, daß er bei seinen höchst gewagten Unternehmungen stets mit dem Leben davongekommen ist. Der Kerl ist gefährlich, müssen Sie wissen! Er hat Eigenschaften, die ihn als außerordentlichen Menschen erscheinen lassen. Ja selbst seine Verurteilung hat sein Ansehen in den Augen seiner Anhänger unendlich erhöht.
Poiret: Er ist also ein Ehrenmann?
Goudureau: Auf seine Weise, ja. Er hat das Verbrechen eines anderen auf sich genommen, eine Fälschung, die ein schöner junger Mann, ein Italiener, den er sehr liebte, beging.
Michonneau: Aber wenn die Polizei sicher ist, daß Vautrin und Trompe-la-Mort ein und dieselbe Person sind, wozu hat sie dann mich nötig?
Goudureau: Gewißheit ist nicht das richtige Wort; es besteht nur eine Vermutung. Jacques Collin, genannt Trompe-la-Mort, genießt das volle Vertrauen von drei Sträflingen, die ihn zu ihrem Agenten und Bankier erwählt haben. Er verdient eine Menge Geld durch diese Art von Geschäften, die natürlich nur ein ausgezeichneter Mann führen kann.
Poiret: Ha, ha! Verstehen Sie das Wortspiel, Madame Michonneau? Monsieur nennt ihn einen ausgezeichneten Mann, weil er mit der Brandmarke ›ausgezeichnet‹ ist.
Goudureau: Der falsche Vautrin erhält das Vermögen der Herren Sträflinge, er legt es an, er verwahrt es für sie, er hält es für die, die ausbrechen, zur Verfügung. er übergibt es den Familien der Sträflinge, wenn es testamentarisch festgelegt ist, oder ihren Geliebten, wenn man ihn dazu auffordert.
Poiret: Ihren Geliebten! Sie meinen, ihren Frauen.
Goudureau: Nein, Monsieur. Der Sträfling hat gewöhnlich nur illegitime Gefährtinnen, die wir Konkubinen nennen.
Poiret: Sie leben also alle in wilder Ehe?
Goudureau: Im allgemeinen ja.
Poiret: Aber das sind ja grauenhafte Zustände, die die Polizei nicht dulden dürfte. Sie sollten den Polizeiminister über den unsittlichen Lebenswandel dieser Leute aufklären, die der übrigen Gesellschaft ein so schlechtes Beispiel geben.
Goudureau: Die Regierung, Monsieur, nimmt Verbrecher nicht in Gewahrsam, um Muster an Tugend aus ihnen zu machen.
Poiret: Das stimmt schon. Gestatten Sie mir dennoch, Monsieur, zu bemerken-
Michonneau: So lassen Sie doch Monsieur einmal ausreden, mein Lieber.
Goudureau: Sie werden begreifen, Mademoiselle, dass der Regierung viel daran gelegen ist, die illegale Kasse, die einen sehr hohen Betrag enthalten soll, in die Hand zu bekommen. Trompe-la-Mort ergreifen und seine Kasse beschlagnahmen hieße das Übel mit der Wurzel ausrotten.
Michonneau: Aber weshalb brennt denn der Trompe-la-Mort nicht mit der Kasse durch?
Goudureau: Oh! wo er auch hinginge, würde ihm einer auflauern und ihn zu töten. Und eine Kasse läßt sich auch nicht so leicht entführen wie ein junges Mädchen aus gutem Hause. Übrigens würde Collin so etwas gar nicht tun, er käme sich entehrt vor.
Poiret: Sie haben recht, er wäre vollkommen entehrt.
Michonneau: Aber all das erklärt uns noch nicht, warum Sie nicht selbst einfach kommen und sich seiner bemächtigen.
Goudureau: Auch das will ich Ihnen beantworten, Mademoiselle. Aber veranlassen Sie doch diesen Monsieur da, dass mich nicht mehr unterbricht, sonst werden wir niemals fertig. Er ist offenbar recht eingebildet, daß er sich selbst so gern hört. – Als Trompe-la-Mort nach Paris kam, ist er als ehrlicher Mensch aufgetreten, er ist Bürger der Stadt geworden und hat sich in einer unauffälligen Pension einquartiert. Er ist ein gerissener Bursche, und man wird ihn niemals unvorbereitet überraschen. Kurz, Monsieur Vautrin gilt als hochgeachteter Mann, der bedeutende Geschäfte abschließt.
Poiret: Natürlich- Äh, Verzeihung.
Goudureau: Der Minister will nicht die ganze Pariser Handelswelt und die öffentliche Meinung gegen sich aufbringen, falls man sich täuschen und einen echten Vautrin verhaften würde. Man muß also seiner Sache ganz sicher sein!
Michonneau: Ja, und dazu haben Sie eine hübsche Frau nötig.
Goudureau: Trompe-la-Mort ließe keine Frau an sich heran. Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten: Er liebt die Frauen nicht.
Poiret: Aber ich, äh, also wenn Sie glauben, ich würde-
Michonneau: Aber dann begreife ich nicht, was ich bei der ganzen Sache soll; angenommen, ich würde für zweitausend Francs einwilligen.
Goudureau: Ihre Aufgabe ist ganz leicht. Ich werde Ihnen ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit geben, die, dem Wein oder Kaffee beigemischt, eine tiefe Ohnmacht hervorruft. Sie legen den Mann sofort aufs Bett und entkleiden ihn, angeblich um zu sehen, ob sein Zustand nicht lebensgefährlich ist. Sobald Sie allein sind, geben Sie ihm einen kräftigen Schlag auf die Schulter, paff!, und Sie werden sehen, wie die Buchstaben seiner Brandmarke erscheinen. Nun, sind Sie einverstanden?
Michonneau: Wenn nun aber keine Buchstaben zum Vorschein kommen, bekomme ich dann ebenfalls die zweitausend Francs?
Goudureau: Nein.
Michonneau: Wie hoch wäre dann die Entschädigung?
Goudureau: Fünfhundert Francs.
Michonneau: Für so eine gewagte Sache so wenig Geld! Das Gewissen wird in beiden Fällen gleich schwer belastet, und ich muß mein Gewissen beruhigen, Monsieur. – Nun gut, geben Sie mir dreitausend Francs, wenn Vautrin Trompe-la-Mort, und nichts, wenn er ein braver Bürger ist.
Goudureau: Abgemacht, aber unter der Bedingung, daß die Sache morgen erledigt wird.
Goudureau taucht ab.
Michonneau: Hm. Wenn Vautrin Trompe-la-Mort ist, wäre es vielleicht lohnender, sich mit ihm zu verständigen. Aber wenn man von ihm Geld verlangt, so warnt man ihn, und er ist imstande, sich gratis aus dem Staub zu machen. Das wäre ein schöner Reinfall.
Poiret: Und es ist ein Akt der Gesetzestreue, die Gesellschaft von einem Verbrecher zu befreien, so tugendhaft er auch sein mag. – Wenn es ihm nun einfiele, uns alle umzubringen? wir wären selbst schuld an diesen Morden, ganz abgesehen davon, daß wir wohl die ersten Opfer wären.
Es folgt ein Spiel allmählicher Annäherung, das mit ekstatischem Beischlaf endet.
13
Die Goriot-Puppe am Tresen, und Eugene auf einem Stuhl sitzend, nur die Beine angeleuchtet. Vautrins Stimme, dann die drei Repliken. Alles in Schleife wiederholen, aber Eugenes und Goriots Sätze zunehmend verwaschener und bruchstückhafter gesprochen. Puppe und Eugene rutschen mit jeder Runde mehr in sich zusammen.
Vautrin: Noch eine Flasche Bordeaux!
Eugene: Aber der junge Taillefer schwebt in Lebensgefahr-
Goriot: Was geht das Sie an?
Eugene: Aber man muß dem Vater sagen, daß er seinen Sohn-
Schließlich liegt Goriot schlafend über dem Tresen, und Eugene ist auf den Boden gerutscht. Der Goriot-Puppenspieler bewegt die leblose Puppe, während ein anderer Spieler die leblosen Beine Eugenes bewegt.
Stimme Vautrins: So, die beiden haben genug, die sind fertig.
Vautrin lacht. Die zwei Spieler ziehen sich zurück. Vautrin taucht als Schatten vor der Wand auf; das Licht bewegen, so dass der Schatten wabert. Vautrins Stimme aus dem Off, mit Delay verfremdet.
Vautrin: Mein Kleiner, wir sind noch nicht gerissen genug, um es mit Papa Vautrin aufzunehmen. Und er liebt Sie auch zu sehr, um Sie Dummheiten begehen zu lassen. Wenn ich einmal etwas beschlossen habe, so ist nur der liebe Gott stark genug, mir den Weg zu verbauen. Ah, wir wollten also Vater Taillefer warnen!
Lachen Vautrins. Victorine, wieder nur die nackten Füße, taucht auf. Während sie langsam zu Eugene geht und seinen Kopf auf ihren Schoß bettet, singt Vautrin:
Schlaf, mein Kindchen, schlaf recht fein,
Ich werde stets dein Hüter sein.
Vautrin: Bleiben Sie bei ihm, und pflegen sie ihn. Das ist Ihre Pflicht als seine zukünftige gehorsame Frau. Er betet Sie an, der junge Mann, und Sie werden einmal sein Frauchen, das prophezeie ich Ihnen.
Schweigen.
Vautrin: Armes Kind, schlafe nur, das Glück kommt manchmal im Schlaf. Der ist es wert, geliebt zu werden. Wäre ich eine Frau, so wollte ich für ihn sterben – nein, das wäre dumm – ich wollte für ihn leben.
Victorine beugt sich über Eugene, so dass ihr Haar über seinen Kopf fällt. Der Schatten Vautrins verschwindet. Die Stimme Delphines:
Ich bin weder gekränkt noch Ihnen böse, mein Freund. Ich habe bis zwei Uhr nachts auf sie gewartet. Einen Menschen erwarten, den man liebt – wer diese Qual kennt, wird sie niemandem zumuten. Ich sehe wohl, daß Sie zum ersten Mal lieben. Was ist geschehen? Ich bin in größter Unruhe. Beruhigen Sie mich, erklären Sie mir, weshalb Sie nicht kamen – nach alledem, was mein Vater Ihnen gesagt haben muss. Was ist geschehen?
Black. Musik. Licht hinter der Schattenwand, man sieht Vautrins Schatten, wie er jemanden tötet. Licht und Musik aus. Eugene als Stimme.
Eugene: Ja, was ist geschehen? Wie spät ist es?
Vautrins Schatten hinter der Schattenwand. Er trinkt schlürfend eine Tasse Kaffee.
Vautrin: Fünf nach Zwölf.
Lachen, dann Schweigen.
Eugene: Ich werde niemals Mademoiselle Victorine heiraten.
Vautrin lacht (Delay?), plötzlich stockt er und stürzt zu Boden. Schepperndes Geräusch aus dem Off und Black. Michonneaus Stimme, mehrmals wiederholend: EIN SCHLAGANFALL!
Licht auf die Handpuppenbühne. Michonneau und Poiret mit Vautrin, den man aber nicht sieht.
Michonneau: Los, ziehen Sie ihm schnell das Hemd aus, und legen Sie ihn auf den Rücken! So seien Sie doch nur einmal zu etwas nütze, und ersparen Sie mir den Anblick seiner Nacktheit!
Poiret hilft ihr. Michonneau gibt Vautrin einen starken Schlag auf die Schulter.
Poiret: Na also, da haben Sie Ihre dreitausend Francs bequem verdient.
Sie ziehen Vautrin wieder an und drehen ihn zurück.
Poiret: Uff! Ist der schwer.
Michonneau: Still. Wenn die Kasse nun hier wäre? Könnte man nicht diesen Schreibtisch hier unter irgendeinem Vorwand öffnen?
Poiret: Das wäre aber ein Unrecht.
Michonneau: Keineswegs. Gestohlenes Geld, das aller Welt gehört hat, gehört niemandem mehr-
Das Licht hinter der Schattenwand geht an. Die Puppen erschrecken und tauchen ab. Vautrins Schatten erhebt sich langsam und schwankend. Musik. Drei Schatten stürzen sich auf ihn und wollen ihn packen. Er wehrt sich, während aus dem Off verfremdetes Brüllen zu hören ist. Goudureau erscheint an der Handpuppenbühne. Schließlich haben die drei Schatten Vautrin überwältigt. Musik aus.
Vautrin: Ich gestehe, Jacques Collin zu sein, genannt Trompe-la-Mort, verurteilt zu zwanzig Jahren Kettenhaft. Und ich habe eben bewiesen, daß ich meinen Spitznamen nicht gestohlen habe. Hätte ich nur die Hand erhoben, so hätten die drei Spitzel da meinen ganzen Gehirnbrei auf Mama Vauquers guter Stube verspritzt.
Black. Ein Licht bewegt sich wie ein Suchscheinwerfer durch das Publikum.
Vautrin: Seid ihr vielleicht besser als wir? Wir haben weniger Niederträchtigkeit auf dem Buckel als ihr im Herzen – ihr faulenden Glieder einer verderbten Gesellschaft!
Den Halbsatz nach dem Bindestrich wiederholen, mit Delay und immer schneller und lauter werdend, während das Licht immer schneller kreist. Musik hinein, dann Black.
14
Die Goriot-Puppe. Eugene als Stimme.
Goriot: Kommen Sie.
Eugene: Wissen Sie nicht, was hier vorgefallen ist? Vautrin ist ein entlaufener Sträfling und ist soeben verhaftet worden, und der junge Taillefer ist tot.
Goriot: Nun, wenn schon, was geht das uns an? Ich diniere heute mit meiner Tochter, bei Ihnen, verstehen Sie? Sie erwartet Sie, kommen Sie mit!
Die Goriot-Puppe wird ausgeblendet. Licht auf das Puppenhaus. Vor dem Puppenhaus drei Püppchen, die Eugene, Delphine und Goriot darstellen. Sie werden im folgenden von den zwei Spielern geführt, die nicht Goriot, Delphine und Eugene sprechen. Eugene und Delphine gehen langsam aufeinander zu, während Goriot stehenbleibt und spricht.
Goriot: Wir drei essen zusammen. Zusammen, verstehen Sie? Vier Jahre sind es her, daß ich das letzte Mal mit meiner Delphine, meiner kleinen Delphine, diniert habe. Den ganzen Abend werde ich sie für mich haben. Oh! Wie lange war ich nicht mehr so ungestört mit ihr zusammen, wie wir es heute sein werden!
Eugene und Delphine stehen sich gegenüber und halten sich an den Händen.
Goriot: Ich wußte ja, daß er dich liebt.
Delphine: Kommen Sie, Sie müssen sich alles anzuschauen.
Während Goriot draußen bleibt, gehen Delphine und Eugene durch alle Räume bis zum Schlafzimmer.
Eugene: Hier fehlt ein Bett.
Delphine: Ja, Monsieur?
Delphine schubst Eugene auf das Bett. Wilder Sex, von Lauten der Lust begleitet. Möbel könnten umfallen. Zwischendrin ruft der wartende Goriot immer mal so was wie DELPHINE? ALLES IN ORDNUNG? usw. Die Püppchen gehen schließlich wieder langsam nach draußen.
Delphine: Nun, hat man Ihre Wünsche richtig erraten?
Eugene: Ja, nur zu gut.
Goriot: Ich habe alle Rechnungen bezahlt. Sie schulden keinen Centime mehr für all das, was Sie hier sehen.
Eugene und Delphine umarmen Goriot.
Goriot: Nun, was ist schon dabei, seid ihr denn nicht meine Kinder?
Delphine: Aber mein armer Vater, wie haben Sie das nur möglich gemacht?
Peinliches Schweigen.
Goriot: Ich habe da oben ein Zimmerchen für fünzig Taler im Jahr, ich kann mit zwei Francs am Tag wie ein Fürst leben, und ich habe sogar noch etwas übrig. Ich brauche kaum noch etwas, nicht einmal neue Kleider – Und, seid ihr glücklich?
Delphine: Oh Papa! Lieber Vater, du bist ein wahrer Vater. Nein, solch einen Vater gibt es auf der Welt nicht wieder. Eugene hat dich schon vorher sehr lieb gehabt, wie wird es jetzt erst sein!
Goriot: Um deinetwegen hat er Mademoiselle Taillefer und ihre Millionen ausgeschlagen. Ja, sie liebte ihn, die Kleine, und jetzt, da ihr Bruder tot ist, ist sie eine steinreiche Frau!
Eugene: Warum müssen Sie das jetzt sagen-?
Delphine: Ach, Eugene, wie sehr will ich Sie lieben, heute und immer!
Goriot: Das ist der schönste Tag, den ich seit deiner Hochzeit erlebe. Der liebe Gott mag mich leiden lassen, soviel er will, nur nicht durch euch.
Delphine: Der arme Vater!
Goriot: Wenn du wüßtest, mein Kind, mit wie wenigem du mich glücklich machen kannst! Komm nur manchmal zu mir hinauf, es kostet dich nur ein paar Schritte. Versprichst du mir das?
Goriot: Sag es noch einmal!
Delphine: Ja, mein guter Vater.
Goriot: Oh, sei still, wenn es nach mir ginge, müsstest du es noch hundertmal wiederholen! Lasst uns essen.
Die Spieler setzen die Püppchen in das Esszimmer. Die Sprecher deuten die Stimmung bei Tisch durch unterschiedliches Lachen an: Goriots ist ausgelassen, Delphines genervt, Eugenes verunsichert. Schließlich stehen Eugene und Delphine auf und verlassen das Zimmer.
Delphine: Sehen Sie, wenn mein Vater mit uns zusammen ist, muß man ganz für ihn da sein. Das kann mitunter etwas lästig werden.
Eugene: Wir müssen uns also heute Abend trennen?
Delphine: Ja. Aber morgen werden wir uns wiedersehen, morgen ist unser Theaterabend.
Goriot: Ich werde im Parterre sein.
Black.
15
Musik. Nacheinander tauchen auf: die Goriot-Puppe, Delphines Beine, Nasies Beine. Musik aus.
Nasie: Guten Tag, Vater. Ah, du hier, Delphine?
Delphine: Guten Tag, Nasie. Findest du es seltsam, daß ich hier bin? Ich für meinen Teil besuche Vater täglich.
Nasie: Seit wann das?
Delphine: Wenn du öfter kämst, wüsstest du es.
Nasie: Quäle mich nicht, Delphine. Ich bin todunglücklich, ich bin verloren!
Goriot: Was hast du, Nasie?
Nasie: Mein Mann weiß alles. Vater, vor einiger Zeit – Maximes Wechsel – Nun, es war nicht der erste. Ich hatte bereits viele bezahlt– und dann gestand er mir, dass er hunderttausend Francs Schulden habe! Oh! Papa, hunderttausend Francs! Ich wusste, du hattest sie nicht, hatte ich dir doch schon alles genommen- Und so habe mir das Geld verschafft, indem ich über Dinge verfügte, die mir nicht gehörten. Um Maxime, um mein Glück zu retten, habe ich die Familiendiamanten von Monsieur de Restaud, seine und meine, alle, verkauft- Ich habe sie verkauft, verkauft, versteht ihr? Er ist gerettet, aber ich, ich bin verloren. Restaud hat alles erfahren.
Die Stimme Restauds, eventuell verfremdet mit Delay oder ähnliches.
Restaud: Anastasie , ich will über die ganze Sache Stillschweigen bewahren, wir werden zusammenbleiben, denn wir haben Kinder- Ist eines der Kinder von mir?
Nasie: Ja.
Restaud: Welches?
Nasie: Ernest, unser Ältester.
Restaud: Gut. Und noch etwas. Sie werden Ihr ganzes Vermögen auf mich überschreiben, sobald ich es von Ihnen verlange.
Nasie: Das ist aber noch nicht alles, Vater. Für die Diamanten haben wir keine hunderttausend Francs bekommen. Maxime wird gerichtlich verfolgt. Wir haben nur noch zwölftausend Francs zu zahlen. Er hat mir versprochen, vernünftig zu werden und nicht mehr zu spielen. Mir bleibt auf dieser Welt nur noch seine Liebe, und ich habe sie so teuer bezahlt, daß ich sterben würde, wenn ich sie verlieren würde. Alles habe ich ihm geopfert, mein Vermögen, meine Ehre, meine Ruhe, meine Kinder. Oh, sorgen Sie dafür, daß Maxime frei und in Ehren bleibt! Alles ist verloren, wenn man ihn ins Gefängnis wirft.
Goriot: Ich habe kein Geld mehr, Nasie! Nichts mehr, nichts!
Nasie: Was haben Sie denn mit Ihrer Rente auf Lebenszeit gemacht?
Goriot: Ich habe sie verkauft und nur noch eine kleine Summe für meine eigenen Bedürfnisse zurückbehalten. Ich brauchte zwölftausend Francs, um Fifine ein Haus einzurichten.
Nasie: Ich verstehe. Für Monsieur de Rastignac. Ah!
Delphine: Meine Teure, Monsieur de Rastignac bringt es wenigstens nicht fertig, seine Geliebte zu ruinieren.
Nasie: Danke, Delphine! In meiner gegenwärtigen bedrängten Lage hätte ich etwas Besseres von dir erwartet; aber du hast mich nie geliebt.
Goriot: Doch, sie liebt dich, Nasie!
Delphine: Und wie hast du dich gegen mich benommen? Du hast mich verleugnet. Du hast nicht die geringste Gelegenheit versäumt, mir Schmerz zu bereiten. Und ich, bin ich hergelaufen wie du, um dem armen Vater tausendfrancweise sein Vermögen zu entziehen, und ihn so weit zu bringen, wie er heute ist? Das ist dein Werk, Schwesterchen. Ich habe Vater so oft besucht, wie ich konnte, ich habe ihm nicht die Tür gewiesen, und ich kam nicht nur dann, um ihm die Hände zu lecken, weil ich ihn brauchte. Ich wusste nicht einmal, daß er die zwölftausend Francs für mich ausgegeben hatte. Wenn Papa mir Geschenke gemacht hat, so habe ich nie darum gebettelt.
Nasie: Du warst eben glücklicher als ich. Monsieur de Marsay war reich, das hast du recht wohl gewusst und dir zunutze gemacht. Du warst schon immer geldgierig.
Delphine: Ich ziehe vor, mir nachsagen zu lassen, dass ich Monsieur de Marsay Geld schulde, als eingestehen zu müssen, dass mich Monsieur de Trailles mehr als zweihundertausend Francs kostet.
Nasie: Delphine!
Delphine: Ich sage dir nur die Wahrheit, während du mich verleumdest.
Nasie: Delphine, du bist eine-
Goriot: Ah! – Delphine, Nasie, ihr habt beide recht, ihr habt beide unrecht. Sieh mal, Fifine, sie braucht zwölftausend Francs, sehen wir zu, wie wir sie auftreiben! Seht euch doch nicht so an! Bitte sie mir zuliebe um Verzeihung, tu mir den Gefallen. Sie ist die Unglücklichere, bitte tus! – Doch woher zwölftausend Francs nehmen? Sie bittet mich, sie ist in Not, und ich, ich Elender, hab‘ nichts mehr! Ja, ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen-
Der Schatten Eugenes, an derselben Stelle, wo Vautrins in der Regel war.
Eugene: Madame. Hier ist das Geld, das Sie brauchen.
Black. Eine Weile Stille, dann die Stimme Delphines.
Delphine: Eugene, wissen Sie denn gar nicht, was vor sich geht? Ganz Paris ist morgen auf dem Ball der Madame de Beauséant. Die Rochefide und der Marquis dAjuda haben, um Aufsehen zu vermeiden, beschlossen, noch Schweigen zu bewahren. Aber morgen wird der Ehevertrag offiziell unterzeichnet, und Ihre arme Cousine ist noch immer ahnungslos. Sie kann es sich nicht erlauben, nicht zu empfangen, und der Marquis wird nicht auf ihrem Ball erscheinen. Man spricht von nichts anderem mehr als von dieser Geschichte.
16
Während der ganzen Szene liegt Goriot sterbenskrank da und wiederholt immer mal die Namen seiner Töchter: Nasie! Fifine! Eugene auf einem Stuhl in der Nähe Goriots sitzend, nur die Füße sind beleuchtet.
Delphines Stimme:
Mein Freund, denken Sie daran, daß ich Sie heute Abend erwarte, um mit Ihnen auf den Ball der Madame de Beauséant zu gehen. Der Ehevertrag von Monsieur d’Ajuda ist tatsächlich heute unterzeichnet worden und die arme Vicomtesse hat es erst vor zwei Stunden erfahren. Ganz Paris wird zu ihr strömen, wie zu einer Hinrichtung. Ist es nicht schrecklich, daß man nur hingeht, um zu sehen, ob diese Frau ihren Schmerz verbergen kann, ob sie mit Würde zu sterben weiß? Ich erwarte Sie in zwei Stunden.
Eugenes Stimme:
Ich erwarte einen Arzt, um zu erfahren, ob Ihr Vater am Leben bleiben wird. Er liegt im Sterben. Ich werde Ihnen das Urteil des Arztes überbringen und ich fürchte, daß es ein Todesurteil sein wird. Sie müssen dann entscheiden, ob Sie zum Ball gehen können. Tausend Küsse.
Eugene ausblenden. Eine Weile sieht und hört man nur Goriot. Dann Stimmen.
Delphine: Nun, wie geht es meinem Vater?
Eugene: Sehr schlecht. Fahren wir zu ihm, um nach ihm zu sehen.
Delphine: Gut, ja, aber nach dem Ball.
Eugene: Aber-
Delphine: Sei so lieb, Eugene, komm, und halte mir keine Moralpredigten!
Black.
17
Musik, dazu akustisch-lautmalerische samples.
Party-Szene. Im Hintergrund Tanzende, unter ihnen Delphine und Antoinette. Im Vordergrund Eugene und die Beauseant sich unterhaltend. Es sind nur jeweils die Beine der Figuren beleuchtet.
Madame de Beauséant: Sie tanzen! Alle sind Sie sind pünktlich eingetroffen; nur der Tod lässt auf sich warten. Ich werde weder Paris noch die Gesellschaft jemals wiedersehen. Um fünf Uhr morgens reise ich ab, um mich irgendwo tief in der Normandie zu begraben. Madame de Nucingen sieht sehr schön aus heute abend. Mein Freund, lieben Sie nur eine Frau, die Sie immer lieben können. Verlassen Sie sie niemals. – Gehen Sie nur. Ich will Sie nicht um Ihr Vergnügen bringen.
Eugene geht zu Delphine. Sie tanzen. Antoinette tritt zur Beauseant.
Antoinette: Ich habe es geahnt, Claire. Sie reisen fort, um nicht mehr zurückzukehren. Sie tun unrecht, meine Liebe, sich in Ihrem Alter zurückzuziehen. Bleiben Sie bei uns! – Sie Sind groß heute Abend. Wer Sie auf dem Ball gesehen hat, Claire, wird Sie niemals vergessen.
Madame de Beauséant: Leben Sie wohl, Antoinette, ich wünsche Ihnen alles Glück.
Sie schauen zu Delphine und Eugene.
Madame de Beauséant: Ihnen braucht man dies nicht zu wünschen; Sie sind glücklich, sie können noch an etwas glauben.
Musik aus und Black.
18
Die Goriot-Puppe, liegend. Eugenes Schatten vor der Wand.
Goriot: Nasie? Delphine? – Ach, Sie sind es, mein lieber Freund.
Eugene: Geht es Ihnen besser?
Goriot: Haben Sie meine Töchter gesehen? Sie werden bald kommen; sie werden hereilen, sobald sie erfahren, dass ich krank bin. – Meine Töchter haben gesagt, sie würden kommen, nicht wahr? Geh noch einmal hin. Sag ihnen, daß ich mich nicht wohlfühle, dass ich sie, bevor ich sterbe, noch ein letztes Mal umarmen, ein letztes Mal sehen möchte. Sag ihnen das, aber ohne sie zu sehr zu erschrecken. – Sie werden kommen, ich kenne sie- die gute Delphine, welchen Kummer werde ich ihr bereiten, wenn ich sterbe, und Nasie auch. Ich will nicht sterben, sie sollen nicht weinen. Sterben, mein guter Eugene, heißt, sie nicht mehr wiedersehen.
Goriot wird ausgeblendet. Stimmen.
de Restaud: Monsieur Goriot stirbt? Nun, das ist das Beste, was er tun kann. Ich rauche Madame de Restaud jetzt, ich habe wichtige Geschäfte mit ihr abzuschließen; sie wird kommen, wenn alles erledigt ist.
Nasie: Monsieur, richten Sie meinem Vater aus, daß ich mit meinem Gatten eine Auseinandersetzung habe und jetzt nicht fort kann. Es geht um meine Kinder. Sobald alles ins Reine gebracht ist, komme ich.
Kammerzofe Delphines: Madame de Nucingen ist erst um halb sechs vom Ball nach Hause gekommen, sie schläft; wenn ich sie vor Mittag wecke, wird sie mit mir schimpfen. Wenn sie nach mir klingelt, werde ich ihr sagen, daß es ihrem Vater schlechter geht.
Goriot wird wieder sichtbar.
Goriot: Meine Mädchen, meine Mädchen! Anastasie, Delphine; ich will sie sehen!
Eugene: Ich hole Ihre Töchter, mein guter Vater Goriot, ich bringe sie her.
Goriot wird ausgeblendet. Stimmen.
de Restaud: Monsieur, Sie haben vielleicht schon bemerkt, daß ich für Monsieur Goriot sehr wenig übrig habe. Ob er lebt oder stirbt, das ist mir vollkommen gleichgültig. Was Madame de Restaud betrifft, so ist sie nicht imstande auszugehen. Übrigens wünsche ich auch nicht, daß sie das Haus verläßt. Sagen Sie ihrem Vater, daß sie zu ihm kommen wird, sobald sie mir und meinem Kind gegenüber ihre Pflichten erfüllt hat.
Nasie: Mein Vater würde mir verzeihen, wenn er wüßte, in was für einer Lage ich mich befinde. Sagen Sie ihm, daß mich keine Schuld trifft, auch wenn es so scheint.
Delphine: Ich bin leidend, mein armer Freund. Auf dem Rückweg vom Ball habe ich mich erkältet. — Also gut, ich werde kommen, sobald der Arzt da war. — Ich komme, Eugene, ich komme. Lassen Sie mir nur Zeit zum Ankleiden. Gehen Sie! Ich werde vor Ihnen da sein.
Goriot wird wieder sichtbar.
Goriot: Sie kommen, nicht wahr?
Eugene: Delphine wird gleich hier sein.
Black. Musik.
19
Musik weiter. Goriot liegt da und wiederholt immer mal die Namen seiner Töchter: Nasie! Fifine! Eugene auf einem Stuhl in der Nähe Goriots sitzend, nur die Füße sind beleuchtet. Nach einer ganzen Weile bricht die Musik plötzlich aprupt ab. Eine ganze Weile Stille. Dann die Beine von Delphine.
Eugene: Sie kommen zu spät.
Die Beine von Nasie kommen dazu. Die folgende Replik geht in Delay über, dazu monotoner Sound, der immer lauter wird, so dass die letzten Worte kaum noch zu hören sind. Parallel dazu Ausblenden von Nasie und Delphine, und heftige Bewegungen Eugenes, so dass der Schatten „tanzt.“
Nasie: Es war nicht leicht, fortzukommen. — Das Maß meines Unglücks ist voll. Monsieur de Trailles ist verschwunden, und hat enorme Schulden hintergelassen. Außerdem habe ich erfahren, daß er mich betrogen hat. Mein Gatte wird mir niemals verzeihen, und ich habe ihm die Verfügungsgewalt über mein ganzes Vermögen zugestehen müssen. All meine Hoffnungen sind dahin-
Schließlich alles gleichzeitig aus.
20
Mehrstimmiges Requiem, a capella gesungen. Licht auf die Goriot-Puppe, die immer noch daliegt, aber komplett zugedeckt. Eugenes Beine werden eingeblendet, er steht ganz allein im Raum. Wenn das Requiem zuende ist, wird die Puppe samt Decke heruntergezogen, so dass sie verschwindet. Eugene ist noch eine Weile zu sehen, dann Black.
20
Mehrstimmiges Requiem, a capella gesungen. Licht auf die Goriot-Puppe, die immer noch daliegt, aber komplett zugedeckt. Eugenes Beine werden eingeblendet, er steht ganz allein im Raum. Wenn das Requiem zuende ist, wird die Puppe samt Decke heruntergezogen, so dass sie verschwindet. Eugene ist noch zu sehen, wenn der Chor spricht.
Chor synchron:
Rastignac schritt den hügelig angelegten Friedhof hinauf bis zur höchstgelegenen Stelle und blickte auf Paris hinab, das sich an beiden Ufern der Seine ausbreitete. Schon begannen die ersten Lichter aufzuflammen. Seine Augen blickten beinahe gierig nach der Gegend zwischen der Säule des Vendome-Platzes und dem Invalidendom, dorthin, wo die vornehme Gesellschaft lebte, in die er hatte eindringen wollen. Seine Blicke schienen den Honig dieses summenden Bienenstockes sehnsüchtig aufzusaugen.
Der Chor wiederholt in Einzelstimmen den Text sich überlappend und in Schleife. Dann Stille und Eugenes Stimme allein.
Eugene: Jetzt werden wir beide unsere Kräfte messen.
Chor synchron:
Und der erste Akt seiner Kampfansage an die Gesellschaft bestand darin, dass er zu Madame Nucingen ging, um mit ihr zu dinieren.
Black. Ende.
**********
ULTIMATIVE FASSUNG :
1
Chor (synchron):
Madame Vauquer
geborene de Conflans
ist eine alte Frau
die seit vierzig Jahren in Paris eine gutbürgerliche Pension führt
und zwar in der Rue Neuve-Sainte-Geneviève zwischen dem Quartier Latin und dem Faubourg Saint-Marceau.
Diese unter dem Namen Haus Vauquer bekannte Pension
nimmt Männer wie Frauen auf
junge wie alte Leute
ohne dass böse Zungen je die Achtbarkeit dieses Unternehmens bestritten hätten.
…
Chor (eine Stimme spricht durch, die anderen wiederholen einzelne Teile):
die Witwe Vauquer
ungefähr fünfzig Jahre alt
ähnelt all den Frauen, die viel durchgemacht haben
ihre Büste mit den hin und herschwappenden Fettmassen
ihre kleinen dicken Hände
die bleiche aufgeschwemmte Gestalt dieser kleinen Frau
ist das Ergebnis ihrer dumpfen Lebensweise
ihr verblühtes fleischiges Gesicht
aus dem die Nase wie ein Papageienschnabel heraussticht
ist kalt ist wie ein erster Herbstfrost
der Ausdruck der in Runzeln gebetteten Augen schwankt zwischen einem Balletteusenlächeln und dem sauertöpfischen Blinzeln des Gerichtsvollziehers
sie hat den glasigen Blick und die unschuldsvolle Miene einer Kupplerin
…
Chor (synchron):
die Pensionsgäste
…
Einzelstimmen (sprechen gleichzeitig und mehrmals; direkt zum Publikum?):
(1)
Madame Couture
Witwe
vertritt Mutterstelle bei:
Mademoiselle Victorine Taillefer
ein sehr junges Mädchen von
krankhafter Blässe
fahlblondem Haar
zierlichem Wuchs
(2)
ein alter Herr namens Poiret
Monsieur Poiret
so etwas wie ein lebender Mechanismus
wie ein grauer Schatten
Truthahnhals
Zwiebelkopf
aufgedunsenes Gesicht
(3)
Vautrin
ein Mann von etwa 40 Jahren
der sich für einen ehemaligen Kaufmann ausgab
Er hatte breite Schultern
einen gutgewölbten Brustkasten
kräftige Muskeln
und mächtige Hände mit dichten brennendroten Haarbüscheln an den Fingergliedern
Sein tiefgefurchtes Gesicht hatte einen Ausdruck von Härte
der dem verbindlichen freundlichen Benehmen widersprach.
(4)
Mademoiselle Michonneau
eine alte Jungfer
die Gestalt wie ein Gerippe
so knochig traten die Formen hervor
Welche Säure konnte dieses Geschöpf seiner weiblichen Formen beraubt haben?
Ihr leerer erloschener Blick ließ einen erschauern
ihr ausgemergeltes Gesicht war eine Drohung
Obgleich das Spiel der Leidenschaften ihr Gesicht verwüstet hatte
fand man in ihm noch immer gewisse Spuren einer zarten Feinheit des Gewebes
(5)
Eugene de Rastignac
ein junger Jurastudent mit weißem Teint schwarzen Haaren und blauen Augen
Erscheinung, Benehmen und Haltung ließen ihn als Sohn einer vornehmen Familie erkennen
in der man von der ersten Erziehung an auf Tradition und guten Geschmack Wert legt.
(6)
Monsieur Goriot
ein Greis von etwa 69 Jahren
ehemaliger Nudelfabrikant
genannt Vater Goriot
2
Die Goriot-Puppe.
Läster-Stimmen (durchgehend):
Vater Goriot ist ein Wüstling mit mit höchst befremdlichen Gelüsten.
…
Schatten von Nasie.
Stimme Nasie: Wohnt hier Monsieur Goriot?
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen.
Nochmal der Schatten von Nasie.
Stimme: Nun sind es schon zwei!
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen.
Schatten von Delphine.
Stimme Delphine: Wohnt hier Monsieur Goriot?
Stimme: Das ist die dritte!
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen.
Nochmal der Schatten von Delphine.
Stimme: Jetzt sind es schon vier!
Goriot: Das war meine Tochter.
Lachen. Durchgehende Lästerstimmen verstummen.
Stimme: Sie haben wohl drei dutzend davon!
Goriot: Ich habe nur zwei Töchter.
Stille. Goriot schaut zur Schattenwand, aber es kommt keine Dame mehr. Goriot macht eine Geste der Verzweiflung und verharrt darin. Längere Stille.
Spöttische Stimme: Na, Ihre Töchter besuchen Sie wohl nicht mehr?
Goriot (Geste ruckartig auflösend): Sie kommen gelegentlich -.
Stimmen: Ah! ah! Sie sehen sie noch manchmal? Bravo, Vater Goriot!
Lachen.
Stimme Vauquer: Hätte der Vater Goriot so reiche Töchter, wie all diese Damen zu sein scheinen, die ihn besucht haben, so würde er nicht im dritten Stock meines Hauses wohnen, für fünfundvierzig Francs im Monat, und er würde nicht wie ein Bettler gekleidet herumlaufen.
Goriot nimmt eine tragische Haltung ein.
Stimmen: Nie hat er eine Tochter, nie eine Frau gehabt; leichtsinniger Lebenswandel hat ihn in ein schneckenartiges Wesen verwandelt, in eine menschenähnliche Molluske.
Stimmen allmählich durcheinander, übergehend in Musik und verzerrtes Spiel mit dem Wort MOLLUSKE.
3
Musik. Party-Szene. Im Hintergrund ein Mann und eine Frau tanzend. Im Vordergrund Eugene und die Beauseant sich unterhaltend.
Nasie läuft an Eugene vorbei; er dreht sich nach ihr um. Sie dreht sich ebenfalls um. Sie schauen sich an, gehen langsam aufeinander zu und tanzen zusammen.
Es sind nur jeweils die Beine der Figuren beleuchtet. Man unterscheidet sie durch das Schuhwerk.
Licht auf die Schattenwand. Musik wechselt in eine Art monotonen bedrückenden Klangteppich und Atem-Loop.
Man sieht den Schatten Vautrins und einen weiteren Schatten. Verfremdetes geheimnisvolles Flüstern (mit Hall?). Eugene tritt etwas entfernt hinzu, so dass auch sein Schatten sichtbar wird.
Stimme Vauquer: Wer geht da?
Der Schatten des anderen Mannes verschwindet auf einen Wink Vautrins.
Stimme Vautrin: Ich bin’s, Madame Vauquer, ich komme soeben nach Hause.
Eugene schleicht sich vorsichtig weg…
Stimme Vautrin (wiederholend?): Eugene?
…bis nur noch der Schatten Vautrins zu sehen ist. Dann Black und Klangteppich aus.
4
Stimmen. Später die Goriot-Puppe.
Vautrin: Oh oh, guten Morgen, Madame Vauquer.
Vauquer: Aber so hören Sie doch auf-
Vautrin: Sagen Sie nur ruhig: Sie Schlingel! Nur zu, sagen Sie es doch! Wollen Sie es wohl sagen! Warten Sie, ich werde Ihnen beim Tischdecken helfen. Bin ich nicht ein netter Kerl?
Couture, Victorine: Guten Morgen!
Vauquer: Wo waren Sie denn schon so früh am Morgen, meine Liebe?
Couture: Wir haben in St-Étienne du Mont unsere Andacht verrichtet. Wir wollen doch heute zu Monsieur Taillefer gehen.
Vautrin: Es ist sehr schön, Mademoiselle Victorine, den lieben Gott zu bitten, dass er das Herz Ihres Vaters erweicht. Aber das genügt nicht, Sie brauchen einen Freund, der diesem Schweinehund einmal gründlich die Meinung sagt, diesem Unmensch, der drei Millionen haben soll und der Ihnen keine Mitgift gibt. Auch ein hübsches Mädchen braucht heutzutage eine Mitgift!
Vauquer: Armes Kind! Warten Sie nur, mein Engel, dieses Ungeheuer von Vater wird sich noch selbst ins Unglück stürzen.
Couture: Wenn wir ihn nur mal sehen könnten, wenn ich ihn nur sprechen könnte, um ihm den letzten Brief seiner verstorbenen Frau zu zeigen. Ich habe nie gewagt, den Brief der Post anzuvertrauen; er kennt meine Handschrift-
Vautrin: Oh, ihr unschuldigen, unglücklichen und verfolgten Frauen! so schlimm steht es um euch? In einigen Tagen werde ich mich mal mit Ihren Angelegenheiten befassen – und alles wird gut.
Victorine: Ach, Monsieur! Wenn Sie ein Mittel wissen, um zu meinem Vater zu gelangen, so sagen Sie ihm, daß seine Liebe und die Ehre meiner Mutter mir kostbarer sind als alle Reichtümer der Welt. Wenn Sie es erreichten, ihn ein wenig milder zu stimmen, so will ich für Sie beten. Seien Sie überzeugt, dass meine Dankbarkeit-
Poiret, Goriot, Michonneau: Guten Morgen!
Die Goriot-Puppe taucht auf, mit Teller und Löffel vor sich.
Eugene: Guten Morgen!
Vauquer: Guten Morgen, Monsieur Eugene, heute frühstücken Sie mal mit der ganzen Gesellschaft zusammen.
Eugene: Ich habe soeben ein merkwürdiges Abenteuer erlebt.
Poiret: Ein Abenteuer?
Vautrin: Nun, wieso erstaunt Sie das, Sie alte Schlafmütze? Der junge Mann sieht doch wohl so aus, als könne er schon mal ein Abenteuer haben.
Vauquer: Also los, erzählen Sie uns Ihr Abenteuer!
Eugene: Gestern war ich auf dem Ball der Vicomtesse de Beauséant, meiner Cousine. Es war ein wundervolles Fest, und ich habe mich amüsiert wie ein König-
Vautrin: Wie ein Zaunkönig.
Eugene: Monsieur! Was wollen Sie damit sagen?
Vautrin: Ich sage Zaunkönig, weil Zaunkönige sich besser amüsieren als Könige.
Poiret: Das ist wahr, ich möchte auch lieber so ein kleiner Vogel ohne Sorgen sein als ein König, und zwar aus dem Grunde-
Eugene: Also ich tanzte mit einer der schönsten Damen auf dem Ball, einer bezaubernden Gräfin, dem lieblichsten Wesen, das ich jemals gesehen habe. Und nun, heute morgen, bin ich dieser göttlichen Frau begegnet; es war neun Uhr und sie ging zu Fuß durch die Rue des Grès. Mein Herz schlug wie wild, und ich stellte mir vor-
Vautrin: Sie käme hierher. Ihre Gräfin heißt Anastasie de Restaud und wohnt in der Rue du Helder.
Goriot hebt jäh den Kopf.
Vautrin: Ich habe richtig vermutet-
Eugene: Warum zum Teufel kennen Sie den Namen- ?
Vautrin: Na, was denn, Vater Goriot kennt ihn doch auch, warum sollte ich ihn nicht kennen?
Eugene: Monsieur Goriot?
Goriot: Was ist los? sie war also sehr schön gestern Abend?
Eugene: Wer denn?
Goriot: Nas- Madame de Restaud!
Vauquer: Nun sehen Sie sich diesen alten Gauner an! wie seine Augen leuchten!
Michonneau: Er hält sie wohl aus?
Eugene: Oh ja, Sie war hinreißend schön! Ohne Madame de Beauséant wäre meine göttliche Gräfin die Ballkönigin gewesen. Die Männer hatten nur Augen für sie. Die anderen Frauen schäumten vor Wut. Wenn eine gestern glücklich gewesen ist, so war sie es.
Vauquer: Aber worin bestand denn nun Ihr Abenteuer? Haben Sie mit ihr gesprochen?
Eugene: Sie hat mich gar nicht gesehen. Aber eine der hübschesten Pariserinnen um neun Uhr auf der Rue des Grès zu treffen, eine Frau, die erst um zwei Uhr morgens vom Ball zurückgekehrt sein muss, ist das nicht seltsam?
Vautrin: Bah!
Goriot taucht ab.
Vauquer: Na, haben Sie ihn beobachtet? Es ist doch wohl klar, dass Vater Goriot sich für solche Weiber zugrunde gerichtet.
Eugene: Niemals wird man mich davon überzeugen können, dass eine Schönheit wie die Gräfin de Restaud dem Vater Goriot – angehört.
Vautrin: Aber wir haben auch gar nicht die Absicht, Sie davon zu überzeugen. Sie sind noch viel zu jung, um Paris genau zu kennen. Später einmal werden Sie einsehen, dass bei uns auch alte Leute ihre Leidenschaften haben-
Michonneau: Jaja-
Vautrin: Jaja, Mademoiselle Michonneau, haben wir nicht auch unsere kleinen Leidenschaften? – Jetzt senkt unsere alte Jungfer verschämt den Blick, wie eine Nonne vor antiken Statuen.
Lachen, welches in das Vergnügtsein des folgenden Paares übergeht: Handpuppenspiel. Poiret und Michonneau als Handpuppen schlendern vergnügt Hand in Hand vorbei.
Vauquer: Poiret und die Michonneau! Die sind so gut wie verheiratet. Heute gehen sie zum ersten Mal miteinander aus. Wenn die zusammenstoßen, die beiden Fossilien, muss es Funken sprühen wie bei einem Feuerzeug!
Das vergnügte Lachen geht in das Weinen über, die Handpuppen tauchen ab und die Goriot-Puppe auf. Goriot isst, dann hält er inne und starrt durchgehend auf einen Punkt.
Victorine: (weint).
Couture: Ach, meine Liebe, stellen Sie sich vor, er hat Victorine nicht einmal einen Stuhl angeboten, sie musste die ganze Zeit über stehen. Mir hat er ganz kalt, ohne sich im geringsten zu erregen, gesagt, wir möchten uns künftig die Mühe dieser Besuche sparen. Mademoiselle – er nannte Victorine nicht ein einziges Mal seine Tochter – schade sich selbst, wenn sie ihn dauernd belästige. Dieses Scheusal! Einmal im Jahr kommen wir! Da Victorines Mutter bei der Verheiratung kein Vermögen besessen hätte, habe sie nichts zu beanspruchen. Kurz, er sagte die härtesten Dinge – die arme Kleine zerfloss in Tränen. Sie warf sich ihrem Vater zu Füßen und erklärte ihm mutig, daß sie nur um der Mutter willen darauf bestanden habe, ihn zu sprechen, dass sie seinen Befehlen widerspruchslos gehorchen wolle, dass sie ihn aber anflehe, den letzten Willen der armen Verstorbenen zu lesen. Sie nahm den Brief und hielt ihn ihm hin und sagte die schönsten und gefühlvollsten Dinge von der Welt – ich weiß nicht, wo sie sie hernahm. Gott hat sie ihr eingegeben, denn das arme Mädchen sprach so ergreifend, daß ich weinen musste wie ein Schloßhund. Wissen Sie, was dieser Unhold von einem Mann tat? Er schnitt sich die Nägel! Den Brief der armen Madame Taillefer, der noch die Spuren ihrer Tränen trug, warf er auf den Kamin, indem er sagte: ›Es ist gut!‹ Er wollte seine Tochter zum Aufstehen bewegen, sie nahm seine Hände, um sie zu küssen, aber er zog sie zurück. Ist das nicht ein Verbrechen? Sein großer Lümmel von Sohn kam ins Zimmer, ohne seine Schwester auch nur zu grüßen.
Goriot: Das sind ja die reinsten Ungeheuer.
Couture: Und dann verließen Vater und Sohn das Zimmer, indem sie mich verabschiedeten und sich entschuldigten. Sie hätten dringende Geschäfte. Das war alles! Wenigstens hat er endlich seine Tochter gesehen. Ich begreife nicht, wie er sie verleugnen kann; gleicht sie ihm doch wie ein Ei dem anderen!
Vautrin: Aber Mademoiselle, Sie essen ja nicht. Der Papa hat sich also wieder einmal widerspenstig gezeigt.
Couture: Eine Schande war es!
Vautrin: Man muss ihm mal Vernunft beibringen.
Eugene: Mademoiselle könnte doch eine Alimentationsklage anstrengen, da sie durch ihren Vater vom Essen abgehalten wird.
Vauquer: Ach, sehen Sie nur, wie Vater Goriot Mademoiselle Victorine anstarrt.
Goriot will den Löffel zum Mund führen, bekommt von Vautrin einen Klaps auf den Hinterkopf. Lachen. Mehrmalige Wiederholung, am Ende landet Goriots Gesicht im Suppenteller.
Goriot: Monsieur, das war ein dummer Streich, und wenn Sie sich noch einmal so etwas mit mir erlauben, dann-
Vautrin: Nun, was dann, Papa?
Goriot: Werden Sie einst schwer dafür büßen.
Vautrin: In der Hölle, nicht wahr? In diesem kleinen finsteren Loch, in das man die unartigen Kinder steckt?
Lachen.
5
Musik. Man sieht nur die Beine Eugenes, wie sie wartend wippen.
Licht hinter der Schattenwand. Man sieht die Goriotpuppe und Nasie. Entferntes Flüstern und Lachen, dann ein Kuss. Licht aus. Schließlich wird die Puppe zurück zum Bartresen gebracht, was Eugene mit den Augen verfolgt.
Parallel dazu sind nun die Beine eines zweiten Mannes – Maxime – zu sehen, ebenfalls wartend wippend. Nachdem Goriot weg ist, hört er auf zu wippen, macht einen Schritt vor und spricht.
Maxime: Ich gehe, Maurice. Sagen Sie Madame la Comtesse, daß ich mehr als eine halbe Stunde gewartet habe.
Nasie: Ah, Maxime, Sie wollten schon gehen?
Licht hinter der Schattenwand an. Nasie in einem Morgenrock, bewegt sich selbstverliebt zur Musik. Licht und Musik aus. Männliches Eifersuchts-Grummeln aus dem Mikro. Nasie tritt vor die Wand, man sieht nur ihre Beine. Sie geht an Eugene vorbei zu Maxime, bleibt aber in der Mitte stehen und dreht sich zu Eugene.
Nasie: Ah, Sie sind es, Monsieur de Rastignac – Es freut mich, Sie zu sehen.
Maxime: Meine Liebe, ich hoffe, dass du diesen Burschen hinauswerfen wirst.
In das Grummeln hinein wird die Nasie-Stimme mit dem Satz WARUM GEHEN SIE NICHT? geloopt. Dann alles aus.
Eugene: Madame, ich habe mich beeilt, Ihnen meine Aufwartung zu machen-
de Restaud als Stimme.
de Restaud: Guten Tag, Monsieur de Trailles!
Nasie: Monsieur de Restaud. Monsieur de Rastingnac. Monsieur de Rastignac ist ein Verwandter der Vicomtesse de Beauséant. Ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball der Madame de Beauséant kennenzulernen.
de Restaud: Ich bin entzückt, Monsieur, Ihre Bekanntschaft zu machen.
Musik. Ausblenden von Nasie und Maxime. Unverständliches Gespräch zwischen de Restaud und Eugene in die Musik hinein, während das Licht hinter der Schattenwand angeht: Nasie und Maxime treiben es miteinander. Zwischendurch immer mal die Stimme de Restauds: NASIE! und die Nasies: ICH KOMME! dann Licht aus.
Maxime: Ich hoffe, Nasie, daß Sie dieses Jüngelchen, dessen Augen wie Kohlen glühten, als Ihr Morgenrock sich öffnete, künftig abweisen lassen. Er könnte Ihnen Erklärungen machen, Sie kompromittieren, und Sie würden mich zwingen, ihn zu töten.
Nasie: Sind Sie toll, Maxime? Sind diese kleinen Studenten nicht ausgezeichnete Blitzableiter? Ich werde Restaud ein wenig gegen ihn aufhetzen.
Sie lachen. Nasie erscheint wieder auf der vorherigen Position. Musik und Gespräch aus.
de Restaud: Denk dir nur, meine Teure, das Gut der Familie des Monsieur liegt nicht weit von Verteuil an der Charente. Sein Großonkel und mein Großvater waren miteinander bekannt.
Nasie: Wie nett, dass wir so viele gemeinsame Bekannte haben.
Eugene: Mehr als man glaubt.
Nasie: Wie meinen Sie das?
Eugene: Nun, ich sah vorhin, wie ein Herr Ihr Haus verließ, mit dem ich Tür an Tür in derselben Pension wohne- den Vater Goriot.
Stille. Dann die Nasie-Stimme mit dem Satz WARUM GEHEN SIE NICHT? geloopt. Dann wieder aus.
de Restaud: Monsieur, Sie hätten wenigstens ›Monsieur Goriot‹ sagen können.
Nasie: Ich kenne niemanden, den wir lieber-
Eugene: Madame, Sie haben sicher mit Monsieur de Restaud etwas zu besprechen, seien Sie meiner Hochachtung versichert, und gestatten Sie mir-
Nasie: Wann immer Sie uns besuchen, werden Sie stets Monsieur de Restaud und mir den größten Gefallen tun.
Eugene wird ausgeblendet.
de Restaud: Maurice. Wann immer Monsieur erscheint, Madame und ich sind nicht zu sprechen.
Black.
6
Drei Stühle. Man sieht Madame de Beauséant sitzen, aber nur die Beine sind angeleuchtet. Die Beine von Eugene etwas abseits. dAjuda nur als Stimme.
dAjuda: Auf Wiedersehen.
Madame de Beauséant : Auf heute abend doch? Gehen wir nicht ins Theater?
dAjuda: Ich kann nicht.
Madame de Beauséant: Warum können Sie nicht ins Theater kommen?
dAjuda: Geschäfte! Ich diniere beim englischen Botschafter.
Madame de Beauséant: Sie werden absagen.
dAjuda: Sie fordern es?
Madame de Beauséant: Ja, gewiß!
dAjuda: Das ist es, was ich von ihnen hören wollte. – (leiser) Zu Monsieur de Rochefide!
Madame de Beauséant (schreibend): Da Sie bei Rochefide dinieren und nicht beim englischen Botschafter, schulden Sie mir eine Erklärung. Ich erwarte Sie! Claire. – Jacques! Sie werden um halb acht zu Monsieur de Rochefide gehen und sich nach dem Marquis d’Ajuda erkundigen. Befindet Monsieur le Marquis sich dort, so übergeben Sie ihm dieses Billett, ohne auf Antwort zu warten. Ist er nicht dort ist, so kommen Sie sofort mit meinem Brief zurück.
Eugene: (macht sich bemerkbar).
Madame de Beauséant: Verzeihen Sie, ich hatte einige Zeilen zu schreiben; jetzt stehe ich Ihnen ganz zu Ihrer Verfügung.
Black, dann wieder Licht. Eugene sitzt jetzt neben Madame de Beauséant auf einem der Stühle.
Madame de Beauséant: Also, lieber Cousin, womit kann ich Ihnen behilflich sein?
Eugene: Auf Ihrem Ball neulich war mir Madame de Restaud aufgefallen, und ich habe sie heute Vormittag besucht.
Madame de Beauséant: So müssen Sie ihr sehr ungelegen gekommen sein.
Eugene: Leider ja. Ich wollte Sie bitten, mir zu sagen, welche Dummheit ich begangen haben könnte. Ich erwähnte einen Vater-
Stimme: Madame la Duchesse de Langeais!
Ein weiteres Paar Frauenbeine taucht auf dem dritten Stuhl auf.
Antoinette: Guten Tag, meine Teure.
Madame de Beauséant: Welchem glücklichen Einfall verdanke ich das Vergnügen, Sie zu sehen, meine liebe Antoinette?
Antoinette: Oh, ich sah Monsieur d’Ajuda-Pinto bei Monsieur de Rochefide eintreten, und da dachte ich mir, dass Sie allein wären. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie beschäftigt sind-
Madame de Beauséant: Monsieur ist mein Cousin Eugene de Rastignac.
Antoinette: Claire, Sie wissen sicher, daß morgen das Aufgebot des Monsieur d’Ajuda-Pinto mit Mademoiselle de Rochefide veröffentlicht wird?
Madame de Beauséant: Das ist eins von den Gerüchten, an denen die Dummköpfe ihr Vergnügen haben. Warum sollte Monsieur d’Ajuda einen der bedeutendsten Namen Portugals gerade den Rochefides zum Geschenk machen? Leuten, deren Adel erst von gestern stammt?
Antoinette: Aber Berthe wird, wie man sagt, eine Rente von zweihunderttausend Francs beziehen.
Madame de Beauséant: Monsieur d’Ajuda ist zu reich, um solche Berechnungen anzustellen.
Antoinette: Aber, meine Teure, Mademoiselle de Rochefide ist ganz reizend.
Madame de Beauséant: Pah!
Antoinette: Aber wie dem auch sei, er diniert heute bei ihnen, und der Heiratsvertrag ist perfekt. Es erstaunt mich wirklich, daß Sie so schlecht informiert sind.
Madame de Beauséant: Was war das doch gleich für eine Dummheit, die Sie begangen haben?
Eugene: Ich habe unwissentlich Madame de Restaud einen Dolch ins Herz gestoßen. Ohne es zu ahnen, das ist mein ganzer Fehler. Ich verfiel darauf, ihnen von der Bekanntschaft mit einem Mann zu sprechen, den ich dabei beobachtet hatte, wie er das Haus über eine Geheimtreppe verließ, und der die Gräfin im Hintergrund des Korridors geküsst hatte.
beide Frauen (gleichzeitig): Wer war das?
Eugene: Ein alter Mann, der wie ich armer Student von zwei Louis im Monat hinten im Faubourg St-Marceau lebt, wirklich ein armer Kerl, über den sich alle Welt lustig macht und den wir Vater Goriot nennen!
Madame de Beauséant: Aber was sind Sie für ein Kind! Madame de Restaud ist eine geborene Goriot!
Antoinette: Die Tochter eines Nudelfabrikanten.
Eugene: Wie! Das ist ihr Vater?
Antoinette: Aber ja. Der Alte hat zwei Töchter, in die er geradezu vernarrt ist, obwohl die eine wie die andere ihn verleugnet.
Madame de Beauséant: Ist nicht die andere mit einem Bankier mit deutschem Namen verheiratet, einem Baron Nucingen? Heißt sie nicht Delphine? Eine Blondine, die eine Seitenloge in der Oper hat, die auch ins Theater geht und die sehr laut lacht, um sich bemerkbar zu machen?
Eugene: Sie haben ihren Vater verleugnet!
Madame de Beauséant: Ja, ja, ihren Vater, und er ist ein wahrer Vater, ein guter Vater, der jeder, wie man erzählt, fünf- bis sechshunderttausend Francs mitgegeben hat, um ihr Glück zu machen.
Antoinette: Dieser Vater hat alles hingegeben. Zwanzig Jahre lang hat er sein Innerstes, seine Liebe an seine Kinder verschwendet; an einem einzigen Tag hat er sein Vermögen verschenkt. Als die Zitrone so gründlich ausgepreßt war, warfen seine Töchter die Schale in die Gosse.
Madame de Beauséant: Die Welt ist wirklich gemein.
Antoinette: Gemein? Nein! sie geht ihren Gang, das ist alles. Aber ich lasse mich von der Welt nicht täuschen. Darum denke ich wie Sie. Die Welt ist ein Sumpfloch, versuchen wir, uns obenauf zu zu halten.
Black.
7
Musik. Die Schatten von Vautrin und Eugene. Musik aus.
Vautrin: Eugene – Wissen Sie, was Sie brauchen auf dem Weg, den Sie gehen? Eine Million, und zwar schnell. Diese Million – ich werde sie Ihnen verschaffen.
Eugene: Was muss ich denn tun?
Licht in einer entfernteren Ecke des Raumes. Man sieht den Saum eines Nachthemdes und nackte Mädchenfüße.
Vautrin: Fast nichts. Das Herz eines unglücklichen, liebebedürftigen jungen Mädchens ist wie ein gieriger Schwamm, der schwellend voll werden will von Liebe; ein ausgetrockneter Schwamm, der sich sofort mit allen Poren öffnet, wenn ein Tropfen Gefühl auf ihn fällt. Einer jungen Person den Hof zu machen, die in Einsamkeit, Verzweiflung und Armut dasitzt, ohne von ihrem künftigen Reichtum zu wissen, wahrhaftig, das heißt alle Trümpfe in der Hand haben, das heißt die Gewinnzahlen der Lotterie kennen, das heißt spekulieren, wenn man die Dinge im voraus weiß! Sie werden auf festem Fundament bauen, und ihre Ehe wird unzerstörbar sein. Fallen diesem jungen Mädchen Millionen zu, so wirft sie sie Ihnen zu Füßen, als wären es Kieselsteine.
Eugene: Wo aber so ein Mädchen hernehmen?
Vautrin: Sie gehört schon Ihnen, ist hier- in Ihrer Nähe!.
Eugene: Mademoiselle Victorine?
Vautrin: Sie ist bereits in Sie verliebt, Ihre kleine Baronin de Rastignac.
Eugene: Sie besitzt doch keinen Sou.
Vautrin: Ah! Da sind wir bereits bei der Sache. Vater Taillefer hat nur einen Sohn, dem er zum Schaden Victorines sein ganzes Vermögen hinterlassen will. Wenn es der Wille Gottes wäre, den jungen Taillefer zu sich zu rufen, so würde der Alte seine Tochter wieder aufnehmen. Victorine ist sanft und umgänglich, sie wird ihren Vater bald um den Finger wickeln und ihn tanzen lassen wie einen Brummkreisel; die Empfindsamkeit wird ihre Peitsche sein! Für Ihre Liebe wird sie viel zu empfänglich sein, um Sie zu vergessen. Sie werden sie heiraten. Ich für mein Teil nehme die Rolle der Vorsehung auf mich und werde dem Ratschluß Gottes ein wenig nachhelfen-
Eugene: Genug, Monsieur! Ich will nichts mehr hören.
Vautrin: Wie Sie wünschen, mein Bester! Denken Sie an das, was ich für Sie tun will. Ich gebe Ihnen vierzehnTage Frist- Sie haben die Wahl!
Vautrins Schatten verschwindet. Musik, und immer wieder eine weibliche Stimme, die EUGENE! ruft, sowie eine männliche, die VICTORINE! flüstert. (beide Stimmen mit Effekt). Dazu Schattenspiel hinter der Wand: Victorine bläst Eugene einen. Irgendwann Licht und Musik aus.
8
Die Beine von Madame de Beauséant und Eugene. dAjudas Stimme.
dAjuda: Ich bin meinen Verpflichtungen davongelaufen, denn es drängte mich, Sie zu sprechen.
Madame de Beauséant: Wie steht es um Ihre Bekanntschaft mit Madame de Nucingen? Ist es möglich, dass Sie ihr Monsieur de Rastignac vorstellen?
dAjuda: Sie wird entzückt sein, ihn kennenzulernen.
Madame de Beauséant wird ausgeblendet. Dafür Licht auf Delphines Beine, die auf einem Stuhl sitzt, die Beine übereinandergeschlagen. Ihre Schuhe stehen neben ihr.
dAjuda: Gnädige Baronin, ich habe die Ehre, Ihnen den Chevalier Eugene de Rastignac vorzustellen, einen Cousin der Vicomtesse de Beauséant.
Musik. Delphine streckt ihre Beine aus, Eugene zieht ihr die Schuhe an, wobei er über ihre Beine streicht. Eugene zieht Delphine hoch, sie tanzen zur Musik. In die Musik hinein spricht eine Frauenstimme mit Delay den Namen DE MARSEY mehrmals in sehnsuchtsvoll-erotischem Ton. Dann Musik aus, das Tanzpaar bleibt im Freeze stehen. Licht auf Madame de Beauséants Beine.
dAjuda: Ihr Cousin ist nicht mehr wiederzuerkennen. Er ist geschmeidig wie ein Aal, ich glaube, er wird es weit bringen. Sie allein vermochten ihm eine Frau zuzuführen, gerade dann, wenn sie Trost braucht.
Madame de Beauséant: Es fragt sich nur, ob sie nicht den noch liebt, der sie verlässt.
Black.
9
Die Goriot-Puppe. Eugene als Stimme.
Eugene: Ach, Monsieur Goriot, wie können Sie in einem solch elenden Hundeloch hausen, während es Ihren Töchtern so glänzend geht?
Goriot: Ach, wozu sollte ich denn besser wohnen? Hier sitzt bei mir alles. Meine Töchter sind der ganze Inhalt meines Lebens. Wenn sie sich amüsieren, wenn sie glücklich sind und gut angezogen, was macht es dann aus, was ich anziehe und wo ich mich zur Ruhe lege? Mir ist nicht kalt, wenn sie es warm haben, und wenn sie lachen, wie könnte ich mich da grämen? Ich kenne keinen anderen Kummer als den ihren. – Mein Gott, wenn ein Mann meine kleine Delphine so glücklich machen würde, wie es eine Frau ist, die wirklich geliebt wird – ich würde ihm die Stiefel putzen, ich würde alles für ihn tun.
Eugene:. Was mich betrifft, so habe ich mich heute Abend in Madame Delphine verliebt.
Goriot: Ah!
Eugene: Ja. Ich habe ihr nicht mißfallen. Wir haben eine Stunde lang von nichts anderem als der Liebe gesprochen, und am Sonnabend, also übermorgen, soll ich sie besuchen.
Goriot: Oh, wie ich Sie lieben würde, Monsieur, wenn Sie meiner Tochter gefielen. Sie sind gut, Sie werden sie nicht quälen. Aber, wenn Sie sie hintergingen, so würde ich Ihnen auf der Stelle die Kehle durchschneiden. – Mein Gott, Sie haben sich also mit ihr unterhalten! Was hat sie Ihnen für mich aufgetragen?
Musik. Stimme aus dem Off, wiederholend: NICHTS!
Eugene: Sie läßt Ihnen durch mich- viele liebe Grüße senden.
Musik und Stimme eine Weile weiter, während Goriot Gesten des Glücks vollführt. Dann Black.
10
Delphine am Boden, wie erschöpft. Man sieht nur ihre Beine. Eugene nur als Stimme. Vor Eugenes erster Replik längeres Schweigen.
Eugene: Aber was haben Sie?
Delphine: Ich bin nicht glücklich. Die goldenen Ketten sind die schwersten.
Eugene: Was könnten Sie sich noch wünschen, Sie sind schön, jung, reich, geliebt!
Längeres Schweigen.
Delphine: Sie lieben mich wirklich?
Eugene: Ja.
Delphine: Sie werden nichts Schlechtes von mir denken, um was immer ich Sie auch bitten werde?
Eugene: Nein.
Delphine: Nehmen Sie meine Börse. Sie enthält hundert Francs, das ist alles, was diese so glückliche Frau besitzt. Gehen Sie in eins der Spielhäuser. Riskieren Sie die hundert Francs beim Roulette, verlieren Sie, oder bringen Sie mir sechstausend Francs. Ich werde Ihnen von meinen Sorgen erzählen, wenn Sie zurückgekehrt sind.
Musik. Delphine verharrt eine ganze Weile in derselben Haltung. Musik aus.
Eugene: Sechstausend Francs gewonnen!
Delphine: Sie haben mich gerettet!
Delphine steht auf und geht ein paar Schritte. Black und gleichzeitig die Schatten von Eugene und Delphine, die sich gegenüberstehen, hinter der Schattenwand. Delphine umarmt ihn und küsst ihn einmal. Black, dann wieder Licht auf die Beine Delphines am Boden, an der früheren Stelle. Dazu drei weibliche Stimmen, die die Repliken durcheinander sprechen, dabei immer lauter und aufgeregter werden. Delphines Stimme beginnt.
Stimmen:
(1) Sie müssen wissen, dass mein Mann mich nicht über einen Sou verfügen läßt. Meine Ersparnisse und das Geld, das mir mein armer Vater gab, habe ich verbraucht, und dann stürzte ich mich in Schulden.
(2) Sie können sich nicht vorstellen, was für Qualen ich heute gelitten habe, als Nucingen mir hartnäckig die sechstausend Francs verweigerte. Eine Summe, die er seiner Geliebten, einer Schauspielerin, jeden Monat schenkt!
(3) Sollte ich zu meinem Vater gehen? Torheit! Anastasie und ich, wir haben ihn ja bereits völlig zugrunde gerichtet; ich glaube, mein armer Vater würde sich selbst verkaufen, wenn er sechatausend Francs wert wäre.
Die Stimmen brechen mit einem Mal ab. Längeres Schweigen.
Delphine: Sie haben mich gerettet!
Black und gleichzeitig die Schatten von Eugene und Delphine, die sich gegenüberstehen, hinter der Schattenwand. Delphine umarmt ihn und küsst ihn einmal. Eugene zieht sie an sich, will sie küssen. Musik. Sie schiebt ihn weg. Er versucht es noch mal. Sie will sich ihm entziehen, er hält sie fest und versucht es wieder, sie stößt ihn von sich. Black.
11
Musik. Der Schatten von Eugene, der unruhig hin und her läuft. Die verfremdete Stimme Vautrins, die in Schleife den Satz Denken Sie an das, was ich für Sie tun will- Sie haben die Wahl! wiederholt. Musik und Stimme aus.
Licht in einer entfernteren Ecke des Raumes. Man sieht den Saum eines Nachthemdes und nackte Mädchenfüße. Eugene bleibt stehen. Schweigen.
Victorine: Haben Sie irgendeinen Kummer, Monsieur Eugene?
Eugene: Welcher Mann hat nicht seinen Kummer? Wenn wir wüßten, wir jungen Männer, daß man uns wahrhaft liebte, mit einer Ergebenheit, die uns für die Opfer entschädigte, die wir stets zu bringen bereit sind, so hätten wir vielleicht niemals Kummer.
Schweigen. Hörbares Atmen, das noch im folgenden weiter zu hören ist.
Eugene: Sie, Mademoiselle, meinen heute ihr Herz zu kennen; aber können Sie dafür einstehen, dass ihre Gefühle von Dauer sind?
Victorine: Ja-
Eugene: Wirklich? Und wenn Sie morgen reich und glücklich wären, wenn Ihnen ein ungeheures Vermögen zufiele, würden Sie dann noch immer den armen jungen Mann lieben, der ihnen in den Tagen Ihres Elends gefallen hat?
Victorine: Ja-
Eugene: Einen recht unglücklichen jungen Mann?
Victorine: Ja-
Victorine wird ausgeblendet. Das Atmen läuft eine Weile weiter, dazu in einem bestimmten Intervall das JA Victorines in Schleife. Vautrins Schatten taucht auf, mit ihm plötzliche Stille.
Vautrin: Ich wußte ja, daß Sie dahin kommen würden
Eugene: ich werde Mademoiselle Taillefer auf keinen Fall heiraten.
Vautrin lacht. Vautrin ausblenden. Das Lachen mit Delay unterlegen. Musik. Lachen aus. Die Goriot-Puppe taucht auf. Musik aus.
Goriot: Sie sind traurig, mein Sohn! Ich werde Sie aufheitern. – Sie glauben, daß Delphine Sie nicht liebt, nicht wahr?
Schweigen.
Goriot: Sie will Sie damit überraschen, aber ich bringe es nicht fertig, Ihnen das Geheimnis länger zu verbergen.
Ein Puppenhaus taucht auf.
Goriot: In drei Tagen werden Sie einziehen können.
Schweigen.
Goriot: Mein lieber Junge, ich habe für diese Sache mein Letztes hingegeben. Aber sehen Sie, es war viel Egoismus von mir dabei; ich habe bei Ihrem Wohnungswechsel meinen eigenen Vorteil mit im Auge. Sie werden mir eine Bitte nicht abschlagen, wie?
Eugene: Was ist es denn?
Goriot: Im obersten Stock des Hauses befindet sich noch ein Zimmer- da werde ich wohnen, nicht wahr? Ich werde Ihnen bestimmt nicht lästig fallen. – Oh, behalten Sie mich bei sich! – Sie werden Delphine heute Abend sehen, sie erwartet Sie. Ihr Mann, der grobe Klotz von Elsässer, speist bei seiner Schauspielerin. – Also, Sie nehmen mich doch zu sich, nicht wahr?
Eugene: Ja, mein guter Vater Goriot, Sie wissen doch, wie sehr ich Sie liebhabe.
Goriot: Ich sehe es, Sie schämen sich meiner nicht- Sie nicht! – Sie müssen sie recht glücklich machen, versprechen Sie mir das! – Sie gehen heute Abend zu ihr, nicht wahr?
Eugene: Ja natürlich! Ich habe aber noch etwas ganz Unaufschiebbares zu erledigen.
Goriot: Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?
Eugene: Tatsächlich, ja. Während ich zu Madame de Nucingen gehe, gehen Sie zu dem alten Taillefer, dem Vater von Mademoiselle Victorine und fragen ihn, wann ich ihn noch heute Abend in einer sehr dringlichen Sache sprechen könne.
Goriot: Ist es also wahr, Sie machen seiner Tochter den Hof, wie die Dummköpfe hier in der Pension erzählen?
Goriot ballt wütend die Faust.
Eugene: Ich schwöre Ihnen, daß ich nur eine Frau auf der Welt liebe. Delphine. Seit diesem Augenblick weiß ich es genau.
Goriot: Ah! Welches Glück!
Eugene: Aber der junge Taillefer schwebt in Lebensgefahr-
Goriot: Was geht das Sie an?
Eugene: Aber man muß dem Vater sagen, daß er seinen Sohn-
Vautrins Schatten. Bedrohliche Musik. dann Black.
12
Handpuppenspiel: Poiret, Michonneau und Goudureau.
Goudureau: Also, wir haben nunmehr die vollständige Gewißheit, daß der angebliche Vautrin, wohnhaft im Hause Vauquer, ein aus dem Lager von Toulon entwichener Sträfling ist, der dort unter dem Namen Trompe-la-Mort bekannt ist.
Poiret: Ah! Trompe-la-Mort! Er ist glücklich dran, wenn er sich diesen Namen erworben hat.
Goudureau: Sicher, diesen Spitznamen verdankt er dem Umstand, daß er bei seinen höchst gewagten Unternehmungen stets mit dem Leben davongekommen ist. Der Kerl ist gefährlich, müssen Sie wissen! Er hat Eigenschaften, die ihn als außerordentlichen Menschen erscheinen lassen. Ja selbst seine Verurteilung hat sein Ansehen in den Augen seiner Anhänger unendlich erhöht.
Poiret: Er ist also ein Ehrenmann?
Goudureau: Auf seine Weise, ja. Er hat das Verbrechen eines anderen auf sich genommen, eine Fälschung, die ein schöner junger Mann, ein Italiener, den er sehr liebte, beging.
Michonneau: Aber wenn die Polizei sicher ist, daß Vautrin und Trompe-la-Mort ein und dieselbe Person sind, wozu hat sie dann mich nötig?
Goudureau: Gewißheit ist nicht das richtige Wort; es besteht nur eine Vermutung. Jacques Collin, genannt Trompe-la-Mort, genießt das volle Vertrauen von drei Sträflingen, die ihn zu ihrem Agenten und Bankier erwählt haben. Er verdient eine Menge Geld durch diese Art von Geschäften, die natürlich nur ein ausgezeichneter Mann führen kann.
Poiret: Ha, ha! Verstehen Sie das Wortspiel, Madame Michonneau? Monsieur nennt ihn einen ausgezeichneten Mann, weil er mit der Brandmarke ›ausgezeichnet‹ ist.
Goudureau: Der falsche Vautrin erhält das Vermögen der Herren Sträflinge, er legt es an, er verwahrt es für sie, er hält es für die, die ausbrechen, zur Verfügung. er übergibt es den Familien der Sträflinge, wenn es testamentarisch festgelegt ist, oder ihren Geliebten, wenn man ihn dazu auffordert.
Poiret: Ihren Geliebten! Sie meinen, ihren Frauen.
Goudureau: Nein, Monsieur. Der Sträfling hat gewöhnlich nur illegitime Gefährtinnen, die wir Konkubinen nennen.
Poiret: Sie leben also alle in wilder Ehe?
Goudureau: Im Allgemeinen ja.
Poiret: Aber das sind ja grauenhafte Zustände, die die Polizei nicht dulden dürfte. Sie sollten den Polizeiminister über den unsittlichen Lebenswandel dieser Leute aufklären, die der übrigen Gesellschaft ein so schlechtes Beispiel geben.
Goudureau: Die Regierung, Monsieur, nimmt Verbrecher nicht in Gewahrsam, um Muster an Tugend aus ihnen zu machen.
Poiret: Das stimmt schon. Gestatten Sie mir dennoch, Monsieur, zu bemerken-
Michonneau: So lassen Sie doch Monsieur einmal ausreden, mein Lieber.
Goudureau: Sie werden begreifen, Mademoiselle, dass der Regierung viel daran gelegen ist, die illegale Kasse, die einen sehr hohen Betrag enthalten soll, in die Hand zu bekommen. Trompe-la-Mort ergreifen und seine Kasse beschlagnahmen hieße das Übel mit der Wurzel ausrotten.
Michonneau: Aber weshalb brennt denn der Trompe-la-Mort nicht mit der Kasse durch?
Goudureau: Oh! wo er auch hinginge, würde ihm einer auflauern und ihn zu töten. Und eine Kasse läßt sich auch nicht so leicht entführen wie ein junges Mädchen aus gutem Hause. Übrigens würde Collin so etwas gar nicht tun, er käme sich entehrt vor.
Poiret: Sie haben recht, er wäre vollkommen entehrt.
Michonneau: Aber all das erklärt uns noch nicht, warum Sie nicht selbst einfach kommen und sich seiner bemächtigen.
Goudureau: Auch das will ich Ihnen beantworten, Mademoiselle. Aber veranlassen Sie doch diesen Monsieur da, dass er mich nicht mehr unterbricht, sonst werden wir niemals fertig. Er ist offenbar recht eingebildet, daß er sich selbst so gern hört. – Als Trompe-la-Mort nach Paris kam, ist er als ehrlicher Mensch aufgetreten, er ist Bürger der Stadt geworden und hat sich in einer unauffälligen Pension einquartiert. Er ist ein gerissener Bursche, und man wird ihn niemals unvorbereitet überraschen. Kurz, Monsieur Vautrin gilt als hochgeachteter Mann, der bedeutende Geschäfte abschließt.
Poiret: Natürlich- Äh, Verzeihung.
Goudureau: Der Minister will nicht die ganze Pariser Handelswelt und die öffentliche Meinung gegen sich aufbringen, falls man sich täuschen und einen echten Vautrin verhaften würde. Man muß also seiner Sache ganz sicher sein!
Michonneau: Ja, und dazu haben Sie eine hübsche Frau nötig.
Goudureau: Trompe-la-Mort ließe keine Frau an sich heran. Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten: Er liebt die Frauen nicht.
Poiret: Aber ich, äh, also wenn Sie glauben, ich würde-
Michonneau: Aber dann begreife ich nicht, was ich bei der ganzen Sache soll; angenommen, ich würde für zweitausend Francs einwilligen.
Goudureau: Ihre Aufgabe ist ganz leicht. Ich werde Ihnen ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit geben, die, dem Wein oder Kaffee beigemischt, eine tiefe Ohnmacht hervorruft. Sie legen den Mann sofort aufs Bett und entkleiden ihn, angeblich um zu sehen, ob sein Zustand nicht lebensgefährlich ist. Sobald Sie allein sind, geben Sie ihm einen kräftigen Schlag auf die Schulter, paff!, und Sie werden sehen, wie die Buchstaben seiner Brandmarke erscheinen. Nun, sind Sie einverstanden?
Michonneau: Wenn nun aber keine Buchstaben zum Vorschein kommen, bekomme ich dann ebenfalls die zweitausend Francs?
Goudureau: Nein.
Michonneau: Wie hoch wäre dann die Entschädigung?
Goudureau: Fünfhundert Francs.
Michonneau: Für so eine gewagte Sache so wenig Geld! Das Gewissen wird in beiden Fällen gleich schwer belastet, und ich muß mein Gewissen beruhigen, Monsieur. – Nun gut, geben Sie mir dreitausend Francs, wenn Vautrin Trompe-la-Mort, und nichts, wenn er ein braver Bürger ist.
Goudureau: Abgemacht, aber unter der Bedingung, daß die Sache morgen erledigt wird.
Goudureau taucht ab.
Michonneau: Hm. Wenn Vautrin Trompe-la-Mort ist, wäre es vielleicht lohnender, sich mit ihm zu verständigen. Aber wenn man von ihm Geld verlangt, so warnt man ihn, und er ist imstande, sich gratis aus dem Staub zu machen. Das wäre ein schöner Reinfall.
Poiret: Und es ist ein Akt der Gesetzestreue, die Gesellschaft von einem Verbrecher zu befreien, so tugendhaft er auch sein mag. – Wenn es ihm nun einfiele, uns alle umzubringen? wir wären selbst schuld an diesen Morden, ganz abgesehen davon, daß wir wohl die ersten Opfer wären.
Es folgt ein Spiel allmählicher Annäherung, das mit ekstatischem Beischlaf endet.
13
Die Goriot-Puppe am Tresen, und Eugene auf einem Stuhl sitzend, nur die Beine angeleuchtet. Vautrins Stimme, dann die drei Repliken. Alles in Schleife wiederholen, aber Eugenes und Goriots Sätze zunehmend verwaschener und bruchstückhafter gesprochen. Puppe und Eugene rutschen mit jeder Runde mehr in sich zusammen.
Vautrin: Noch eine Flasche Bordeaux!
Eugene: Aber der junge Taillefer schwebt in Lebensgefahr-
Goriot: Was geht das Sie an?
Eugene: Aber man muß dem Vater sagen, daß er seinen Sohn-
Schließlich liegt Goriot schlafend über dem Tresen, und Eugene ist auf den Boden gerutscht. Der Goriot-Puppenspieler bewegt die leblose Puppe, während ein anderer Spieler die leblosen Beine Eugenes bewegt.
Stimme Vautrins: So, die beiden haben genug, die sind fertig.
Vautrin lacht. Die zwei Spieler ziehen sich zurück. Vautrin taucht als Schatten vor der Wand auf; das Licht bewegen, so dass der Schatten wabert. Vautrins Stimme aus dem Off, mit Delay verfremdet.
Vautrin: Mein Kleiner, wir sind noch nicht gerissen genug, um es mit Papa Vautrin aufzunehmen. Und er liebt Sie auch zu sehr, um Sie Dummheiten begehen zu lassen. Wenn ich einmal etwas beschlossen habe, so ist nur der liebe Gott stark genug, mir den Weg zu verbauen. Ah, wir wollten also Vater Taillefer warnen!
Lachen Vautrins. Victorine, wieder nur die nackten Füße, taucht auf. Während sie langsam zu Eugene geht und seinen Kopf auf ihren Schoß bettet, singt Vautrin:
Schlaf, mein Kindchen, schlaf recht fein,
Ich werde stets dein Hüter sein.
Vautrin: Bleiben Sie bei ihm, und pflegen sie ihn. Das ist Ihre Pflicht als seine zukünftige gehorsame Frau. Er betet Sie an, der junge Mann, und Sie werden einmal sein Frauchen, das prophezeie ich Ihnen.
Schweigen.
Vautrin: Armes Kind, schlafe nur, das Glück kommt manchmal im Schlaf. Der ist es wert, geliebt zu werden. Wäre ich eine Frau, so wollte ich für ihn sterben – nein, das wäre dumm – ich wollte für ihn leben.
Victorine beugt sich über Eugene, so dass ihr Haar über seinen Kopf fällt. Der Schatten Vautrins verschwindet. Die Stimme Delphines:
Ich bin weder gekränkt noch Ihnen böse, mein Freund. Ich habe bis zwei Uhr nachts auf sie gewartet. Einen Menschen erwarten, den man liebt – wer diese Qual kennt, wird sie niemandem zumuten. Ich sehe wohl, daß Sie zum ersten Mal lieben. Was ist geschehen? Ich bin in größter Unruhe. Beruhigen Sie mich, erklären Sie mir, weshalb Sie nicht kamen – nach alledem, was mein Vater Ihnen gesagt haben muss. Was ist geschehen?
Black. Musik. Licht hinter der Schattenwand, man sieht Vautrins Schatten, wie er jemanden tötet. Licht und Musik aus. Eugene als Stimme.
Eugene: Ja, was ist geschehen? Wie spät ist es?
Vautrins Schatten hinter der Schattenwand. Er trinkt schlürfend eine Tasse Kaffee.
Vautrin: Fünf nach Zwölf.
Lachen, dann Schweigen.
Eugene: Ich werde niemals Mademoiselle Victorine heiraten.
Vautrin lacht (Delay?), plötzlich stockt er und stürzt zu Boden. Schepperndes Geräusch aus dem Off und Black. Michonneaus Stimme, mehrmals wiederholend: EIN SCHLAGANFALL!
Licht auf die Handpuppenbühne. Michonneau und Poiret mit Vautrin, den man aber nicht sieht.
Michonneau: Los, ziehen Sie ihm schnell das Hemd aus, und legen Sie ihn auf den Rücken! So seien Sie doch nur einmal zu etwas nütze, und ersparen Sie mir den Anblick seiner Nacktheit!
Poiret hilft ihr. Michonneau gibt Vautrin einen starken Schlag auf die Schulter.
Poiret: Na also, da haben Sie Ihre dreitausend Francs bequem verdient.
Sie ziehen Vautrin wieder an und drehen ihn zurück.
Poiret: Uff! Ist der schwer.
Michonneau: Still.Wenn die Kasse nun hier wäre? Könnte man nicht diesen Schreibtisch hier unter irgendeinem Vorwand öffnen?
Poiret: Das wäre aber ein Unrecht.
Michonneau: Keineswegs. Gestohlenes Geld, das aller Welt gehört hat, gehört niemandem mehr-
Das Licht hinter der Schattenwand geht an. Die Puppen erschrecken und tauchen ab. Vautrins Schatten erhebt sich langsam und schwankend. Musik. Drei Schatten stürzen sich auf ihn und wollen ihn packen. Er wehrt sich, während aus dem Off verfremdetes Brüllen zu hören ist. Goudureau erscheint an der Handpuppenbühne. Schließlich haben die drei Schatten Vautrin überwältigt. Musik aus.
Vautrin: Ich gestehe, Jacques Collin zu sein, genannt Trompe-la-Mort, verurteilt zu zwanzig Jahren Kettenhaft. Und ich habe eben bewiesen, daß ich meinen Spitznamen nicht gestohlen habe. Hätte ich nur die Hand erhoben, so hätten die drei Spitzel da meinen ganzen Gehirnbrei auf Mama Vauquers guter Stube verspritzt.
Black. Ein Licht bewegt sich wie ein Suchscheinwerfer durch das Publikum.
Vautrin: Seid ihr vielleicht besser als wir? Wir haben weniger Niederträchtigkeit auf dem Buckel als ihr im Herzen – ihr faulenden Glieder einer verderbten Gesellschaft!
Den Halbsatz nach dem Bindestrich wiederholen, mit Delay und immer schneller und lauter werdend, während das Licht immer schneller kreist. Musik hinein, dann Black.
14
Die Goriot-Puppe. Eugene als Stimme.
Goriot: Kommen Sie.
Eugene: Wissen Sie nicht, was hier vorgefallen ist? Vautrin ist ein entlaufener Sträfling und ist soeben verhaftet worden, und der junge Taillefer ist tot.
Goriot: Nun, wenn schon, was geht das uns an? Ich diniere heute mit meiner Tochter, bei Ihnen, verstehen Sie? Sie erwartet Sie, kommen Sie mit!
Die Goriot-Puppe wird ausgeblendet. Licht auf das Puppenhaus. Vor dem Puppenhaus drei Püppchen, die Eugene, Delphine und Goriot darstellen. Sie werden im folgenden von den zwei Spielern geführt, die nicht Goriot, Delphine und Eugene sprechen. Eugene und Delphine gehen langsam aufeinander zu, während Goriot stehenbleibt und spricht.
Goriot: Wir drei essen zusammen. Zusammen, verstehen Sie? Vier Jahre sind es her, daß ich das letzte Mal mit meiner Delphine, meiner kleinen Delphine, diniert habe. Den ganzen Abend werde ich sie für mich haben. Oh! Wie lange war ich nicht mehr so ungestört mit ihr zusammen, wie wir es heute sein werden!
Eugene und Delphine stehen sich gegenüber und halten sich an den Händen.
Goriot: Ich wußte ja, daß er dich liebt.
Delphine: Kommen Sie, Sie müssen sich alles anzuschauen.
Während Goriot draußen bleibt, gehen Delphine und Eugene durch alle Räume bis zum Schlafzimmer.
Eugene: Hier fehlt ein Bett.
Delphine: Ja, Monsieur?
Delphine schubst Eugene auf das Bett. Wilder Sex, von Lauten der Lust begleitet. Möbel könnten umfallen. Zwischendrin ruft der wartende Goriot immer mal so was wie DELPHINE? ALLES IN ORDNUNG? usw. Die Püppchen gehen schließlich wieder langsam nach draußen.
Delphine: Nun, hat man Ihre Wünsche richtig erraten?
Eugene: Ja, nur zu gut.
Goriot: Ich habe alle Rechnungen bezahlt. Sie schulden keinen Centime mehr für all das, was Sie hier sehen.
Eugene und Delphine umarmen Goriot.
Goriot: Nun, was ist schon dabei, seid ihr denn nicht meine Kinder?
Delphine: Aber mein armer Vater, wie haben Sie das nur möglich gemacht?
Peinliches Schweigen.
Goriot: Ich habe da oben ein Zimmerchen für fünzig Taler im Jahr, ich kann mit zwei Francs am Tag wie ein Fürst leben, und ich habe sogar noch etwas übrig. Ich brauche kaum noch etwas, nicht einmal neue Kleider – Und, seid ihr glücklich?
Delphine: Oh Papa! Lieber Vater, du bist ein wahrer Vater. Nein, solch einen Vater gibt es auf der Welt nicht wieder. Eugene hat dich schon vorher sehr lieb gehabt, wie wird es jetzt erst sein!
Goriot: Um deinetwegen hat er Mademoiselle Taillefer und ihre Millionen ausgeschlagen. Ja, sie liebte ihn, die Kleine, und jetzt, da ihr Bruder tot ist, ist sie eine steinreiche Frau!
Eugene: Warum müssen Sie das jetzt sagen-?
Delphine: Ach, Eugene, wie sehr will ich Sie lieben, heute und immer!
Goriot: Das ist der schönste Tag, den ich seit deiner Hochzeit erlebe. Der liebe Gott mag mich leiden lassen, soviel er will, nur nicht durch euch.
Delphine: Der arme Vater!
Goriot: Wenn du wüßtest, mein Kind, mit wie wenigem du mich glücklich machen kannst! Komm nur manchmal zu mir hinauf, es kostet dich nur ein paar Schritte. Versprichst du mir das?
Goriot: Sag es noch einmal!
Delphine: Ja, mein guter Vater.
Goriot: Oh, sei still, wenn es nach mir ginge, müsstest du es noch hundertmal wiederholen! Lasst uns essen.
Die Spieler setzen die Püppchen in das Esszimmer. Die Sprecher deuten die Stimmung bei Tisch durch unterschiedliches Lachen an: Goriots ist ausgelassen, Delphines genervt, Eugenes verunsichert. Schließlich stehen Eugene und Delphine auf und verlassen das Zimmer.
Delphine: Sehen Sie, wenn mein Vater mit uns zusammen ist, muß man ganz für ihn da sein. Das kann mitunter etwas lästig werden.
Eugene: Wir müssen uns also heute Abend trennen?
Delphine: Ja. Aber morgen werden wir uns wiedersehen, morgen ist unser Theaterabend.
Goriot: Ich werde im Parterre sein.
Black.
15
Musik. Nacheinander tauchen auf: die Goriot-Puppe, Delphines Beine, Nasies Beine. Musik aus.
Nasie: Guten Tag, Vater. Ah, du hier, Delphine?
Delphine: Guten Tag, Nasie. Findest du es seltsam, daß ich hier bin? Ich für meinen Teil besuche Vater täglich.
Nasie: Seit wann das?
Delphine: Wenn du öfter kämst, wüsstest du es.
Nasie: Quäle mich nicht, Delphine. Ich bin todunglücklich, ich bin verloren!
Goriot: Was hast du, Nasie?
Nasie: Mein Mann weiß alles. Vater, vor einiger Zeit – Maximes Wechsel – Nun, es war nicht der erste. Ich hatte bereits viele bezahlt– und dann gestand er mir, dass er hunderttausend Francs Schulden habe! Oh! Papa, hunderttausend Francs! Ich wusste, du hattest sie nicht, hatte ich dir doch schon alles genommen- Und so habe ich mir das Geld verschafft, indem ich über Dinge verfügte, die mir nicht gehörten. Um Maxime, um mein Glück zu retten, habe ich die Familiendiamanten von Monsieur de Restaud, seine und meine, alle, verkauft- Ich habe sie verkauft, verkauft, versteht ihr? Er ist gerettet, aber ich, ich bin verloren. Restaud hat alles erfahren.
Die Stimme de Restauds, eventuell verfremdet mit Delay oder ähnliches.
de Restaud: Anastasie , ich will über die ganze Sache Stillschweigen bewahren, wir werden zusammenbleiben, denn wir haben Kinder- Ist eines der Kinder von mir?
Nasie: Ja.
de Restaud: Welches?
Nasie: Ernest, unser Ältester.
de Restaud: Gut. Und noch etwas. Sie werden Ihr ganzes Vermögen auf mich überschreiben, sobald ich es von Ihnen verlange.
Nasie: Das ist aber noch nicht alles, Vater. Für die Diamanten haben wir keine hunderttausend Francs bekommen. Maxime wird gerichtlich verfolgt. Wir haben nur noch zwölftausend Francs zu zahlen. Er hat mir versprochen, vernünftig zu werden und nicht mehr zu spielen. Mir bleibt auf dieser Welt nur noch seine Liebe, und ich habe sie so teuer bezahlt, daß ich sterben würde, wenn ich sie verlieren würde. Alles habe ich ihm geopfert, mein Vermögen, meine Ehre, meine Ruhe, meine Kinder. Oh, sorgen Sie dafür, daß Maxime frei und in Ehren bleibt! Alles ist verloren, wenn man ihn ins Gefängnis wirft.
Goriot: Ich habe kein Geld mehr, Nasie! Nichts mehr, nichts!
Nasie: Was haben Sie denn mit Ihrer Rente auf Lebenszeit gemacht?
Goriot: Ich habe sie verkauft und nur noch eine kleine Summe für meine eigenen Bedürfnisse zurückbehalten. Ich brauchte zwölftausend Francs, um Fifine ein Haus einzurichten.
Nasie: Ich verstehe. Für Monsieur de Rastignac. Ah!
Delphine: Meine Teure, Monsieur de Rastignac bringt es wenigstens nicht fertig, seine Geliebte zu ruinieren.
Nasie: Danke, Delphine! In meiner gegenwärtigen bedrängten Lage hätte ich etwas Besseres von dir erwartet; aber du hast mich nie geliebt.
Goriot: Doch, sie liebt dich, Nasie!
Delphine: Und wie hast du dich gegen mich benommen? Du hast mich verleugnet. Du hast nicht die geringste Gelegenheit versäumt, mir Schmerz zu bereiten. Und ich, bin ich hergelaufen wie du, um dem armen Vater tausendfrancweise sein Vermögen zu entziehen, und ihn so weit zu bringen, wie er heute ist? Das ist dein Werk, Schwesterchen. Ich habe Vater so oft besucht, wie ich konnte, ich habe ihm nicht die Tür gewiesen, und ich kam nicht nur dann, um ihm die Hände zu lecken, weil ich ihn brauchte. Ich wusste nicht einmal, daß er die zwölftausend Francs für mich ausgegeben hatte. Wenn Papa mir Geschenke gemacht hat, so habe ich nie darum gebettelt.
Nasie: Du warst eben glücklicher als ich. Monsieur de Marsay war reich, das hast du recht wohl gewusst und dir zunutze gemacht. Du warst schon immer geldgierig.
Delphine: Ich ziehe vor, mir nachsagen zu lassen, dass ich Monsieur de Marsay Geld schulde, als eingestehen zu müssen, dass mich Monsieur de Trailles mehr als zweihundertausend Francs kostet.
Nasie: Delphine!
Delphine: Ich sage dir nur die Wahrheit, während du mich verleumdest.
Nasie: Delphine, du bist eine-
Goriot: Ah! – Delphine, Nasie, ihr habt beide recht, ihr habt beide unrecht. Sieh mal, Fifine, sie braucht zwölftausend Francs, sehen wir zu, wie wir sie auftreiben! Seht euch doch nicht so an! Bitte sie mir zuliebe um Verzeihung, tu mir den Gefallen. Sie ist die Unglücklichere, bitte tus! – Doch woher zwölftausend Francs nehmen? Sie bittet mich, sie ist in Not, und ich, ich Elender, hab‘ nichts mehr! Ja, ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen-
Der Schatten Eugenes, an derselben Stelle, wo Vautrins in der Regel war.
Eugene: Madame. Hier ist das Geld, das Sie brauchen.
Black. Eine Weile Stille, dann die Stimme Delphines.
Delphine: Eugene, wissen Sie denn gar nicht, was vor sich geht? Ganz Paris ist morgen auf dem Ball der Madame de Beauséant. Die Rochefide und der Marquis dAjuda haben, um Aufsehen zu vermeiden, beschlossen, noch Schweigen zu bewahren. Aber morgen wird der Ehevertrag offiziell unterzeichnet, und Ihre arme Cousine ist noch immer ahnungslos. Sie kann es sich nicht erlauben, nicht zu empfangen, und der Marquis wird nicht auf ihrem Ball erscheinen. Man spricht von nichts anderem mehr als von dieser Geschichte.
16
Während der ganzen Szene liegt Goriot sterbenskrank da und wiederholt immer mal die Namen seiner Töchter: Nasie! Fifine! Eugene auf einem Stuhl in der Nähe Goriots sitzend, nur die Füße sind beleuchtet.
Delphines Stimme:
Mein Freund, denken Sie daran, daß ich Sie heute Abend erwarte, um mit Ihnen auf den Ball der Madame de Beauséant zu gehen. Der Ehevertrag von Monsieur d’Ajuda ist tatsächlich heute unterzeichnet worden und die arme Vicomtesse hat es erst vor zwei Stunden erfahren. Ganz Paris wird zu ihr strömen, wie zu einer Hinrichtung. Ist es nicht schrecklich, daß man nur hingeht, um zu sehen, ob diese Frau ihren Schmerz verbergen kann, ob sie mit Würde zu sterben weiß? Ich erwarte Sie in zwei Stunden.
Eugenes Stimme:
Ich erwarte einen Arzt, um zu erfahren, ob Ihr Vater am Leben bleiben wird. Er liegt im Sterben. Ich werde Ihnen das Urteil des Arztes überbringen und ich fürchte, daß es ein Todesurteil sein wird. Sie müssen dann entscheiden, ob Sie zum Ball gehen können. Tausend Küsse.
Eugene ausblenden. Eine Weile sieht und hört man nur Goriot. Dann Stimmen.
Delphine: Nun, wie geht es meinem Vater?
Eugene: Sehr schlecht. Fahren wir zu ihm, um nach ihm zu sehen.
Delphine: Gut, ja, aber nach dem Ball.
Eugene: Aber-
Delphine: Sei so lieb, Eugene, komm, und halte mir keine Moralpredigten!
Black.
17
Musik. Party-Szene. Im Hintergrund Tanzende, unter ihnen Delphine und Antoinette. Im Vordergrund Eugene und die Beauseant sich unterhaltend. Es sind nur jeweils die Beine der Figuren beleuchtet.
Madame de Beauséant: Sie tanzen! Alle sind Sie sind pünktlich eingetroffen; nur der Tod lässt auf sich warten. Ich werde weder Paris noch die Gesellschaft jemals wiedersehen. Um fünf Uhr morgens reise ich ab, um mich irgendwo tief in der Normandie zu begraben. –Madame de Nucingen sieht sehr schön aus heute abend. Mein Freund, lieben Sie nur eine Frau, die Sie immer lieben können. Verlassen Sie sie niemals. – Gehen Sie nur. Ich will Sie nicht um Ihr Vergnügen bringen.
Eugene geht zu Delphine. Sie tanzen. Antoinette tritt zur Beauseant.
Antoinette: Ich habe es geahnt, Claire. Sie reisen fort, um nicht mehr zurückzukehren. Sie tun unrecht, meine Liebe, sich in Ihrem Alter zurückzuziehen. Bleiben Sie bei uns! — Sie Sind groß heute Abend. Wer Sie auf dem Ball gesehen hat, Claire, wird Sie niemals vergessen.
Madame de Beauséant: Leben Sie wohl, Antoinette, ich wünsche Ihnen alles Glück.
Sie schauen zu Delphine und Eugene.
Madame de Beauséant: Ihnen braucht man dies nicht zu wünschen; Sie sind glücklich, sie können noch an etwas glauben.
Musik aus und Black.
18
Die Goriot-Puppe, liegend. Eugenes Schatten vor der Wand.
Goriot: Nasie? Delphine? – Ach, Sie sind es, mein lieber Freund.
Eugene: Geht es Ihnen besser?
Goriot: Haben Sie meine Töchter gesehen? Sie werden bald kommen; sie werden hereilen, sobald sie erfahren, dass ich krank bin. – Meine Töchter haben gesagt, sie würden kommen, nicht wahr? Geh noch einmal hin. Sag ihnen, daß ich mich nicht wohlfühle, dass ich sie, bevor ich sterbe, noch ein letztes Mal umarmen, ein letztes Mal sehen möchte. Sag ihnen das, aber ohne sie zu sehr zu erschrecken. – Sie werden kommen, ich kenne sie- die gute Delphine, welchen Kummer werde ich ihr bereiten, wenn ich sterbe, und Nasie auch. Ich will nicht sterben, sie sollen nicht weinen. Sterben, mein guter Eugene, heißt, sie nicht mehr wiedersehen.
Goriot wird ausgeblendet. Stimmen.
de Restaud: Monsieur Goriot stirbt? Nun, das ist das Beste, was er tun kann. Ich brauche Madame de Restaud jetzt, ich habe wichtige Geschäfte mit ihr abzuschließen; sie wird kommen, wenn alles erledigt ist.
Nasie: Monsieur, richten Sie meinem Vater aus, daß ich mit meinem Gatten eine Auseinandersetzung habe und jetzt nicht fort kann. Es geht um meine Kinder. Sobald alles ins Reine gebracht ist, komme ich.
Kammerzofe Delphines: Madame de Nucingen ist erst um halb sechs vom Ball nach Hause gekommen, sie schläft; wenn ich sie vor Mittag wecke, wird sie mit mir schimpfen. Wenn sie nach mir klingelt, werde ich ihr sagen, daß es ihrem Vater schlechter geht.
Goriot wird wieder sichtbar.
Goriot: Meine Mädchen, meine Mädchen! Anastasie, Delphine; ich will sie sehen!
Eugene: Ich hole Ihre Töchter, mein guter Vater Goriot, ich bringe sie her.
Goriot wird ausgeblendet. Stimmen.
de Restaud: Monsieur, Sie haben vielleicht schon bemerkt, daß ich für Monsieur Goriot sehr wenig übrig habe. Ob er lebt oder stirbt, das ist mir vollkommen gleichgültig. Was Madame de Restaud betrifft, so ist sie nicht imstande auszugehen. Übrigens wünsche ich auch nicht, daß sie das Haus verläßt. Sagen Sie ihrem Vater, daß sie zu ihm kommen wird, sobald sie mir und meinem Kind gegenüber ihre Pflichten erfüllt hat.
Nasie: Mein Vater würde mir verzeihen, wenn er wüßte, in was für einer Lage ich mich befinde. Sagen Sie ihm, daß mich keine Schuld trifft, auch wenn es so scheint.
Delphine: Ich bin leidend, mein armer Freund. Auf dem Rückweg vom Ball habe ich mich erkältet. — Also gut, ich werde kommen, sobald der Arzt da war. — Ich komme, Eugene, ich komme. Lassen Sie mir nur Zeit zum Ankleiden. Gehen Sie! Ich werde vor Ihnen da sein.
Goriot wird wieder sichtbar.
Goriot: Sie kommen, nicht wahr?
Eugene: Delphine wird gleich hier sein.
Black. Musik.
19
Musik weiter. Goriot liegt da und wiederholt immer mal die Namen seiner Töchter: Nasie! Fifine! Eugene auf einem Stuhl in der Nähe Goriots sitzend, nur die Füße sind beleuchtet. Nach einer ganzen Weile bricht die Musik plötzlich aprupt ab. Eine ganze Weile Stille. Dann die Beine von Delphine.
Eugene: Sie kommen zu spät.
Die Beine von Nasie kommen dazu. Die folgende Replik geht in Delay über, dazu monotoner Sound, der immer lauter wird, so dass die letzten Worte kaum noch zu hören sind. Parallel dazu Ausblenden von Nasie und Delphine, und heftige Bewegungen Eugenes, so dass der Schatten „tanzt.“
Nasie: Es war nicht leicht, fortzukommen. — Das Maß meines Unglücks ist voll. Monsieur de Trailles ist verschwunden, und hat enorme Schulden hintergelassen. Außerdem habe ich erfahren, daß er mich betrogen hat. Mein Gatte wird mir niemals verzeihen, und ich habe ihm die Verfügungsgewalt über mein ganzes Vermögen zugestehen müssen. All meine Hoffnungen sind dahin-
Schließlich alles gleichzeitig aus.
20
Mehrstimmiges Requiem, a capella gesungen. Licht auf die Goriot-Puppe, die immer noch daliegt, aber komplett zugedeckt. Eugenes Beine werden eingeblendet, er steht ganz allein im Raum. Wenn das Requiem zuende ist, wird die Puppe samt Decke heruntergezogen, so dass sie verschwindet. Eugene ist noch zu sehen, wenn der Chor spricht.
Chor (synchron):
Rastignac schritt den hügelig angelegten Friedhof hinauf bis zur höchstgelegenen Stelle
und blickte auf Paris hinab, das sich an beiden Ufern der Seine ausbreitete.
Schon begannen die ersten Lichter aufzuflammen.
Seine Augen blickten beinahe gierig nach der Gegend zwischen der Säule des Vendome-Platzes und dem Invalidendom,
dorthin, wo die vornehme Gesellschaft lebte, in die er hatte eindringen wollen.
Seine Blicke schienen den Honig dieses summenden Bienenstockes sehnsüchtig aufzusaugen.
Der Chor wiederholt in Einzelstimmen den Text sich überlappend und in Schleife. Dann Stille und Eugenes Stimme allein.
Eugene: Jetzt werden wir beide unsere Kräfte messen.
Chor (synchron):
Und der erste Akt seiner Kampfansage an die Gesellschaft bestand darin, dass er zu Madame Nucingen ging, um mit ihr zu dinieren.
Black. Ende.