Der Begriff Liebe wird für sehr unterschiedliche Phänomene gebraucht; ich will mit diesem Essay versuchen, das Phänomen zu beschreiben, das ich mit diesem Begriff bezeichne.
Zunächst möchte ich die wichtigsten Phänomene umreißen, die in unserem Sprachgebrauch meist mit demselben Wort bezeichnet werden.
Ich beginne mit der allgemein humanistischen Gesinnung, die man auch Nächstenliebe nennt. Damit will man zum Ausdruck bringen, dass man alle Menschen lieben soll; gemeint ist selbstlos positives Handeln gegenüber anderen, und das kommt dem Phänomen sehr nahe, wie man am Ende des Essays feststellen wird. Nur ist der Anspruch viel zu hoch und die Sache gar nicht zu realisieren. Einen Menschen zu lieben setzt voraus, dass man ihn persönlich kennt. Damit fällt schon mal der Großteil der Menschheit weg. Aber auch die meisten Menschen, die wir kennen, sogar gut kennen, lieben wir nicht. Wir haben sie gern, wir tun ihnen Gutes, aber Liebe ist das nicht.
Den Menschen, die wir sehr gern haben, sind wir zugeneigt. Ich finde diesen Begriff sehr zutreffend, sich jemanden zu-neigen. Zuneigung ist aber etwas anderes als Liebe. Auch wenn zwei Menschen sich in dem Sinne zusammenfinden, dass sie eine Partnerschaft eingehen, ist nicht aus der Zuneigung Liebe geworden. Es ist immer noch Zuneigung, nur hat man bewusst oder unbewusst beschlossen, ausschließlich miteinander intim zu sein.
Auch Verliebtsein ist nicht dasselbe wie Liebe. Im Zustand des Verliebtseins sind wir aber in der Illusion gefangen zu lieben, und wenn das Gegenüber auch in uns verliebt ist, in der, geliebt zu werden. Da wir in dem Zustand meist so handeln, als wenn wir liebten, ist es letztlich tatsächlich Liebe, bis sie als Illusion erkannt wird.
Der Begriff Liebe wird besonders inflationär im Zusammenhang mit Begehren, Intimität und sexueller Leidenschaft verwendet. Es existiert sogar der Ausdruck Liebe machen. Begehren ist jedoch nichts anderes als Begehren und hat nichts mit Liebe zu tun.
Schließlich wird der Begriff noch im Zusammenhang mit Dingen verwendet, die man besonders mag: Ich liebe die Musik von Mozart, oder Ich liebe Vanillepudding. Hier sehe ich die Verwendung des Begriffes unproblematisch, da er nicht in Beziehung zu anderen Menschen steht.
Welches Phänomen bezeichne ich als Liebe? Es ist ein Handeln gegenüber bestimmten Menschen, und wenn kein Handeln, dann ein Handeln wollen. Die Existenz des geliebten Menschen gibt uns ein essentielles Glücksgefühl; wir sind glücklich, weil es ihn gibt. Nicht wegen dem, was er macht, und schon gar nicht wegen dem, was er für uns macht. Gerade das unterscheidet Liebe von der Zuneigung. Zwei Menschen haben sich gern, sie sind sich einander zugeneigt. Die beiden Menschen verbindet eine Freundschaft. Weil ich die Freund:in gern habe und sie mich, und sie mir Gutes tut, tu ich ihr auch Gutes.
Liebe dagegen ist existenzieller. Der Mensch, den ich liebe, muss mir nichts Gutes tun. Ganz gleich, wie er an mir handelt, ich will ihm Gutes tun. Mein positives Handeln ihm gegenüber ist selbstlos, an keine Bedingung geknüpft; auch nicht an die, dass er ebenfalls gut an mir handelt.
Da die Existenz des Geliebten an sich mich glücklich macht, will ich, dass auch er glücklich ist. Kann ich direkt und aktiv zu seinem Glück beitragen, ist das besonders befriedigend für mich und steigert mein eigenes Glücksgefühl. Es ist aber vor allem wesentlich für mich, dass er überhaupt glücklich ist und es ihm gut geht. Die Sehnsucht zu wissen, dass es ihm gut geht ist stärker als die, dass er explizit durch mein Handeln Glück erfährt. Ich sehne mich nach der Nähe zum Geliebten, will möglichst viel mit ihm zusammen sein. Wichtiger jedoch ist, ihn glücklich und gesund zu wissen. Deshalb sprach ich davon, dass Liebe nicht zwingend Handeln ist, sondern auch Handeln wollen. Erfahre ich, dass es dem Geliebten nicht gut geht, setze ich alles daran, ihm beizustehen. Kann der Geliebte nicht bei mir sein, weilt er zum Beispiel für längere Zeit an einem anderen Ort, leide ich darunter, ihm nicht nahe sein zu können. Doch noch mehr leide ich darunter, wenn ich nicht weiß wie es ihm geht. Weiß ich dass es ihm gut geht, ertrage ich die Distanz. Ich erwarte nichts vom Geliebten; ich will ihn nur glücklich wissen.
Wen ich liebe, das kann ich nicht beeinflussen, nicht aktiv entscheiden. Es stellt sich ohne mein Zutun ein. Ich empfinde plötzlich dieses Glücksgefühl, wenn ich mir die Existenz eines bestimmten Menschen bewusst mache. Ich beginne ständig an diesen Menschen zu denken und bin glücklich. Natürlich muss ich den Menschen kennen, aber ich muss ihn nicht zwingend gut kennen. Denn es ist ja nicht eine besondere Eigenschaft von ihm oder etwas, dass er (für mich) macht, dass mir dieses Glücksgefühl beschert. Es ist seine Existenz an sich.
Nun könnte man argumentieren, dass die Schwärmerei z.B. für einen bestimmten Popstar auch Liebe ist. Nehmen wir mal Neil Tennant von den Pet Shop Boys. Ich weiß von seiner Existenz, und ich mag seine Stimme, seine Musik und seine Texte. Ich würde aber nicht behaupten, ihn zu lieben. Denn dafür müsste ich ihm persönlich begegnet und wenigstens so lange real und in einer gewissen Kontinuität zusammen gewesen sein, dass sich das genannte existenzielle Glücksgefühl einstellen kann. Wenn es sich einstellt, dann zwar ungeplant, aber erst im Laufe einer gewissen Zeitspanne. Deshalb gibt es auch keine „Liebe auf den ersten Blick“. Das was man hier Liebe nennt, ist ein klassisches Sich-Verlieben. Mit der Aussage Ich liebe Neil Tennant kann ich nur meinen, dass ich seine Kunst „liebe“ und nicht ihn selbst, schon weil ich ihm nie persönlich begegnet bin. Deshalb sage ich in so einem Fall besser Ich mag Neil Tennant(s Stimme) oder Ich liebe Pet Shop Boys, um einen einzelnen Menschen nicht mit dem Wort Liebe fälschlich in Verbindung zu bringen.
Wie viele Menschen kann man gleichzeitig lieben? Theoretisch unendlich viele. Praktisch stellt sich jenes Gefühl nur selten ein. Auch deshalb nimmt man Liebe als etwas ganz besonderes wahr, und es ist ja auch etwas ganz besonderes. Aber die Exklusivität, wie man sie bei einer Partnerschaft erwartet, ist ein Irrtum. Wir lieben in der Regel mehr als einen Menschen, auch im gleichen Zeitraum. Es gibt aber auch den Fall, dass man sein Leben lang nur einen Menschen liebt, weil sich das besagte existenzielle Gefühl nur bei diesem eingestellt hat. Und vielleicht hält es sogar ein Leben lang an. Aber auch das ist nicht zwingend der Fall. Das existenzielle Glücksgefühl kann sich auch wieder auflösen. Und zwar ebenso grundlos und ungeplant, wie es entstanden ist. Es lässt sich dann auch nicht künstlich „wiederbeleben“. Es kann sich aber erneut einstellen, z.B. wenn man dem ehemals geliebten Menschen nach einer Weile wieder begegnet. Ist das Gefühl nicht mehr da, bedeutet das im übrigen keineswegs automatisch, dass man den Menschen nicht mehr mag. Er hat nur nicht mehr die Bedeutung, die er zuvor hatte, und wenn man ihn aus den Augen verliert, wird man sich womöglich fragen, wie es ihm geht; nur leidet man nicht mehr darunter, es nicht zu wissen.
Abschließend will ich nochmal näher auf den Aspekt Liebe und Partnerschaft eingehen. Das Thema Partnerschaft habe ich zur genüge in früheren Essays behandelt; hier will ich nur erwähnen, dass Liebe keine Voraussetzung für eine Partnerschaft ist.
Wollen zwei Menschen zusammen sein, weil sie gegenseitige Zuneigung verspüren und miteinander gut können, und zudem sensuelles und sexuelles Begehren ausschließlich nur miteinander ausleben wollen, dann führen sie eine Partnerschaft. Mit Liebe hat das nichts zu tun. Eine Partnerschaft bzw. die Umstände, die zu ihr führen, stellen sich nicht ein, sondern sind eine bewusste Entscheidung, egal ob man sich dessen bewusst ist oder nicht. Ebenfalls bewusst oder unbewusst geht man die Partnerschaft ein, weil man der Partner:in Glück schenken will; man will aber auch etwas zurückbekommen. Man spricht ja meist von einem ausgewogenen „Geben und Nehmen“ in einer harmonischen Partnerschaft. Der liebende Mensch erwartet aber nichts vom Geliebten; er will nur geben. Das bedeutet nicht, dass er nicht auch gerne etwas zurückbekommt, im Gegenteil, das macht ihn umso glücklicher. Er setzt es aber nicht voraus.
In einer Partnerschaft spielt das Begehren eine zentrale Rolle. Liebe und Begehren stehen überhaupt nicht zwingend in einem Zusammenhang. Von den Menschen, die ich gegenwärtig liebe, begehre ich zwei. Das liegt aber nicht in dem Umstand, dass ich sie liebe, sondern dass ich sie zufällig auch attraktiv und sexy finde, unabhängig von meiner Liebe zu ihnen sie gerne küssen und berühren will, und auch mit ihnen schlafen würde. Aber es gibt Menschen, die ich nicht liebe aber begehre, und sogar begehrenswerter finde als die zwei, die ich zufällig liebe.
Im Laufe einer Partnerschaft stellt sich nicht selten Liebe zur Partner:in ein, manchmal einseitig, manchmal auch gegenseitig. Oft kriegt man das gar nicht mit, denn um eine harmonische Partnerschaft zu leben, ist Liebe, auch gegenseitige, kein entscheidendes Kriterium. Die Beziehung war eh schon harmonisch, aber man nimmt sie als noch harmonischer wahr. Natürlich ist ein Zusammenfallen von Zuneigung, Begehren und gegenseitiger Liebe zueinander ein Idealzustand. Leider begeht man oft den Fehler, ihn als einzig möglichen Zustand zu betrachten. So gehen harmonische Partnerschaften in die Brüche, weil eine oder beide Partner:innen die Liebe vermissen…
Manchmal stellt sich während einer harmonischen Partnerschaft bei einem der Partner:innen Liebe gegenüber einem dritten Menschen ein. In dem Irrglauben, dass Liebe zur Partnerschaft unbedingt dazugehört, sie sogar darauf aufbaut, meint man, sich von der Partner:in trennen zu müssen, weil man sich ja angeblich in einen anderen Menschen „verliebt“ hat. Dabei kann man eine Partnerschaft mit einem Menschen führen, den man nicht liebt, und zugleich einen anderen Menschen lieben, ohne mit ihm eine Partnerschaft zu führen.
Liebe ist immer intensiv, und der liebende Mensch wird ungeachtet aller anderen Umstände wie der einer harmonischen Partnerschaft den unbedingten Wunsch haben, den Geliebten in sein Leben zu lassen. Die häufigste Reaktion in einer Partnerschaft ist eine Eifersucht, die oft unnötig ist, da die Partner:in „nur“ liebt und nicht begehrt. Da man Liebe nicht einfach mal „ausknipsen“ kann, ist die einzige Lösung die, dass man den Liebenden gewähren lässt. Ist außerdem gegenseitiges Begehren im Spiel und die Partner:in besteht auf intime Ausschließlichkeit, wird der Liebende sich entscheiden müssen; er wird sich aber nicht unbedingt für den Geliebten entscheiden, denn das Begehren wird durch die Liebe nicht zwingend stärker.
Oft wird sich ein Mensch erst nach Auflösung der Partnerschaft bewusst, dass er die Partner:in liebt. Liebt er, dann wünscht er sich weiterhin im Leben des Geliebten bleiben zu dürfen, und er wird unbedingt wissen wollen, ob es ihm gut geht. Das Glück des Geliebten steht für den Liebenden an erster Stelle. Macht ein dritter Mensch wie eine neue Partner:in dessen Glück aus, wird der Liebende sich über die neue Partnerschaft freuen.
*****Mai 2024