KRIMI-FRAGMENTE


Fragment A

Sie sitzt mir gegenüber auf dem beigen, stark zerschlissenen Sofa. Ihr Gesäß berührt kaum die Sitzfläche. Die Beine, die aus einem kurzen, hellgrauen Rock schauen, kleben eng aneinander. Es sieht aus, als hätte sie ein einziges zu dick geratenes Bein, dessen Ende sich spaltend in die schwarzen Lackpumps ergießt. Ich betrachte ihr Gesicht. Im trüben Schein des Kneipenlichts war mir gar nicht aufgefallen, wie wenig ihre Nase zum übrigen passt. Sie ist irgendwie schief, asymmetrisch. Aber sie gefällt mir, wie alles an dieser Frau. Ich hatte sie schon beim Eintreten in mein Stammlokal bemerkt, und mich so an die Bar gesetzt, dass sie in meinem Blickfeld blieb. Eine Heimliche, war mein erster Gedanke gewesen. Derselbe schießt mir auch jetzt durch den Kopf, während sie mich erwartungsvoll anstarrt. Nein, sie ist keine, die sich offen als lesbisch bezeichnen würde, und wahrscheinlich ist sie sogar verheiratet. Nachdem ich ausgetrunken hatte, war ich an ihren Tisch gegangen und hatte nur ein einziges Wort gesagt: komm. Sie war wortlos aufgestanden und mit mir gegangen. Nun sitzt sie da auf meinem Sofa und hat wie ich selbst noch kein einziges Wort gesprochen. Wahrscheinlich ist es besser so, ich bin sehr empfindlich, was Stimmen angeht. Sind sie unangenehm für meine Ohren, ist alles gelaufen, bevor es angefangen hat. Schweigend stehe ich auf und beginne mich langsam auszuziehen. Sie bleibt sitzen und beobachtet mich, als wäre ich ein Film, den sie noch nie gesehen hat. Vielleicht ist es für sie das erste Mal. Als ich nur noch in Unterwäsche vor ihr stehe und sie sich nicht einmal bewegt hat, komme ich mir ziemlich blöd vor. Bevor ich mir den Kopf über eine Rettung der Situation zerbrechen kann, läutet das Telefon. Es ist fast Mitternacht. Noch bevor ich den Hörer abnehme, weiß ich, dass es Blücher ist. Ich habe Feierabend und stehe nackt in der Wohnung rum, sage ich und bete gleichzeitig, dass er es wirklich ist. Erleichtert höre ich das unverwechselbare Räuspern meines Brötchengebers am anderen Ende der Leitung. Es ist wirklich wichtig, höre ich Blücher sagen. Ein neuer Fall also. Für Blücher gibt es nichts Wichtiges außer seiner großen Leidenschaft, der illegalen Verbrecherjagd. Illegal, da Blücher weder Polizist noch Detektiv ist, ebenso wenig wie ich. Wieder einmal frage ich mich, ob Blücher früher mal beim Geheimdienst gewesen ist, als mein Blick auf das verwaiste Sofa fällt. Die schöne Unbekannte hat sich unbemerkt aus dem Staub gemacht, bevor ich auch nur ihren Namen erfahren habe. Bin schon unterwegs, gebe ich durch und lege auf. Seufzend quäle ich mich wieder in die Bluejeans, streife mir T-Shirt und Pulli über, schnappe mir die Jacke und verlasse die Wohnung.


*****

Fragment B

I

Die Zeiger auf der Uhr über dem Tresen zeigten kurz vor Mitternacht an. Ich saß in meiner Stammkneipe und betrachtete die Frau in dem grauen Kostüm. Sie nippte nervös an ihrem Drink. Ich fragte mich, warum sie so nervös war. Wahrscheinlich eine Heimliche, vielleicht sogar verheiratet. Sie sah nicht so aus, als ob sie dieses Lokal öfter aufsuchte. Die Frauen, die hier verkehrten, waren in der Regel eher leger angezogen. Vielleicht war sie mir deshalb gleich aufgefallen. Aber da war noch etwas anderes. Sie gefiel mir. Ich wusste, sobald sie ausgetrunken hatte, würde ich zu ihr rübergehen und sie zu einem neuen Drink einladen.

Wir saßen auf meinem alten beigen Sofa. Vorsichtig berührte ich mit den Fingerspitzen ihr volles schwarzes Haar. Sie zuckte zurück. Ich nahm an, dass sie noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. Ich zog die Hand zurück. Sie lächelte verlegen. Vielleicht half es, wenn ich gleich aufs Ganze ging. Ich stand auf und begann, mich auszuziehen. Sie zitterte, aber ihre Augen waren unverwandt auf mich gerichtet. Als ich nur noch den Slip anhatte, läutete das Telefon. Es konnte nur Blücher sein. Niemand außer Blücher käme auf die Idee, mich nach Mitternacht anzurufen. Nach dem dritten Klingeln nahm ich ab. Es war die unverkennbar polternde Stimme meines Arbeitgebers.

„ Schläfst du schon? “

Bevor ich antworten konnte, redete er bereits weiter.

„ Manja, du musst unbedingt gleich vorbeikommen. Ich hab was für dich. “

Mit dem „was“ meinte er einen Fall, ein Verbrechen, welches ich für ihn erfolgreich aufzudecken hatte.

„ Hat das nicht bis morgen Zeit? “

„ Hast du heute noch etwas Wichtiges vor?“

Ich schaute auf das verwaiste Sofa.

„Jetzt nicht mehr. Ich bin gleich da.“

Seufzend legte ich den Hörer auf und begann mich wieder anzukleiden.

II

Blücher rollte zu der Kaffeemaschine, auf der eine volle Kanne Kaffee bereitstand. Schwungvoll goss er mir eine Tasse ein, ohne zu kleckern. Dafür, dass er seit etlichen Jahren im Rollstuhl saß, war er erstaunlich feinmotorisch.

„Na, warst du heute schon auf der Jagd?“

Es war typisch für Blücher, dass er nicht gleich zum Thema kam, und ebenso typisch, bei gewissen Themen in die Jägersprache zu verfallen. Er war ein unverbesserlicher Macho, hatte jedoch erstaunlicherweise nie ein Problem damit gehabt, dass ich lesbisch bin.

„Ich war kurz davor, mein Beutetier zu verschlingen, als ich von einem gewissen Anruf gestört wurde.“

Mein Sarkasmus war nicht zu überhören, aber er ging nicht darauf ein.

„Ordentliche Titten?“

„Vielleicht fragst du zur Abwechslung mal, ob sie eine sympathische Ausstrahlung hatte, oder wie sie hieß.“

Mir fiel auf, dass ich ihren Namen gar nicht wusste.

„Namen sind Schall und Rauch.“

„Wie du meinst, Gottfried.“

Ich wusste, wie ich es ihm heimzahlen konnte. Er hasste seinen Vornamen. Als überzeugter Atheist war er der Ansicht, dass Gott nichts in einem anständigen Namen zu suchen hatte.

„Gut, kommen wir zur Sache. Hast du von der jungen Frau gelesen, die vorgestern im Buchenhain tot aufgefunden wurde?“

Ich hatte darüber gelesen. Und wenn nicht, wäre mir der Vorfall nicht entgangen. Überall in der Stadt starrte einem gestern aus den Boulevardblättern das großformatige Foto der ermordeten Renate K. entgegen.

„Mein neuer Fall, was?“

Blücher antwortete nicht, was einem Ja gleichkam. Ich wusste auch, dass die Audienz damit beendet war. Wie ich an die Sache heranging, überließ er mir. Für ihn war nur entscheidend, dass ich den Mörder überführte. Und zwar ohne die Hilfe der Polizei.

III

Ich lag wach in meinem Bett. Die Überdosis Kaffee und der neue Fall ließen mich nicht einschlafen. Ich dachte gerade einmal mehr über Blücher nach. Die Erinnerung an damals lief wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab. Blüchers Anzeige in der Zeitung, die ich kurz nach dem Abbruch meines Studiums entdeckt hatte. Das Vorstellungsgespräch: ein riesiger Glatzkopf um die Sechzig mit der Visage eines Gangsters. Im Rollstuhl zwar, aber kein bisschen mitleiderregend. Wie ich ihm aufzählte, was ich alles nicht machen würde, wenn ich seine Haushaltshilfe wäre. Wie er mir geduldig zuhörte, ohne mich zu unterbrechen. Wie er am Ende meines Ausbruchs zufrieden lächelte und mit seiner lauten Stimme verkündete, dass ich genau die Richtige für den Job sei. Wie sich herausstellte, dass er keine Haushaltshilfe suchte, sondern eine Privatdetektivin, die für ihn stellvertretend seiner Leidenschaft nachging, der Aufklärung von Verbrechen. Warum war er so versessen darauf, Kriminalfälle zu lösen, bevor es der Polizei gelang? War er früher selbst Polizist gewesen? War irgendeine seltsame Form von Rache im Spiel? Jedenfalls ließ mich Blücher bis heute über seine Vergangenheit im Dunkeln. Ich wusste weder, was er früher gemacht noch was ihn in den Rollstuhl gebracht hatte. Dass ich nichts über seine Vergangenheit herausfinden durfte, war seine einzige Bedingung. Ich hielt mich dran. Es lag etwas Trauriges in seinem Wesen, das er erfolgreich zu verbergen suchte, das aber hin und wieder durchschimmerte. Dafür mochte ich ihn. Ich nahm seine sexistischen Spitzen in Kauf und sein Geld in Anspruch. Er bezahlte mir kein Gehalt. Aber wenn ich Geld brauchte, bekam ich welches von ihm. Er war reich, auch wenn weder seine Garderobe noch seine Wohnungseinrichtung davon zeugten. Er lebte bescheiden. Und wenn er auch die schlechte Angewohnheit hatte, verbal des öfteren grob zu sein, so war er in seinem Handeln stets respektvoll. Er hat nie den Versuch unternommen, mir nahezukommen. Seine machohafte Art wirkte manchmal wie eine Maske, hinter der er seine Zerbrechlichkeit verbarg. Ich vermutete, dass er Frauen sogar mehr zutraute als seinem eigenen Geschlecht. Warum hätte er sonst eine Frau als Detektiv engagieren sollen?

*****

Fragment C

Wenn ich gewusst hätte, welche Entwicklung die Affäre mit Gela nehmen würde, hätte ich mich wahrscheinlich nicht auf sie eingelassen. Es war von Anfang an schwierig, weil Gela nur heimlich mit mir zusammen sein konnte. Dass sie verheiratet war, ahnte ich, aber dass ihr Ehemann…

Doch beginnen wir mit dem Abend vor dem Tag, an dem die eigentliche Geschichte sich zutrug. Gela hatte eben meine kleine Zweizimmerwohnung verlassen, nachdem wir uns ausgiebig geliebt hatten. Ich lag nackt auf meinem Bett und dachte über meine derzeitige Geliebte nach. Bestand die Möglichkeit, dass etwas Festeres daraus würde? Ich mochte Gela, aber liebte ich sie auch? Und liebte sie mich?

Das Telefon riss mich aus meinen Gedanken. Es war Achim Maag, zweiunddreißig Jahre alt und schon einer der renommiertesten Anwälte der Stadt. Außerdem war er mein zwei Jahre jüngerer Bruder.Wenn Achim sich ausnahmsweise dazu herabließ, seine „sexuell verirrte“ Schwester anzurufen, dann wollte er etwas von mir, das ihm irgendeinen Nutzen einbrachte. Und so war es auch diesmal.

„Manja, wir sind morgen auf eine Party eingeladen.“

„Wieso wir?“

„Es ist einer meiner Mandanten, ein hohes Tier. Ich kann da nicht ohne weibliche Begleitung erscheinen.“

„Warum fragst du nicht Barbara?“

Barbara Eisenschmidt war Achims letzte seiner zahlreichen ehemaligen Beziehungen. Sie hatte ihn erst vor drei Wochen verlassen. Immerhin hatte sie es ganze fünf Monate mit ihm ausgehalten. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass mein Bruder der spießigste und egozentrischste Mensch war, den man sich vorstellen konnte. In der Regel hielt es eine Frau keine zwei Monate mit ihm aus. Ich wusste, dass die Erwähnung Barbaras ihn aus der Fassung bringen würde, und ich genoss es.

„Du weißt genau, dass Barbara und ich- „

„Schon gut. Dann ruf einen Begleitservice an. Ich spiel jedenfalls nicht das Dämchen für dich.“

Allein die Vorstellung, smalltalkend auf einer feinen Party herumstehen zu müssen, ließ mich schaudern. Nicht, dass ich ungern auf Parties ging oder mich in eleganten Sachen zeigte. Ich trage Röcke und Kleider lieber als Hosen, und zwänge mich freiwillig in todschicke aber fußfolternde Pumps. Und ich warte nur auf jede Gelegenheit, eins meiner Abendkleider anziehen zu können. Aber die Vorstellung, so gekleidet neben Achim mit seiner selbstgefälligen Miene herumzustöckeln, dazu hatte ich wirklich keine Lust. Außerdem fühlte ich mich bei solchen Gelegenheiten ausgenutzt. Als gutaussehende Begleitung war seine sexuell verirrte Schwester gut genug. Aber hätte einer seiner Freunde oder Mandanten von meiner Vorliebe für Frauen erfahren, hätte Achim sich zu Tode geschämt. Da ging ich doch lieber auf Frauenparties, wo ich wegen meiner betont weiblichen Aufmachung nicht selten scheel angesehen wurde.

„Manja, bitte, Holger Bracke ist einer meiner wichtigsten Mandanten.“

Der Name traf mich wie ein Schlag.

„Sagtest du Bracke?“

„Ja, Holger Bracke. Kennst du ihn etwa?“

Nein, woher? Du vergisst, dass ich mich nur unter Menschen untersten Niveaus bewege. Laut deiner Aussage.“

„Manja, hör auf-„

„Ist Bracke verheiratet?“

„Oh, interessierst du dich wieder für das männliche Geschlecht? Ich bedaure, aber er ist tatsächlich vergeben. Eine entzückende und wohlerzogene Person, allerdings um einiges jünger als Bracke. Er feiert morgen seinen fünfzigsten Geburtstag.“

Also ist seine Frau fast zwanzig Jahre jünger als er, dachte ich im stillen. Entzückend war sie auch, aber wohlerzogen? Achim würde eine verheiratete Frau wohl kaum wohlerzogen genannt haben, wenn er gewusst hätte, dass sie eine heimliche Affäre mit seiner lesbischen Schwester pflegte. Ich musste schmunzeln. Wie die Zufälle doch spielten. Ich bekam Lust, auf Brackes Geburtstagsfeier zu gehen und Gelas Mann aus der Nähe zu betrachten.

„Nun, wenn Frau Bracke so entzückend ist, werde ich mitkommen und sie mir einmal ansehen.“

Achims meckerndes Lachen ertönte am anderen Ende der Leitung.

„Da hast du keine Chance, Schwesterherz. Sie ist jenseits von Gut und Böse, was solche Neigungen betrifft.“

Wieder musste ich schmunzeln. Wie gern hätte ich mein Brüderchen eines Besseren belehrt. Aber ich durfte Gela unter keinen Umständen in Schwierigkeiten bringen.

*****

Fragment D

Ich konnte nicht einschlafen. Das leuchtende Rot ihres Kleides stach mir immer noch in die Augen, obwohl es mehrere Stunden her war, dass ich sie beobachtet hatte. Jetzt lag ich in meinem Bett, neben mir Marga, meine langjährige Gefährtin. Die gute Marga mit ihrem unverwechselbaren Schnarchen, an das ich mich so sehr gewöhnt hatte, dass es mich nicht mehr störte. Da schlief sie und ahnte nichts von meinen unruhigen Gedanken, und ich kam mir schäbig vor. Immer wieder sah ich die Frau mit dem leuchtend roten Kleid vor mir, die ich während der Vernissage nicht aus den Augen gelassen hatte. Stets von jungen Männern umgeben, lachte sie über deren Scherze und warf dabei den Kopf zurück, dass das volle schwarze Haar ihr erst in den Nacken fiel und dann ins Gesicht. Es war die Art, wie sie mit zwei oder drei ihrer zartgliedrigen Finger die Strähnen aus dem Gesicht strich, was mich so gefangen nahm. Ich hatte sie beobachtet und mir gewünscht, es wären meine Finger die ihr Haar berührten. Schuldbewusst glitt meine Hand mechanisch über Margas aschblonde Locken. Sie grunzte im Schlaf. Ich kehrte zu dem pechschwarzen Haar zurück. Wer war diese Frau? Sie musste mit Viktor bekannt sein. Viktor kannte alle Gäste seiner Ausstellungen. Ich würde ihn morgen anrufen. Er würde ein anzügliches Lachen von sich geben und mir mit Bedauern in der Stimme eröffnen, dass die besagte Dame verheiratet sei und mehrere Liebhaber hätte, aber weit entfernt davon sei, es mit einer anderen Frau zu versuchen. Dann würde er mich daran erinnern, dass ich seit über sechs Jahren mit Marga zusammen sei. So würde es sein, wenn ich Viktor anrufen würde. Aber eben darum würde ich ihn nicht anrufen. Ich verscheuchte alle Gedanken an die fremde Frau und betrachtete Marga. Kurz darauf schlief ich ein.

„Schlecht geschlafen?“ fragte mich Marga beim Frühstück. Ich nickte nur und goss mir eine dritte Tasse Kaffee ein.

„Wie fandest du Viktors neueste Werke?“

„Bescheiden.“ Für opulente Ölporträts nackter muskelbepackter Männer konnte ich mich einfach nicht erwärmen, selbst wenn der Maler zu meinen besten Freunden gehörte.

„Er sollte es mal mit einem weiblichen Akt versuchen“, meinte Marga mit vollem Mund.

Ich nickte wiederum. Vor mir erschien das Bild einer Frau, wie sie nackt auf der Ottomane lag, das pechschwarze Haar in den Nacken geworfen. Das rote Kleid hing nachlässig am Fußende und floss bis auf den Boden hinunter.

„Es waren herzlich wenig Frauen da“, riss mich Marga aus meinem Tagtraum. „Und keine einzige die wir kennen.“

„Die eine kam mir irgendwie bekannt vor“, log ich, “ die mit dem roten Kleid.“

„Mir auch. Gehört ihr nicht die Galerie neben dem Italiener, bei dem wir letzte Woche mit Viktor essen waren? Wir waren dran vorbeigekommen, und ich glaube sie durch das Schaufenster gesehen zu haben.“

Die ahnungslose Marga. Ich erinnerte mich an die Galerie. Vor dem Laden hatte eine Skulptur gestanden, aber ich war gerade mit Viktor in ein Gespräch verwickelt gewesen. Ich hatte nicht ins Fenster geschaut.

„Das wird es sein“, antwortete ich kurz und hielt mir die Tasse vors Gesicht. Ich hoffte, Marga würde nicht die Röte bemerken, die sich dort breitgemacht haben dürfte.


*****

Fragment E

Es gibt Schlimmeres, als arbeitslos zu sein. Seit ich arbeitslos bin, habe ich mehr Zeit, und irgendwie hat dieser Gedanke etwas Beruhigendes. „Jetzt hast Du endlich Zeit für die Dinge, die du schon immer machen wolltest“, hat meine Kollegin und beste Freundin Irmi damals an meinem letzten Arbeitstag gesagt. Ich kann nicht behaupten, dass ich damit getröstet war. Es gibt keine Dinge, die ich schon immer machen wollte. Ganz früher, ja, als ich noch jung war und mit Robert zusammen, da gab es viele solcher Dinge. Zum Beispiel Urlaub am Meer. Aber ich bin nie mit Robert am Meer gewesen, weil wir entweder kein Geld für Urlaub hatten oder Robert keinen Urlaub. Und dann war Robert eines Tages weg, wegen einer anderen, und ich habe mir Arbeit gesucht. Und da hatte auch ich entweder Urlaub oder Geld, aber nie beides zusammen. Und jetzt, mit dem Arbeitslosengeld, reichts eh nicht für einen Urlaub. Aber jetzt vermisse ich das Meer auch nicht mehr. Ich vermisse nichts mehr, weder das Meer noch Robert noch sonst etwas. Ich kann von mir sagen, dass ich bescheiden geworden bin. Viel zu bescheiden, findet Irmi, und so lädt sie mich Sonntag für Sonntag ins Kino oder zum Essen ein. Irmi ist fast der einzige Mensch, mit dem ich verkehre. Und natürlich mit den Männern vom Orient-Grill, wo ich täglich (außer sonntags) mein Falafel mit Kräutersoße esse. Ich glaube, es sind insgesamt vier Männer, ich glaube Ägypter. Einer hat ein ganz vernarbtes Gesicht, er ist wahrscheinlich der Chef und er trägt immer einen tadellosen Anzug. Selbst wenn er hinter der Theke das Kebabfleisch herunterraspelt. Meistens sitzt er aber an einem der Tische, trinkt Tee und raucht unentwegt Zigaretten. Wenn er mal hinter der Theke bedient, gibt er mir mitunter ein Falafel umsonst. Weil ich Stammgast bin, oder weil ich ihm gefalle. Ja, ich gefalle ihm. Er hat mir sogar schon einen Heiratsantrag gemacht. Sein Deutsch ist fehlerfrei, es ist also kein Missverständnis möglich. Ich habe gelächelt und den Kopf geschüttelt. Auch er hat gelächelt und dem Mann an der Theke etwas zugerufen. Plötzlich stand ein riesiges Falafel-Sandwich vor mir, das ich aus Höflichkeit ganz aufgegessen habe, obwohl ich kurz vorher ein solches gegessen hatte.

Dass ich einem Mann gefalle, ist selten. Es liegt vielleicht daran, dass ich ein wenig Übergewicht habe. Rubensfigur, schreibt man da in die Kontaktanzeige. Ich habe schon viele Kontaktanzeigen aufgegeben. Das war kurz nachdem Robert mich verlassen hatte. Damals habe ich aber schlank reingeschrieben, weil ich wirklich sehr schlank war. Ich habe auch öfter Antworten erhalten, mich auch mit den Männern meist getroffen, mit einigen sogar geschlafen. Aber so etwas wie eine Beziehung hatte ich nach Robert nicht mehr. Jetzt gebe ich auch keine Kontaktanzeigen mehr auf. Nicht, weil ich eine Rubensfigur habe, sondern weil ich bescheiden geworden bin. Mein Leben besteht aus Behördengängen, Falafel-Sandwiches und Sonntagen mit Irmi. Und der Bank auf dem Spielplatz. Ja, ich habe meine Lieblingsbank auf einem Spielplatz, wie eine alte Frau. Dabei bin ich erst Mitte Vierzig. Die Bank steht unter einem großen, schattenspendenden Baum. Es ist ein Laubbaum, aber ich weiß nicht, was für einer. Für Botanik habe ich mich nie näher interessiert, ein Baum war für mich immer nur ein Baum. Ich interessiere mich mehr für Menschen. Auf dem Spielplatz beobachte ich die Menschen, die Jugendlichen mit ihrem Imponiergehabe, die Mütter, wie sie mit ihren Kindern umgehen und die Alkoholiker, die sich immer an der gleichen Stelle zum gemeinsamen Trinken einfinden.

Und auf dem Spielplatz, da habe ich sie gesehen. Sie war mir aufgefallen, weil sie echtes, rotes Haar hatte, und ihr Sohn, er wird vier oder fünf gewesen sein, hatte dieselbe intensive Haarfarbe und einen für sein Alter erstaunlich dichten Schopf. Sie spielte sehr liebevoll mit dem Kind im Sand und wenn sie lachte, sah sie wunderschön aus. Ich muss zugeben, dass mich ihr Lachen regelrecht erregt hat. Als ich wieder zu Hause war, habe ich mich nackt vor meinen Spiegel gestellt und mir vorgestellt, wie sie wohl aussehen würde, so nackt. Ich habe mich ein wenig geschämt dafür, aber seitdem muss ich immer an diese Frau denken. Ich hoffe Tag für Tag, dass sie noch einmal zu meinem Spielplatz kommt, aber bis jetzt habe ich vergeblich gewartet.

*****

Fragment F

1


Sie sitzt mir gegenüber auf dem beigen, stark zerschlissenen Sofa. Ihr Gesäß berührt kaum die Sitzfläche. Die Beine, die aus einem kurzen, hellgrauen Rock schauen, kleben eng aneinander. Es sieht aus, als hätte sie ein einziges zu dick geratenes Bein, dessen Ende sich spaltend in die schwarzen Lackpumps ergießt. Ich betrachte ihr Gesicht. Im trüben Schein des Kneipenlichts war mir gar nicht aufgefallen, wie wenig ihre Nase zum übrigen passt. Sie ist irgendwie schief, asymmetrisch. Aber sie gefällt mir, wie alles an dieser Frau. Ich hatte sie schon beim Eintreten in mein Stammlokal bemerkt, und mich so an die Bar gesetzt, dass sie in meinem Blickfeld blieb. Eine Heimliche, war mein erster Gedanke gewesen. Derselbe schießt mir auch jetzt durch den Kopf, während sie mich erwartungsvoll anstarrt. Nein, sie ist keine, die sich offen als lesbisch bezeichnen würde, und wahrscheinlich ist sie sogar verheiratet. Nachdem ich ausgetrunken hatte, war ich an ihren Tisch gegangen und hatte nur ein einziges Wort gesagt: komm. Sie war wortlos aufgestanden und mit mir gegangen. Nun sitzt sie da auf meinem Sofa und hat wie ich selbst noch kein einziges Wort gesprochen. Wahrscheinlich ist es besser so, ich bin sehr empfindlich, was Stimmen angeht. Sind sie unangenehm für meine Ohren, ist alles gelaufen, bevor es angefangen hat. Schweigend stehe ich auf und beginne mich langsam auszuziehen. Sie bleibt sitzen und beobachtet mich, als wäre ich ein Film, den sie noch nie gesehen hat. Vielleicht ist es für sie das erste Mal. Als ich nur noch in Unterwäsche vor ihr stehe und sie sich nicht einmal bewegt hat, komme ich mir ziemlich blöd vor. Bevor ich mir den Kopf über eine Rettung der Situation zerbrechen kann, läutet das Telefon. Es ist fast Mitternacht. Noch bevor ich den Hörer abnehme, weiß ich, dass es Blücher ist. Ich habe Feierabend und stehe nackt in der Wohnung rum, sage ich und bete gleichzeitig, dass er es wirklich ist. Erleichtert höre ich das unverwechselbare Räuspern meines Brötchengebers am anderen Ende der Leitung. Es ist wirklich wichtig, höre ich Blücher sagen. Ein neuer Fall also. Für Blücher gibt es nichts Wichtiges außer seiner großen Leidenschaft, der illegalen Verbrecherjagd. Illegal, da Blücher weder Polizist noch Detektiv ist, ebenso wenig wie ich. Wieder einmal frage ich mich, ob Blücher früher mal beim Geheimdienst gewesen ist, als mein Blick auf das verwaiste Sofa fällt. Die schöne Unbekannte hat sich unbemerkt aus dem Staub gemacht, bevor ich auch nur ihren Namen erfahren habe. Bin schon unterwegs, gebe ich durch und lege auf. Seufzend quäle ich mich wieder in die Bluejeans, streife mir T-Shirt und Pulli über, schnappe mir die Jacke und verlasse die Wohnung.

Blücher ist in seiner Küche. Auf dem Tisch hat er eine Unzahl von Zeitungsartikeln ausgebreitet. Gottfried Blücher, frage ich mit Nachdruck in der Stimme, was ist so wichtig, dass du mich mitten in der Nacht anrufst und mich davon abhältst, mich einer schönen Frau hinzugeben? Bei seinem Vornamen nenne ich Blücher nur, wenn ich ihn ärgern will. Er hasst seinen Vornamen, weil er als überzeugter Atheist findet, dass Gott in einem anständigen Namen nichts zu suchen hat. Ich bin froh, dass ihn seine seligen Eltern nicht Fürchtegott oder Gotthold getauft haben. Er hat auch so schon zu oft schlechte Laune. Das scheint jetzt nicht der Fall zu sein, denn meine Spitze geht unkommentiert an ihm vorüber. Stattdessen will er wissen, wie sie ausgesehen hat. Typische Männerfrage, denke ich und antworte: Dir hätte sie nicht gefallen. Über Blüchers Liebesleben weiß ich rein gar nichts, so wenig wie ich überhaupt etwas von ihm weiß. Ich hatte damals auf sein Inserat geantwortet, in dem er eine Haushaltshilfe suchte. Ich hatte gerade mein Studium hingeschmissen und mein Comingout gehabt, und ein Job konnte mir nicht schaden. Bei der ersten Begegnung stand ich einem im Rollstuhl sitzenden aber vor Gesundheit strotzenden glatzköpfigen Riesen um die Sechzig gegenüber. Er hatte das Gesicht eines Gangsters und war mir so unsympathisch erschienen, dass ich ihm noch vor einer Begrüßung oder Vorstellung erst einmal aufzählte, was ich nicht gewillt war, für ihn zu tun. Es war so ziemlich alles, was man unter Arbeit im Haushalt verstand. Er lächelte nur und sagte mit fester aber leiser Stimme: Sie sind engagiert. Seitdem besuche ich ihn fast jeden Tag, ohne jemals eine Handreichung in Sachen Haushalt getan zu haben. Er besteht darauf, alles selber zu machen, und er kann es auch. Mein Job ist es, seiner Leidenschaft für die Kriminalistik zu dienen. Genaugenommen bin ich seine Beine, die sich dem Verbrecher an die Fersen heften. Er bezahlt mir kein Gehalt, aber wenn ich Geld brauche, bekomme ich jede Summe, die ich nenne. Ich will nicht wissen, woher er das viele Geld hat, und er würde es mir auch nie sagen. Ich weiß auch nicht, woher er kommt, was er früher gearbeitet hat was ihn in den Rollstuhl gebracht hat. Ich habe gelernt, ihn nicht zu fragen. Die Fragen stellt er. Was weißt du über die tote Tagesmutter? fragt er als nächstes. Abrupte Gedankensprünge sind typisch für ihn. Ich denke nach. Eine junge Frau war vor zwei Tagen in einem Waldstück in der Nähe eines Spielplatzes tot aufgefunden worden. Es handelte sich um eine Tagesmutter, deren einziges Tageskind seitdem verschwunden ist. Die Zeitungen waren voll von wilden Gerüchten und haarsträubenden Mutmaßungen, die Polizei tappt im Dunkeln. Nicht viel, antworte ich wahrheitsgemäß. Er zeigt mit einer seiner kräftigen Hände auf das Meer von Papier auf dem Tisch. Studieren, sagt er nur, und fügt wie immer dazu: Und zwischen den Zeilen lesen. Dann rollt er an die Kaffeemaschine heran, auf der eine volle Kanne des schwarzen Wachmachers bereitsteht.

Nach unzähligen Zeitungsartikeln und noch mehr Tassen Kaffee fühle ich das Ungleichgewicht zwischen leerem Hirn und voller Blase. Auf Blüchers geräumigem Klo versuche ich im Geiste zusammenzufassen, was ich mittlerweile über die tote Tagesmutter weiß. Die Blase leert sich, ohne dass sich mein Hirn mit brauchbaren Gedanken füllt. Blücher wird mich zum Glück nichts fragen. Ihm reicht es, dass ich begonnen habe, mich mit der Sache zu befassen. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, dass ich Blut geleckt habe und der Fall mich nicht mehr loslassen wird, bis er gelöst ist. Die wichtigste Frage ist jetzt, womit ich anfangen soll. Ich greife in die hintere Tasche meiner Jeans, und ziehe den Ausschnitt mit dem Foto der Kleinen hervor. Nadine Teuchert, zweieinhalb Jahre alt. Eine Welle von Wut steigt in mir auf, weil Menschen in der Lage sind, anderen ihr Kind wegzunehmen. Ich versuche die schlimmsten Gedanken beiseite zu schieben, die das Vakuum in meinem Hirn plötzlich auszufüllen drohen. Entschlossen springe ich auf und ziehe meine Jeans hoch. Vielleicht lebt das Kind noch. Dann muss es gefunden werden, solange diese Hoffnung noch besteht.

Die Teucherts wohnen im zweiten Stock eines unsanierten, aber frisch gestrichenen Gründerzeithauses. Der kupferfarbene Klingelknopf ist blankpoliert, darunter ist mit sauberer Handschrift auf ein Schildchen gemalt: Jürgen und Anne Teuchert. Der Mann und seine Frau, das Anhängsel. Immerhin stehen beide Namen auf dem Schild. Unwillkürlich wird mir wieder einmal bewusst, dass ich zum Unglück meiner Mutter nie heiraten werde, und einen Mann schon gar nicht. Ich drücke den Knopf. Ein unangenehmes Sirren erklingt, dann knackt es in der winzigen Öffnung oberhalb der Klingelknopfleiste. Eine mürrische Männerstimme fragt: ja? Ich hole tief Luft und antworte: Mein Name ist Manja Maag. Ich muss dringend mit Ihnen sprechen. Wieder ist das Knacken zu hören, dann Stille. Ich warte einige Sekunden ab, ob die Tür sich per Summer öffnet. Dann klingle ich erneut. Bevor die mürrische Stimme in das Knacken hinein sprechen kann, sage ich schnell: Es geht um Nadine. Ich spüre das Zögern meines unsichtbaren Gesprächspartners, bevor der Summer ertönt und die Tür sich öffnen lässt. Im Treppenhaus steht ein schwarz-gelbes Dreirad. Am Lenker hängt eine Fahrradklingel lose herunter, mit Biene-Maja-Motiv. Ich zwinge mich, die Klingel nicht festzuschrauben und laufe hastig die Treppe hinauf, zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Im zweiten Stockwerk erwartet mich ein großgewachsener, hagerer Mann mit einer altmodischen Brille. Er steht breitbeinig da, als ob er eine drohende Gefahr abwehren will. Würde er nicht gleichzeitig so alt und eingefallen aussehen, könnte man sich wirklich vor ihm fürchten. Ich sehe ihn genauer an und schätze ihn auf nicht älter als dreißig, also ungefähr in meinem Alter. Es muss die Sorge sein, die sich ihm ins Gesicht gegraben hat und ihm das Aussehen eines Greises verleiht. Noch bevor ich das Stockwerk erreicht habe, fragt er mich mit halblauter Stimme: Was wissen Sie? Ich schweige bedeutungsvoll, er versteht und winkt mich mit zitternder Hand in die Wohnung. Als ich die Schwelle überschritten habe, folgt er mir und schließt die Tür hinter sich ab.

Wir sitzen uns in einem kleinen Wohnzimmer gegenüber. Er macht keine Anstalten, mir etwas zu trinken anzubieten. Meine Frau geht arbeiten, sagt er in einem Ton, als wäre es die Entschuldigung dafür, dass keine Tasse Kaffee oder wenigstens ein Glas Wasser vor mich auf den Tisch gestellt wird. Gleichzeitig verrät der Tonfall, wie sehr es ihm missfällt, dass nicht er für den Unterhalt der Familie sorgt. Ich habe studiert, sagt er überflüssigerweise. Ich nehme an, dass er von mir erwartet gefragt zu werden, was er studiert hat. Ich tue ihm den Gefallen nicht, sondern komme zur Sache. Ich möchte Ihnen helfen, Ihre Tochter wiederzufinden. Die Erinnerung an den Grund seiner schlaflosen Nächte lässt ihn in seinem Sessel zusammenschrumpfen. Der Stolz auf seinen Studienabschluss ist vergessen. Was wissen Sie? Wer sind Sie? fragt er mit noch leiserer Stimme als vorhin im Treppenhaus. Ich bin weder Privatdetektivin noch von der Polizei, leite ich meine Erklärung ein. Ich habe persönliche Gründe, bei der Suche nach Nadine mitzuhelfen, die ich aber für mich behalten möchte. Wenn Sie mir vertrauen und meine Dienste in Anspruch nehmen wollen, dann sagen Sie mir alles, was ich wissen muss. Er setzt zu einer Frage an, und ich komme ihm zuvor. Es geht mir nicht um Geld. Ich helfe Ihnen, weil- Er unterbricht meinen Satz, den ich ohnehin nicht weiß zu Ende zu führen, mit einem heftigen Kopfschütteln. Das Nennen einer hohen Summe als Belohnung würde ihn wahrscheinlich eher überzeugen. Ich war eine gute Freundin von- , setze ich an, und der Trick funktioniert. Er füllt die bewusst gesetzte Pause: Von Frau Koenig? Jetzt weiß ich den Nachnamen der Tagesmutter. In den Zeitungen war lediglich von einer Renate K. die Rede gewesen. Ja, von Renate. Ich baue einen kleinen Seufzer ein, bevor ich weiterspreche. Sie sprach nicht viel von ihrer Arbeit. Sie erwähnte nur einmal, dass sie Ihr Kind betreut. Er scheint langsam Vertrauen zu gewinnen. Frau Koenig war immer sehr gewissenhaft. Meine Frau lieferte Nadine kurz vor Neun bei Frau Koenig ab, bevor sie selbst zur Arbeit ging. Frau Koenig brachte Nadine dann pünktlich gegen halb Vier wieder hierher. Ich frage mich, warum Jürgen Teuchert seine Tochter nicht selbst hinbrachte oder abholte, verkneife es mir aber, ihm diese Frage zu stellen. Zeit scheint er genug zu haben, er macht nicht den Eindruck, als ob ihn wichtige Geschäfte von der Fürsorge seiner Tochter abhalten würden. Ich vermute, dass er der kleinen Nadine nicht ein einziges Mal die Windel gewechselt hat. Wir schweigen eine Weile. Ich nutze den Moment, um mir klarzuwerden, was ich von Nadines Vater halte. Ich muss mir eingestehen, dass er mir trotz seiner ehrlich wirkenden Traurigkeit durch und durch unsympathisch ist. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er irgendetwas zurückzuhalten bemüht ist, was er am liebsten sofort aussprechen würde, um sein Gewissen zu erleichtern. Seine Stimme reißt mich aus den Gedanken: An jenem Tag blieb sie aus. Es kam mir gleich merkwürdig vor, eben weil sie immer pünktlich war. Ich rief bei ihr an, aber es ging natürlich niemand ran. Dann rief ich meine Frau im Büro an und bat sie, nach der Arbeit bei Frau Koenig vorbeizuschauen. Anne fuhr sofort hin. Sie wartete zwei Stunden vor Frau Koenigs Haus, dann rief sie die Polizei an. Noch am gleichen Abend fanden sie die Leiche, in einem Waldstück in der Nähe des Spielplatzes, zu dem Frau Koenig mit unserer Nadine hinzugehen pflegte. Von Nadine keine Spur. Teuchert zittert, während er spricht, und er beginnt mir wirklich leid zu tun. Ich werde jetzt gehen, sage ich, und bemühe mich freundlich zu klingen. Wenn Sie möchten, dann geben Sie mir Ihre Telefonnummer, damit ich nachfragen kann, wenn ich noch etwas wissen muss. Er sieht mich dankbar an und nickt. Ich reiche ihm meine Visitenkarte. Er steht mühsam auf, reißt eine Seite aus einem herumliegenden Notizbüchlein und kritzelt eine Nummer darauf. Ich bedanke mich und stecke den Zettel zu dem Foto in meine Gesäßtasche. Nadines Vater nimmt schweigend die Hand, die ich ihm entgegenstrecke und drückt sie. Seine Hand ist klebrig von Schweiß und ich muss mich zusammenreißen, meine nicht an der Jeans abzureiben. Er folgt mir bis zur Wohnungstür. Als ich wieder im Treppenhaus stehe, höre ich, wie der Schlüssel zweimal im Schloss umgedreht wird. Ich vergewissere mich nochmals, dass die zwei Papiere in der Hosentasche sind und gehe langsam die Treppe hinunter.

Ich liege auf meinem beigen Sofa, und lasse die Gedanken kreisen. Ich habe das Gefühl, dass es unbedingt notwendig ist, mit Anne Teuchert zu sprechen. Sie erscheint wir wie der fehlende zweite Teil eines Rätsels, dessen erster Teil ihr Gatte ist. Bei meinen Ermittlungen beginne ich stets damit, den Charakter der in den Fall verwickelten Personen zu studieren. Der Charakter einer Person gibt sehr viel Aufschluss über die möglichen Zusammenhänge. aber es ist wichtig, die einzelnen Personen in ihrem Verhältnis zueinander zu betrachten. Wie ist das Verhältnis zwischen Mutter und Vater der verschwundenen Nadine? Jürgen Teuchert scheint ein konservatives Bild von Frau und Familie zu hegen. Anne Teuchert geht arbeiten. Ist es nur Notwendigkeit oder ein Zeichen von Emanzipation? Was arbeitet sie? Teuchert erwähnte ein Büro. Ich überlege, ob ich ihn anrufen und nach dem Job seiner Frau fragen soll. Ein Blick auf die Uhr lässt mich das Vorhaben aufgeben. Sie müsste schon zu Hause sein. Es erscheint mir besser, ihren Arbeitsplatz auf eigene Faust herauszufinden und mich dann mit ihr in einem Café zu verabreden. Wenn ich sie wirklich kennenlernen will, darf es nicht im Beisein ihres Mannes sein. Mein Rücken fängt an zu schmerzen. Eine Drahtfeder bohrt sich schon seit geraumer Zeit in ihn hinein. Ich nehme es jetzt erst wahr und setze mich auf. Die Zettel in meiner Gesäßtasche fallen mir ein und ich ziehe sie hervor. Nadines Bild ist zerknittert und an den Rändern eingerissen. Ich streiche es glatt und lege es auf das Wohnzimmertischchen, dann falte ich den anderen Zettel auseinander. Über Teucherts krakeliger Schrift thronen drei fette Buchstaben in Ockergelb. Es ist das Logo einer neuen Partei aus dem ultrarechten Spektrum, die durch die miserable Arbeitsmarktlage und dem zunehmenden Verdruss über die etablierten Parteien in der letzten Zeit immer populärer wird. Da sie sich geschickt von den anderen rechtsradikalen Gruppierungen distanzieren und peinlichst bemüht sind, jeden Zusammenhang mit nationalsozialistischen Tendenzen zu leugnen, geben sie in der Öffentlichkeit das Bild einer besseren rechtsliberalen Partei ab. Dieses trügerische Bild wird noch verstärkt durch das Fehlen einer Führerfigur, wie es bei anderen ultrarechten Gruppen der Fall ist. Dennoch gibt es einen Drahtzieher, nur dass dieser nicht öffentlich in Erscheinung tritt. Es ist zu auffällig, wie die sogenannten Spitzenleute dieser Partei wechseln. Diese Marionetten sollen den Eindruck einer besonders demokratischen Partei machen, so demokratisch, dass es keine wirkliche Spitze gibt. Aber es gibt ihn, den großen Manager, der sich kurz vor einer entscheidenden Wahl plötzlich zum Spitzenkandidaten aufstellen wird, da bin ich mir sicher. Ich wage mir nicht auszumalen, wie es wäre, wenn diese Partei die Regierungsgeschäfte des Landes übernehmen würde. Homophobie ist das Markenzeichen dieser Partei. Ich frage mich, warum die Teucherts ein Notizbuch der Ockergelben besitzen. Sind sie Sympathisanten, oder gar Parteimitglieder? Ich glaube, auf eine unvermutete Spur gestoßen zu sein, und beschließe, Locke auf sie anzusetzen. Er hängt jetzt sicher im Ray´s ab und trinkt ein Billigbier nach dem anderen. Ein Bier würde mir auch guttun, finde ich, stecke die Zettel wieder ein und schüttle meine rotblonde Mähne. Im Ray´s muss man wenigstens ungekämmt sein, um nicht aufzufallen.

Im Vergleich zu Locke bin ich regelrecht frisiert. Seine blonden langen Strähnen sind hoffnungslos ineinander verfilzt und stehen nach allen Richtungen ab. Jeder Frisör würde kapitulieren, würde es Locke jemals eingefallen, einen solchen aufzusuchen. Er hat bereits fünf leere Halblitergläser vom gepanschten Zapfbier vor sich stehen, als ich mich mit meinem etwas kostspieligeren Edelpils aus der Flasche ihm gegenübersetze. Im Ray´s gibt es keine Bedienung am Tisch, das Personal besteht aus dem Menschen hinter dem Tresen, der wie ein Roboter ein Bier nach dem anderen zapft. Heute ist es das Mädchen mit dem extrem breiten Hintern, die mir schon öfter lüsterne Blicke hinterhergeworfen hat. Von Locke weiß ich, dass sie tendenziell Hetero ist, sich aber gern durch einen Flirt mit einer Frau wichtig macht. Dass ich lesbisch bin, kann ihr nur Locke im Suff erzählt haben. Sie ist sowieso nicht mein Typ, und auch zu jung für meinen Geschmack. Wahrscheinlich gerade mal achtzehn. Als ich sitze, rülpst Locke erst mal ordentlich und sieht mich fragend an. Ich weiß, was dieser Blick bedeutet: Warum haste mir keins mitgebracht? Ich stelle mich nochmal in die Schlange. Vor mir steht ein Schrank mit kurzgeschorenen Haaren, ein wahrer Kontrast zu dem langhaarigen und unterernährten Stammpublikum. Als er an der Reihe ist, sagt das Mädchen: Stefan, hau ab, du weißt, dass du Hausverbot hast. Stefan murmelt etwas wie Komm schon, eins, hat aber schon die Aufmerksamkeit der hinter uns Stehenden erregt. Ein ziemlich ungesund aussehender Typ mit unzähligen Tattoos und Piercings löst sich aus der Menge. Verpiss dich, Arschloch, zischt er. Das Mädchen formt die Lippen, um zu beschwichtigen, doch noch vor der ersten Silbe landet der Tätowierte krachend auf dem Tresen. Stefan behält die kräftigen Arme, mit der er jene Wurfleistung vollbracht hat, oben. Die Menge weicht zurück. Bier her, Fotze, schreit er das Mädchen an. Kreideweiß im stark geschminkten Gesicht greift sie nach dem ersten Flaschenbier, das in Reichweite ist und reicht es über den regungslosen Körper des Tätowierten zu Stefan herüber. Während er es trinkt, ohne einmal abzusetzen, überlege ich, ob meine Kampfsportkenntnisse ausreichen, um ihm entschieden entgegenzutreten. Ich befinde, dass mein letztes Training zu weit zurückliegt. Er setzt die leere Flasche ab, und wirft sie knapp über den Kopf des allmählich wieder zu sich kommenden Tattoo-Freak hinweg gegen die Wand, wo sie klirrend zerschellt. Er stiert in die Menge, als suche er ein neues Spielzeug, mit dem er sich amüsieren kann. Sein Blick fällt auf mich. He, Fotze, begrüßt er mich, soll ich dich zünftig durchficken, oder was? Er geht einen Schritt auf mich zu, ich weiche nicht zurück. Das scheint ihn zu verblüffen. Bevor ich eine passende Antwort loswerden kann, ist ein kleiner, kräftiger Kerl durch die Tür gegangen und bleibt abwartend in ihr stehen. Sein Gesicht erinnert mich an einen Fuchs aus einem Kinderbuch, vor dem ich mich als kleines Mädchen immer gefürchtet habe. Seine schmalen Augen funkeln im vom Zigarettenqualm getrübten Licht und sind auf Stefan gerichtet. Der scheint plötzlich zusammenzuschrumpfen, und geht wie ein unartiges Kind wortlos an uns vorbei zur Tür. Das Fuchsgesicht dreht sich um und verlässt das Ray´s, Stefan folgt ihm. Ich spüre, dass nicht nur ich erleichtert bin, das ungleiche Paar wieder los zu sein. als ich mit dem Bier zum Tisch zurückkehre, sitzt Locke unbewegt in seinem Stuhl wie ein meditierender Mönch. Er hat sich wahrscheinlich nicht einmal die Mühe gemacht, den Zwischenfall zu beobachten. Stefan Heering, vierunddreißig Jahre alt, Langzeitarbeitsloser und Alkoholiker. Für saftige Schlägereien bekannt. Hat in allen anständigen Kneipen mittlerweile Hausverbot, was ihn aber nicht juckt. Er nimmt mir das Glas ab und nimmt einen großen Schluck. Ich warte auf weitere Informationen, aber es kommt nichts mehr. Locke weiß eine Menge über eine Menge Leute, was ihn für mich so unschätzbar wertvoll macht. Er hat mir schon bei manch einem Fall weitergeholfen, und das ohne jede Gegenleistung. Ich fürchte, er ist in mich verliebt. Ich habe nur noch den Wunsch, aus diesem Laden zu verschwinden. Trink aus, sage ich, wir gehen besser woandershin. Er kippt das Bier hinter, rülpst erneut und steht leicht schwankend auf. Er nickt dem Mädchen am Tresen zu, die mit einem an mich adressierten lüsternen Zwinkern antwortet. Dann sind wir endlich wieder an der frischen Luft.

Mir ist nichts besseres eingefallen. Locke lümmelt sich auf meinem beigen Sofa herum, während ich in der Küche nachsehe, ob genug Bier im Kühlschrank ist, um ihn bei Laune zu halten. Ich finde eine Flasche und bringe sie ihm. Er öffnet sie mit seinem Feuerzeug, das er immer mit sich herumträgt, obwohl er Nichtraucher ist. Damit ich den Damen Feuer geben kann, hat er dies einmal begründet. Ich glaube nicht, dass sich Locke mit einer Raucherin einlassen würde. Dies erhärtet meine Theorie, dass er es auf mich abgesehen hätte. Hätte, weil er eines der wenigen Exemplare der Gattung Mann ist, die mir glauben, dass ich nie was anderes an mich heranlassen würde als eine andere Frau. Er nimmt einen ordentlichen Schluck und fragt: N neuer Fall, oder was? Jetzt erst fiel mir auf, dass ich noch gar nicht auf die tote Tagesmutter zu sprechen gekommen bin. Ja, gebe ich zur Antwort, Blücher will, dass ich den Mord an einer Tagesmutter aufkläre. Locke wurde philosophisch: Und du? Willst du auch? Er trinkt nochmal. Ein Kind ist verschwunden. Wenn Hoffnung besteht, dass es noch lebt, will ich es finden. Er nickt. Also, was kann ich für dich tun? Ich denke nach. Locke von dem Notizbuch zu erzählen, würde ihn voreingenommen machen. Er hasst die Ockergelben mehr als jeder andere, den ich kenne. Ich entscheide mich für eine indirekte Herangehensweise: Zunächst mal möchte ich herausfinden, wo die Mutter des verschwundenen Kindes arbeitet. Ich nenne ihm Name und Adresse. Er wiederholt beides für sich, und ich weiß, dass er keine weiteren Informationen mehr brauchte. Er wird sich Anne Teuchert unbemerkt an die Fersen heften, bis er weiß, was ich wissen will. Leute verfolgen ist eine von Lockes Spezialitäten. Er ist praktisch unsichtbar. Meine Beschattungsversuche sind nicht immer erfolgreich verlaufen. Ich erinnere mich an eine schmerzliche Kieferoperation und freue mich einmal mehr, Locke den Job überlassen zu dürfen. Wie wärs, wenn wir mal dem Tatort n Besuch abstatten? Sein Tatendrang zu so nächtlicher Stunde verblüfft mich. Es ist fast Mitternacht und außerdem fast Neumond, gebe ich zu bedenken. Eben. Um diese Zeit schnüffeln keine Bullen mehr nach Spuren. Polizisten sind gleich nach Rechtsradikalen Lockes großes Feindbild. Sein Argument hat was für sich. Ich könnte zwar mal wieder ein bisschen Schlaf gebrauchen, aber warum nicht. Er trinkt aus. Hast du ne Taschenlampe? Ich habe eine. Es geht weiter, aber es ist auch keine Zeit zu verlieren. Auch ich will nicht warten, bis die Polizei Nadine nur noch als Leiche auffindet.

Die Taschenlampe tut uns gute Dienste. Nachdem wir den Spielplatz abgeleuchtet hatten, wagen wir uns in das nahe Waldstück, wo die Leiche gefunden worden ist. Was glaubst du, wurde sie im Wald ermordet oder wurde die Leiche hierher gebracht? Das ist eine Frage, die ich mir noch nicht gestellt habe. Ich vermute, dass Renate Koenig mit der Kleinen auf dem Spielplatz gewesen ist, und dann aus irgendeinem Grund waldeinwärts gegangen ist. Dort hat sie der Täter überrascht. Oder ist der Täter auf dem Spielplatz gewesen, hat sie angesprochen und es irgendwie geschafft, sie zu überreden, ihn ein Stück weit in den Wald zu begleiten? Nein, das ist unwahrscheinlich, wenn man aus Teucherts Darstellung von der Tagesmutter folgerte, dass sie kein naives und leichtsinniges Mädchen gewesen ist. Es sei denn, der Täter ist ein Bekannter. Versunken in meine Gedanken habe ich nicht bemerkt, dass Locke ein ganzes Stück weitergegangen ist. Jetzt steht er lauernd hinter einem dicken Baum und stiert in die Ferne. Ich knipse die Lampe aus und schleiche mich leise zu ihm hin. Da hinten bewegt sich was, flüstert er, und es ist weder ein Vogel noch ein anderes Tier. Ich stelle mich neben ihn. Tatsächlich sind in einem beruhigenden Abstand im schwachen Mondlicht Silhouetten zu erkennen, die ein bis zwei menschliche Gestalten erahnen lassen. Laß uns lieber gehen, schlage ich vor, aber er machte keine Anstalten, sich vom Platz zu rühren. Möchte wissen, was die da suchen. Mir erscheint es auch so, als ob die Schatten systematisch den Boden absuchen, als hätten sie was verloren. Vielleicht Bullen, die Überstunden machen? schlage ich vor. Er geht nicht darauf ein. Ich glaub, sie kommen näher. Plötzlich ergreift mich Panik und ich will Locke am Handgelenk weiter zerren. Ich greife ins Leere und stolpere. Mein zarter Körper prallt auf einen herumliegenden, morschen Ast und hinterlässt verhältnismäßig viel Lärm für meine fünfundfünfzig Kilo. Scheiße, höre ich Locke fluchen, während ich mich wieder aufrappele. Dann saust er an mir vorbei. Ich höre, wie sich zwei Paar schwere Schuhe nähern, und laufe selber los. Die Schritte kommen näher und drohen mich einzuholen. Blitzartig ziehe ich die Taschenlampe und richte sie auf die Verfolger. Wenn ich Glück habe, würde ich sie blenden, so dass ich sie, aber sie mich nicht sehen können. Ich habe Glück. Vom Strahl geblendet, bremsen sie jäh. Einer gibt ein Grunzen von sich. Ich versuche, ihre Gesichter zu erkennen. Die Überraschung lässt mich beinahe vergessen, dassder Blend-Effekt nicht ewig andauern wird und es Zeit ist, weiter zu rennen. Ich renne los. Von oben fällt etwas auf mich, drückt mich auf den Boden und hält mir mit einer feuchten Hand den Mund zu, bevor ich schreien kann. Dann wird es endgültig Nacht.


2

Ich träume, ich würde in einem großen, fremden Bett aufwachen, und ein junger Mann kommt mit einem vollbeladenen Frühstückstablett in das Schlafzimmer. Er sieht aus wie ein Schauspieler aus dem Fernsehen, der in letzter Zeit in jeder zweiten Daily Soap eingesetzt wird. Er ist, nach dem gängigen Ideal gemessen, ein wunderschöner Mann, aber einer der miserabelsten Mimen, die man sich vorstellen kann. Was er in meinen Träumen zu suchen hat, weiß ich auch nicht. Als mir der überaus reale und köstliche Duft von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase steigt, dämmert mir langsam, dass dies kein Traum sein kann. Als Wolfgang Neher das Tablett vor mich hinstellt, beschließe ich, die sich aufdrängende Frage, was ich im Bett eines drittklassigen TV-Schauspielers mache, auf das Ende des Frühstücks zu verschieben. Neher bleibt wortlos neben dem Bett stehen und beobachtet amüsiert meinen gesunden Appetit. Ich wünschte, er würde sich in Luft auflösen, aber stattdessen gesellt sich bald eine zweite Erscheinung zu der ersten. Thomas Ranisch, der mit mir Abitur gemacht hat und mit dem ich meine einzige, natürlich nicht lang anhaltende Männeraffäre hatte, steht plötzlich leibhaftig vor mir. Als er Neher von hinten umarmt und aufs Ohr küsst, verschlucke ich mich und wäre beinahe an einem Stück Brötchen erstickt. Ich frage mich, ob ich nicht doch träume, als Thomas zu reden beginnt: Hey Maggy, was für eine Überraschung. So sieht man sich wieder. Endlich habe ich den Mund wieder leer. Kannst du mir mal bitte verraten, was ich im Bett von Wolfgang Neher mache? Oder ist es deines? Seine Antwort überraschte mich nicht mehr: Es ist unser Bett. Blitzartig wird mir vieles klar, was ich während unserer sogenannten Affäre nicht verstanden habe. Das Unbehagen beim Sex hat also doch nicht nur an mir gelegen. Und dass Neher schwul ist, habe ich schon länger geahnt. Maggy, was treibst du dich eigentlich nachts im Wald herum? Allmählich kommt mir die Erinnerung an letzte Nacht und ich ahne, dass es Ranisch war, der sich auf mich gestürzt und mir den Mund zugehalten hatte. Dieselbe Frage wollte ich dir gerade stellen, kontere ich. Ranisch sieht seinen Lebensgefährten an. Dieser versteht, nimmt das Tablett mit seinem typischen TV-Lächeln und verlässt das Zimmer. Seid ihr verpartnert? frage ich. Noch nicht. Wolfgang hat sich noch nicht öffentlich geoutet, er will einen günstigen Moment abwarten. Thomas scheint froh zu sein, dass ich auf andere Themen zu sprechen komme. Ich sehe ein, dass ich mit den Erklärungen beginnen muss. Also, ich hab schon vor längerer Zeit mein Studium geschmissen und mich quasi inoffiziell zu einem Privatschnüffler entwickelt. Und manchmal bringt es der Job mit sich, dass ich zu nächtlicher Stunde im Wald herumstolziere. Er grinst. Privatschnüffler? Sieh an.Und ich, ob dus glaubst oder nicht, bin beamteter Schnüffler geworden. Das verschlägt mir die Sprache. Thomas Ranisch, der zartbesaitete mit der Ballettfigur, ein Bulle? Ich bereue, mich ihm preisgegeben zu haben. Andererseits ist er ja nicht nur ein Polizist, sondern ein Freund. Wirst du mich jetzt einbuchten? frage ich scherzhaft. Er lacht nicht. Betrachte dich hier als eingebuchtet. Bis du mir alles erzählt hast. Ich verstehe. Du ermittelst im Fall der toten Tagesmutter, hab ich recht? Er zögert, dann streckt er mir die Hand hin wie ein Schuljunge: Okay, Maggy, deine Wahrheit gegen meine. Wir sind ja schließlich nicht nur Freunde, sondern auch Verwandte. Meine Vorliebe für das eigene Geschlecht ist ihm also nicht entgangen. Du wirst es nicht glauben, Maggy, aber schon als Polizeischüler spielte ich mit offenen Karten und outete mich. Ich will seine Gesprächigkeit nutzen, solange sie anhält. Was für Anhaltspunkte gibt es überhaupt? Er hat mich durchschaut, und ignoriert meine Frage. Da ist etwas merkwürdiges. Renate Koenig war verheiratet. Marko Koenig, ihr Mann, und sie lebten schon seit längerem getrennt, aber sie sind nicht geschieden. Er hat die Leiche identifiziert, was gar nicht so einfach war. Der Mörder hatte ihr Gesicht brutal entstellt. Kopfschuss, da bleibt nicht viel übrig. Das eben genossene Frühstück dreht sich im Magen um. Ich unterdrücke den aufkommenden Brechreiz und frage weiter: Zählt er zu den Tatverdächtigen? Wieder geht der Kollege nicht auf mich ein. Bei der ersten Untersuchung der Leiche sprach zunächst alles dafür, dass es sich gar nicht um Renate Koenig handelte. Wir baten die Mutter des Tageskindes um eine Identifizierung, die uns bestätigte, dass die an der Leiche gefundene Kleidung der von Renate Koenig entsprach. Auch die Haarfarbe würde stimmen, aber eindeutig sicher wäre sie nicht. Erst die Identifizierung durch Marko Koenig gab uns die Sicherheit. Er behauptete steif und fest, dass er sich absolut sicher sei, obwohl wie gesagt das Gesicht- Mein eigenes Gesicht verrät ihm, dass er den Satz besser nicht zu Ende spricht. Wir könnten ihn einfach für einen Lügner halten, aber er hätte nichts von einer Falschaussage. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass es sich um seine Frau handelt, belastet ihn und macht ihm zum Tatverdächtigen Nummer eins. Er zwinkert mir zu. Er hat meine Fragen doch wahrgenommen und genießt jetzt seinen Triumph, der Mistkerl. Dennoch deutet alles andere darauf hin, dass es sich bei der Leiche um eine andere Frau ähnlichen Alters handelt.Wir warten auf einen DNA-Test, der uns hoffentlich Gewissheit gibt. Mir schwirrt langsam der Kopf. Das sind eindeutig zu viele neue Aspekte auf einmal. Hör zu, Tommy, lass mich mal noch ein bisschen allein in deinem Bett liegen. Du machst uns einen Kaffee, und dann tauschen wir uns in Ruhe aus. Er nickt und lässt mich allein. Braver Tommy. Irgendwie liebe ich ihn wirklich.

Den dritten Kaffee an diesem Tag nehme ich in Blüchers Küche ein. Es ist bereits Nachmittag. Das zweite Frühstück mit Tommy hatte sich hingezogen, da es nicht nur Informationen zum Fall auszutauschen gab, sondern jeder seine bisherige Biografie seit dem Abitur zu erzählen hatte. Blücher sitzt wie eine Statue in seinem Rollstuhl, und macht ein gelangweiltes Gesicht, als ich ihm von der Begegnung mit meinem alten Schulfreund erzähle. Erst als ich dessen Beruf erwähne, gerät er in Erregung, was sich bei ihm stets am plötzlichen Kauen auf seinen Lippen bemerkbar macht. Ich muss ihn beruhigen: Er weiß zwar, dass ich Privatermittlungen führe, aber deinen Namen habe ich nicht erwähnt. Das Lippenkauen hört auf. Ich erzähle ihm alles, was ich seit unserer letzten Begegnung herausgefunden und was Locke und Tommy mir erzählt haben. Auch den Zwischenfall im Ray´s lasse ich nicht aus. Die Tatsache, dass die zwei nächtlichen Verfolger im Wald Stefan Heering und der Mann mit dem Fuchsgesicht gewesen sind, kann kein Zufall sein. Dass Tommy gerade in der selben Nacht auf die Idee gekommen ist, den Tatort nochmals aufzusuchen, ist Zufall gewesen. Ein Zufall, der mir möglicherweise das Leben gerettet hat, denn die beiden waren nahe dran gewesen, mich einzuholen. Nach Heerings Auftritt im Ray´s darf ich mir sicher sein, dass er nicht zimperlich mit mir umgegangen wäre. Auch das Fuchsgesicht macht keinen sehr Vertrauen erweckenden Eindruck. Ich hoffe, Tommy würde die Identität des Fuchsgesichtes herausfinden, und ob etwas Rechtswidriges gegen die beiden vorliegt. Es ist anzunehmen, dass sie in den Fall verwickelt sind. Was haben sie gesucht? sind sie die Mörder Renate Königs, und ist jene Tote überhaupt Renate König? Wenn nicht, wer ist sie dann? Und was ist dann mit Renate König? Sie ist ebenso spurlos verschwunden wie ihr Tageskind Nadine. Was Nadine anbetrifft, so gibt es noch keine Spur. Mehr wusste Tommy nicht zu sagen. Das Auffinden des Kindes hat man anderen Kollegen übertragen. Offensichtlich gibt es doch Vorbehalte gegen offen schwule Polizeibeamte. ((Wir brauchen eine Chronologie, sagte Blücher, nachdem ich meinen Bericht geendet hatte. Die Sprechstunde war vorbei, die Hausaufgabe erteilt. Blücher wünschte bei jedem Fall immer wieder eine Liste aller bedeutenden Informationen, eingebettet in einen chronologischen Verlauf. Ich trank meinen Kaffee aus, während mir Blücher Papier und Stift reichte und sich in eine andere Ecke seiner Wohnung verzog.

Ich verließ Blüchers Wohnung mit einer Abschrift der Chronologie in der Hosentasche. Blücher war in der Hinsicht sehr pedantisch. Ich musste von jeder Chronologie eine handschriftliche Kopie anfertigen und bei mir in einem Aktenordner einheften. Die erste Abschrift behielt er bei sich.)) Ich überlege, ob ich die Straßenbahn nehmen soll, entscheide mich aber wegen des schönen Wetters für einen Spaziergang. Auf dem Weg bekomme ich das untrügliche Gefühl, dass ich verfolgt werde. Ich bleibe vor dem Schaufenster einer Geschenkboutique stehen und warte ab. In etwa fünf Minuten werde ich wissen, ob mir ein Fremder auf den Fersen ist. Erleichtert nehme ich in der Spiegelung des Fensters die Umrisse der Gestalt Lockes wahr. Es ist ein kleines Spiel von uns. Locke weiß es einzurichten, mich so zu verfolgen, dass ich es irgendwann merke. Ich habe mich daraufhin vor ein Schaufenster zu stellen und fünf Minuten zu warten. Wenn ich dann Locke im Schaufenster sehe, weiß ich, wo ich ihn treffen muss. Ob dieses Ritual etwas mit Vorsicht zu tun hat, oder einfach ein albernes Spielchen, habe ich nie erfahren. Ich spiele einfach mit. Unser Treffpunkt ist eine winzige Grünfläche mitten in der Stadt, auf der sich eine einzelne verwitterte Bank befindet. Hier verirren sich nicht einmal müde Rentner hin, hier sind wir immer ungestört. Locke erwartet mich schon mit einem Ausdruck im Gesicht, der Triumph verrät. Auftrag ausgeführt, sagt er stolz, als ich mich neben ihm niedergelassen habe. Er scheint kein bisschen verwundert, mich nach unserem nächtlichen Ausflug unversehrt anzutreffen. Ich werte dies als Kompliment auf meine Zähigkeit gepaart mit Überlebensdrang und fühle mich geschmeichelt. Und? frage ich ungeduldig. Anne Teuchert arbeitet in einem Verlagshaus. Dort publizieren sie alles mögliche, vor allem politische Schriften und Parteiorgane im Auftrag politischer Gruppen und Parteien. Der Verlag steht in dem Ruf, jede Schrift herauszubringen, solange der Auftraggeber bezahlt. Die politische Richtung spielt dabei keine Rolle. Inhalte interessieren nicht, solange man nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Dabei ist es aber oft eine Gratwanderung dahin. Mir fällt das Notizbüchlein in Teucherts Wohnung ein. Weißt du, ob die Ockergelben ihre Publikationen über diesen Verlag laufen lassen? Locke wird unruhig. Wie kommst du auf die Ockergelben?, will er wissen. Wenn Locke diese Vermutung so aus der Fassung bringt, muss die Geschichte ein verdammt heißes Eisen sein. Ich erzähle ihm von dem Notizbuch. Das passt zusammen, gibt er zu. Wenn die Ockergelben da irgendwie mit drin hängen, müssen wir höllisch aufpassen. Jetzt werde ich unruhig. Trotz meines Jobs kann ich nicht von mir behaupten, ein sehr mutiger Mensch zu sein. Ich denke an den Kopfschuss. So wie die Sache aussieht, war der Mörder kein verrückter Frauenmörder, der sich im Wald hinter einem Baum versteckt und jungen Frauen auflauert, hat Tommy gemeint. So einer benutzt eher ein Messer und geht nicht so präzise mit einer Waffe um. Renate Koenig wurde mit einem gezielten Kopfschuss getötet, der Routine im Töten erfordert. Der Täter wusste genau, wie er die Waffe halten musste, um ihr bis zur Unkenntlichkeit das Gesicht weg zu pusten. Tommy hat auch die Vermutung geäußert, dass das Opfer den Täter gekannt haben muss, und die Tat somit recht unkompliziert für den Mörder gewesen sei. Renate Koenig war wahrscheinlich mir ihrem Mörder freiwillig zu dem Waldstück mitgegangen und hat nicht damit gerechnet, dass er sie umbringen würde. Gehörte Renate Koenig den Ockergelben an, und waren diese in Wirklichkeit eine kriminelle Vereinigung mit Mafia-Methoden? Das klingt mir zu unglaubwürdig. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Rechtspartei, dem Arbeitsplatz der Mutter des verschwundenen Kindes und dem Fall geben soll. Oder ist dieser Zusammenhang nur das Wunschdenken einer Lesbe, die jene homophobe Partei hasst wie die Pest? Homophobie. Vielleicht ist hier ein fehlendes Teil in dem Puzzle, das ich zusammenzusetzen versuche. Ich stehe auf. Neuer Auftrag? fragt mich Locke. Im Moment nicht. Ich muss erst mal Ordnung in diesen Wust von Informationen bringen. ((Ich illustriere das Gesagte, indem ich mit der Chronologie wedelte. Locke grinste, er wusste von Blüchers lehrerhaften Launen.)) Vielleicht heute im Ray´s? fragt er. Mir fällt doch eine Aufgabe für ihn ein. Erinnerst du dich an den Typen, der Stefan Heering im Ray´s abgeholt hat? Er zieht die unter dem verfilzten Haar kaum sichtbaren Augenbrauen hoch. Er hat Fuchsgesicht nicht einmal bemerkt. Vergiss es. Ob ich ins Ray´s komme, weiß ich noch nicht. Eigentlich mag ich den Laden nicht. Und dieses Mädchen- Er lässt mich nicht ausreden. Auf die biste scharf, was? Ich mache eine verärgerte Miene, was ihn noch mehr amüsiert. Insgeheim muss ich mir eingestehen, dass in dem Moment das Mädchen nackt vor meinen geistigen Auge erscheint. Es wird Zeit für eine feste Freundin.

Ich stehe vor dem Gebäude des Verlagshauses. Es ist einer dieser schnell hochgezogenen supermodernen Bauten aus Beton und Glas. Ich rätsle, wo Anne Teuchert ihr Büro hat, und ob sie Überstunden machen wird, da sie ihr Kind nicht abzuholen braucht. Ich hoffe nicht. Es ist ungefähr um die Zeit, in der sie gewöhnlich das Gebäude verlässt, und ich will sie abfangen. Tommy hat mir zwar schon einiges aus den Gesprächen mit den Teucherts erzählt, aber ich muss mir ein eigenes Bild von der Frau machen. Hoffentlich wird sie bereit sein, mit mir zu sprechen. Sie kommt pünktlich. Ich erkenne sie anhand Lockes Beschreibung: Schwarzer halblanger Pagenschnitt, teures braunes Kostüm und schwarze halbhohe Pumps.Alles in allem eine elegante Erscheinung, und eine äußerst attraktive Frau. Ich spüre, wie sich bei ihrem Anblick verschiedene Körperteile bei mir in Erregung versetzen. Sie wird von einem Mann um die Vierzig eingeholt, der meine Erregung wieder beträchtlich dämpft. Er ist klein und fett, hat einen dünnen Oberlippenbart und die ebenso dünnen Haare mit Pomade nach hinten geklebt, um die entstehende Glatze zu kaschieren. Während er auf Anne Teuchert einredet, plusterte sich sein Hals auf und spannt das bis zum obersten Knopf zugeknöpfte Hemd noch mehr. In seinem dunkelgrauen Anzug scheint er extrem zu schwitzen. Seine ganze Erscheinung hat etwas Abstoßendes, wobei ich nicht glaube, dass es sein Äußeres ist. Dieser Mann strahlt förmlich eine Antipathie aus, die ich mir nicht erklären kann. Am meisten stört mich, wie Anne den Mann betrachtet, in einer Art untergebener Ehrfurcht, so als sei er ein Heiligenbild, vor dem sie gleich niederknien würde. Sie verabschieden sich vor einem dunkelblauen Mercedes, in den der Mann einsteigt und wegfährt. Die Frau sieht dem Wagen nach, dann ist ihr Blick schlagartig auf mich gerichtet. Langsam kommt sie auf mich zu. Sie hat mich von Anfang an wahrgenommen, und habe nur gewartet, bis der Dicke verschwunden ist. Sie steht vor mir, und ihre Schönheit lässt mich erröten, was mir nicht wenig peinlich ist. Sie streckt mir die Hand hin. Frau Maag, nehme ich an. Mein Mann hat mir von Ihnen erzählt. Sie wollen uns helfen, unser Kind wiederzufinden, nicht wahr? Ich habe mir schon gedacht, dass sie mich früher oder später hier aufsuchen würden. Da sie nicht versucht haben, mich telefonisch zu Hause zu erreichen, nehme ich an, dass sie unter vier Augen mit mir sprechen wollen. Sie schenkt mir ein bezauberndes Lächeln, was allein ausgereicht hätte, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Dazu ist ihre Stimme so ziemlich die verführerischste, die ich je gehört habe. Ich bemühe mich, sachlich und anwesend zu bleiben. Richtig, ist alles, was ich herausbringen kann.Wir gehen am besten in mein Büro, schlägt sie vor. Der Herr, den Sie eben mit mir beobachtet haben und ich sind in der Regel die letzten, die das Gebäude hier verlassen. Wir können also ungestört reden. Ein überfülltes Café wäre mir in meinem Zustand sexueller Hochspannung wesentlich lieber, aber sie ist schon auf dem Weg zurück, und ich folge ihr willig wie ein ausgehungerter Dackel.

Anne Teucherts Büro ist nicht so groß, wie ich erwartet habe, aber geschmackvoll eingerichtet. Nicht dass ich etwas von Möbeln und Innenarchitektur verstehen würde. Was in dieser Hinsicht als geschmackvoll gilt, habe ich von meinem Bruder Achim gelernt, seines Zeichens Rechtsanwalt und sehr bewandert in dem, was in der Gesellschaft Mode ist. Er würde das Sitzmöbel zwischen Stuhl und Sessel wahrscheinlich bequem finden, in dem ich viel zu tief sitze. Anne Teuchert hat mir gegenüber auf einem ebensolchen Teil Platz genommen und die Beine übereinandergeschlagen. Der Kostümrock ist etwas nach oben gerutscht und gibt den Blick auf den spitzenbesetzten Rand einer ihrer halterlosen Nylonstrümpfe frei. Sie selbst scheint es nicht zu merken. Ihre Aufmerksamkeit ist ganz auf mich gerichtet, als erwarte sie von mir eine erste Frage. Mir fällt keine ein. Ich kann den Blick nicht von ihren Beinen wenden. Wenn sie es merkt, so weiß sie es geschickt zu verbergen. Ich versuche, mich zu sammeln, schließe kurz die Augen, aber selbst so habe ich nur die Frau vor mir, mit der ich allein in diesem Büro sitze. Ich habe die Augen noch nicht wieder geöffnet, da rieche ich ihr Parfüm intensiver als zuvor. Manja, haucht mir eine liebliche Stimme ins Ohr, und wieder Manja. Ich öffne die Augen. Sie steht vor mir, den Kopf ganz nah an mein Gesicht gebeugt. Sie nimmt meinen Kopf in ihre Hände und streicht mir das Haar aus dem Gesicht. Dann küsst sie mein Ohr, meine Stirn, meine Wangen. Plötzlich reißt sie meinen Kopf brutal mit beiden Händen nach hinten und drückt ihn fest in die Lehne. Sie setzt sich auf mich und drückt ihre Lippen heftig gegen meine, schiebt mir ihre Zunge in den Mund und sucht nach meiner. Meine Willenskraft zu Widerstehen ist nun endgültig gebrochen. Ich greife das Spiel der Zungen auf und schiebe mit meinen Händen ihren Rock weiter hoch. Sie trägt keinen Slip. Ich streichele ihre Pobacken. Sie löst ihren Mund von meinem und stöhnt auf. Ihre triefende Möse ist direkt über meinem Gesicht, ich beginne sie sauberzulecken.Mit jeder Bewegung stöhnt sie ein bisschen lauter. Als sie kurz vor dem Höhepunkt ist, drückt sie mit der einen Hand lieblos meinen Kopf von ihrer Möse weg und erledigt mit der anderen den Rest. Ein letztes lustvolles Stöhnen, dann steht sie völlig kaltblütig auf, zieht den Rock herunter und lässt mich in dem Sessel zurück. Ich bin völlig hinein gesunken, Haare und Gesicht getränkt von meinem Schweiß und ihren Körpersäften und fühle mich wie ein Kätzchen kurz vor dem Ertrinken. Sie geht zur Tür und sagt, kurz bevor sie sie öffnet, in geschäftlichem Ton: Die Sprechstunde ist zu Ende. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, kommen Sie ein anderes Mal wieder. Ich stehe schon im Flur, alssie mit dem lasziven Hauchton von vorhin hinzufügt: Aber immer kurz vor Dienstschluss, Manja. Dann schließt sich hinter mir die Tür.

Draußen dämmert es bereits. Alles um mich herum kommt mir unwirklich vor. Ich streife eine Weile ziellos durch irgendwelche Straßen, in denen ich noch nie gewesen bin, und überlege, was ich als nächstes tun soll. Ich erwäge, sofort zu Blücher zu gehen und zu kündigen, aber ich weiß, dass er das selbst unter den eingetretenen Umständen nicht akzeptieren würde. Außerdem bin ich schon zu tief in der Sache drin, um aufzuhören. Die Ruhe, mit der Nadines Mutter das Verschwinden ihres Kindes hinnimmt, gibt mir eine Art Gewissheit, dass das Kind noch am Leben ist. Es scheint, als wartet Anne Teuchert auf ein bestimmtes Zeichen, von dem sie überzeugt ist, dass es nicht ausbleiben wird. Ein Erpresserbrief mit einer Lösegeldforderung? Jedenfalls ist der Fall für mich erst abgeschlossen, wenn Nadine wieder in Sicherheit ist. Ich nehme Kurs auf meine Wohnung. Es ist das Beste, wenn ich mich für den Rest des Tages in meine eigenen vier Wände verkrieche und meine Gedanken ordne. Auch meine Gefühle, denn ich muss das eben erlebte Abenteuer verdauen. Es ist nicht gut, die Distanz zu einer der Protagonisten in dem Spiel zu verlieren. Während des Heimwegs versuche ich Anne Teuchert wieder auf eine sachliche Ebene zu befördern. Ich habe zwar nicht mit ihr gesprochen, aber doch eine ganze Menge über sie erfahren. Sie ist kein bisschen der Hausfrauentyp und stand gewiss nicht unter dem Pantoffel ihres Mannes. Allerdings ist sie auch ganz die Mutter, was das gemeinsame Kind betrifft. Ich vermute immer noch, dass sie nicht nur Nadine zur Tagesmutter gebracht, sondern sich nach Feierabend ausschließlich um das Kind gekümmert hat. Ihr Verhältnis zu Jürgen Teuchert ist offensichtlich von Gleichgültigkeit geprägt, was ich daraus folgere, dass das Büro aufgeräumter war als die gemeinsame Wohnung, und dass sie es nicht eilig hat, nach Hause zu kommen, seitdem das Kind nicht mehr da ist. Und natürlich aus dem, was ich in ihrem Büro erlebt habe. Ist sie lesbisch oder nur sexuell frustriert, weil das Liebesleben in der Ehe nicht mehr funktioniert? Ich schätze Anne eher so ein, dass sie sich nimmt, was sie will. Wahrscheinlich würde sie ebenso sehr Spaß an einer Orgie mit einem Dutzend Männern haben, wenn ihr gerade danach ist. Einzige Voraussetzung wäre, dass sie dabei der dominante Part bleibt. Ja, das ist es: Annes Grundeigenschaft ist der absolute Anspruch auf Dominanz. Jürgen Teuchert leidet als konservativ eingestellter Mann sicher an dieser Haltung. Ich frage mich, ob er von den Eskapaden seiner Frau weiß, oder es zumindest ahnt. Dass die beiden überhaupt noch zusammen waren, lag sicher an Nadine. Der Dicke fällt mir wieder ein. Die Art, wie Anne sich ihm gegenüber verhalten hat, steht im krassen Gegensatz zu ihrem sonstigen Wesen. Selbst wenn er ihr Vorgesetzter ist, würde eine Frau wie sie sich nie so unterwürfig geben. Oder habe ich mir das nur eingebildet? Es kann nicht schaden, mehr über den Dicken herauszufinden, überlege ich und beschließe, noch einen Abstecher ins Ray´s zu machen.

Erleichtert stelle ich fest, dass das Mädchen mit dem breiten Hintern nicht hinter dem Tresen steht. Ihre lüsternen Blicke hätte ich heute nicht verkraftet. Locke sitzt am gleichen Tisch wie gestern und es wirkt, als hätte er sich seit gestern nicht wegbewegt. Ich drücke dem Barkeeper das Geld in die Hand und gehe mit zwei Flaschenbier zu Locke. Er sieht für seine Verhältnisse recht ordentlich gekämmt aus. Statt einer Begrüßung stelle ich ihm eine der Flaschen vor die Nase. Damit du mal was ordentliches zu dir nimmst. Er brummt nur und trinkt in einem Zug die halbe Flasche leer, bevor er fragt: Was neues? Ich gönne ihm eine Pause für einen eventuellen Rülpser, der aber ausbleibt. Diesmal ist es nicht so einfach. Anne Teuchert hat einen Arbeitskollegen oder Vorgesetzten, über den ich gerne etwas mehr wüsste. Ich gebe ihm eine detaillierte Beschreibung und füge noch Typ und Farbe des Wagens hinzu. Könnte ausreichen, meint Locke hoffnungsvoll und leert die Flasche. Falls du übrigens wegen der Tresenschnecke hier bist, die hat heute frei. Aber ich könnte dir Name und Adresse besorgen. Ich mache ein gequältes Gesicht und er lacht schallend. Barbara Eisenschmidt. Quasi als Vorschuss. Für die Adresse musst du schon mehr als ein Bier spendieren. Ich sehe mein Anliegen als erledigt an und habe keine Lust, noch länger mit Locke im Ray´s abzuhängen. Wortlos schiebe ich ihm mein unangerührtes Bier hin und stehe auf. Er rülpse verspätet und ich stelle fest, wie überreizt ich bin. Am liebsten würde ich meine rudimentären Kampfsportkenntnisse an ihm ausprobieren. Stattdessen werfe ich ihm einen halbwegs vorwurfsvollen Blick zu und will eben den Laden verlassen, als er mich zurück winkt. Für einen weiteren Scherz ist er dabei viel zu aufgeregt. Als ich wieder sitze, flüstert er kaum hörbar, als würde er Angst vor fremden Zuhörern haben: Der Verlag. Er publiziert nicht nur sämtliche Printmedien der Ockergelben- Er holt tief Luft, dann beendet er den Satz: Er gehört den Ockergelben!

((Zu Hause angekommen, lege ich mich sofort ins Bett, überarbeitete die Chronologie und las sie mir nochmals durch: Tag X. Anne Teuchert liefert ihre Tochter Nadine kurz vor Neun bei der Tagesmutter Renate Koenig ab und fährt anschließend zur Arbeit. Sie arbeitet bei einem Verlag, der einer rechtsextremen Partei mit homophobem Parteiprogramm, genannt Die Ockergelben, gehört. Renate Koenig geht mit Nadine zu einem Spielplatz, wo sie eine ihr bekannte Person (P) trifft. Aus ungeklärten Gründen geht Renate Koenig (vermutlich mit dem Kind) mit P in ein nahegelegenes Waldstück. P tötet Renate Koenig auf routinierte Weise so durch Kopfschuss, dass ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Das Kind nimmt P vermutlich mit. Jedenfalls ist es seitdem spurlos verschwunden. Da Renate Koenig Nadine pünktlich gegen halb vier Uhr nachmittags bei den Teucherts abzugeben pflegte, ruft Nadines Vater Jürgen Teuchert Renate Koenig an, und als diese nicht ran geht, seine Frau im Büro, mit der Bitte, nach der Arbeit bei der Tagesmutter vorbeizuschauen. Anne Teuchert geht sofort hin und wartet zwei Stunden vor dem Haus. Dann verständigt sie die Polizei. Diese sucht die Gegend im Umkreis ab und findet noch am selben Abend die Leiche der Frau, aber nicht das Kind. Die Leiche wird untersucht. Erste Ergebnisse weisen darauf hin, dass es sich bei der toten Frau nicht um Renate Koenig handelt. Die Leiche wird zur Identifizierung zwei Personen gezeigt: Anne Teuchert und dem Ehemann von Renate Koenig, Marko Koenig. Anne Teuchert bestätigt, dass die Haarfarbe stimme und die an der Toten gefundene Kleidung mit der identisch war, die Renate Teuchert am Morgen getragen hatte. Dennoch will sie sich nicht hundertprozentig festlegen. Marko Koenig, seit längerem von seiner Frau getrennt lebend und in einem gespannten Verhältnis zu ihr stehend, behauptet, dass die Tote auf jeden Fall seine Frau sei. Da er keinen Grund für eine Falschaussage hat und der Tod seiner Frau ihn zum Hauptverdächtigen macht, liegt kein Grund vor, seine Aussage in Zweifel zu ziehen. Alle bisherigen polizeilichen Ermittlungen führen zu keinen Ergebnissen, sowohl was Hinweise auf den Täter betrifft als auch der Verbleib des Kindes. Zeugen, die etwas beobachtet haben, haben sich noch nicht gefunden. Merkwürdig ist, dass das Finden des Täters einem Beamten übertragen wurde, der ausschließlich für Fälle mit homosexuellem Hintergrund zuständig ist, und dem kein Hinweis darauf gegeben wurde, was für ein homosexueller Hintergrund vermutet wird. Drei Nächte nach dem Mord werden zwei Männer am Tatort beobachtet, wie sie den Boden im Umkreis systematisch absuchen. Einer der Männer ist ein vierunddreißigjähriger Arbeitsloser und Alkoholiker namens Stefan Heering, der für ein aggressives Verhalten bekannt ist. Beim Lesen fiel mir auf, dass die bisherigen Tatsachen und Ergebnisse sehr dürftig waren und das meiste, worauf ich mich in diesem Fall stützte, vage Vermutungen und Gefühle waren. Auch die letzte Information, dass der Verlag den Ockergelben gehörte, musste nichts mit dem Fall zu tun haben, nur weil die Mutter des verschwundenen Kindes dort arbeitete Dennoch ergaben einige der Tatsachen zumindest eine Richtung, vorausgesetzt, es war wirklich Renate Koenig, die ermordet wurde. Das eben war der entscheidende Punkt. Solange ich nicht sicher wusste, wer eigentlich tot war, kam ich nicht weiter. Ich untersuchte die Chronologie noch einmal unter dem Aspekt, dass es sich bei der Toten nicht um Renate Koenig handelte. Zunächst versuchte ich die beiden Vorfälle unabhängig voneinander zu betrachten. Eine Frau ist in einem Wald tot aufgefunden worden. Eine Tagesmutter und ihr Tageskind sind verschwunden.Wo war die Schnittstelle der beiden Fälle? Ich ging den Bericht nochmals sorgfältig durch. Die Kleidung- Die Leiche hatte in jedem Fall die Kleidung getragen, die Renate Koenig am Morgen des besagten Tages trug. Ein unerträglicher Verdacht machte sich langsam in mir breit, war aber nicht mehr wegzudenken. Ich sah die Tagesmutter vor mir, wie sie mit der Kleinen zum Spielplatz kommt. Sie trifft eine Bekannte, die drei gehen in den Wald. Renate Koenig tötet die Frau, tauscht die Kleidung aus und taucht mit dem Kind unter. Da die Frau dieselbe Haarfarbe hatte und das Gesicht der Leiche nicht mehr identifizierbar, würde die Polizei das Opfer vorläufig mit der Täterin verwechseln. Lange genug, um der Mörderin Zeit zu lassen, sich in Sicherheit zu bringen. Soweit war meine Theorie schlüssig. Was mir seltsam vorkam, war die Art, mit der das Opfer getötet wurde. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass eine Tagesmutter eine Schusswaffe mit auf einen Spielplatz nimmt, um dann eine Bekannte auf Mafia-Art um die Ecke zu bringen. Wenn Renate Koenig die Mörderin war, galten drei Dinge als sicher. Der Tagesmutterjob war nur Tarnung gewesen und sie war eine professionelle Killerin. Sie hatte ihr Opfer nicht zufällig getroffen, sondern sich mit ihr verabredet. Der Mord war von langer Hand geplant. Wenn das alles zutraf, fragte ich mich, warum sie sich für den Mord ausgerechnet eine Zeit mitten am Tag aussuchte, bei der sie obendrein ein Kind im Schlepptau hat. Was war, wenn die Entführung des Kindes zu dem Plan gehörte? Es musste so sein, denn mit einem Kind ließ es sich wesentlich schwerer untertauchen. Und dass die Tagesmutter Nadine umgebracht hatte, konnte und wollte ich nicht glauben, selbst wenn sie in Wirklichkeit die abgebrühteste Killerin war. Ich dachte an Anne Teuchert und war noch sicherer als zuvor, daß auch sie nicht an den Tod ihrer Tochter glaubte. Was hatte Renate Koenig vor? Wollte sie das Kind als Geisel benutzen, falls man ihr auf die Schliche käme? Ich musste schlafen.begann schon unverbrüchlich an meine Theorie zu glauben, bevor die Identität der Ermordeten geklärt war, und das war gefährlich.Mit dem innigen Wunsch, dass die Polizei mit der Identifizierung bald zu einem Ergebnis kommen würde, schlief ich endlich ein.))

***Notiz: Hier könnte Teuchert nochmal anrufen…***

3

Die Antwort kam schon am nächsten Morgen. Die Türklingel weckte mich unsanft, in der Tür stand Tommy mit einem Ausdruck im Gesicht, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich. Du bist wohl nie auf Arbeit, bemerkte ich. Ich bin immer auf Arbeit, Maggy. Wenn ich einen Fall habe, sitz ich selten in irgendwelchen geschlossenen Räumen herum. Ich ließ ihn herein. Stattdessen weckst du friedliche Bürgerinnen aus ihrem Schlaf und lädst dich zum Frühstück ein. Erst als der Kaffee fertig war, rückte er mit der Neuigkeit heraus. Wir haben die Analyse. Wer die arme Frau auch immer gewesen ist, Renate Koenig auf keinen Fall. Meine Überraschung blieb aus, was ihn sehr zu enttäuschen schien. Ich setzte ihm meine Theorie auseinander. Daran habe ich auch gedacht, behauptete er. Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass Renate Koenig mit den Klamotten der Toten unauffällig verschwinden konnte. Zumindest die Oberbekleidung musste mehr als schlimm ausgesehen haben. Diesmal ersparte er mir gnädigerweise Einzelheiten. Vielleicht hatte sie sich für alle Fälle Wechselsachen mitgenommen. Tommy feixte. Oder sie haben noch vorher die Kleider getauscht. Ich wusste, worauf er anspielte. Wir hatten einmal vor dem Sex die Kleidung getauscht. Damals hatte ich noch eine Vorliebe für Kleider, Röcke und Stöckelschuhe, so dass es fast wie ein Geschlechtertausch war. Es hatte uns beide sehr erregt, und es war das einzige Mal gewesen, dass uns der gemeinsame Sex Lust bereitet hatte. Fest steht, dass die Leiche nicht an- oder ausgezogen wurde. Folglich musste das Opfer die Kleidung angehabt haben, bevor sie getötet wurde. Seine Anspielung auf den Kleidertausch war also kein Scherz gewesen. Der Fall wurde immer mysteriöser. Zwei Dinge würden uns die Arbeit sehr erleichtern, fuhr Tommy fort, die Identität der Ermordeten und irgendwelche Zeugen, die Renate Koenig und Nadine vor, während oder nach der Tat gesehen haben. Mir fiel eine neue Konstellation ein. Was, wenn sich Renate Koenig mit der Frau schon in ihrer Wohnung getroffen hat? Sie bringt sie irgendwie dazu, ihre Kleidung anzuziehen, schließt Nadine in der Wohnung ein, und geht mit der Frau zum Waldrand, wo sie sie erschießt. Dann kehrt sie in die Wohnung zurück, nimmt die Kleine mit und taucht unter. Tommy nickte anerkennend. Nicht schlecht, Frau Detektivin. Möchte bloß wissen, welches Motiv Renate Koenig hätte. Ich versuchte mich in die vermeintliche Mörderin und Kindesentführerin hineinzuversetzen. Das Kind würde ich aus Eifersucht gegenüber heterosexuellen Müttern entführen. Eine Frau würde ich niemals umbringen. Nicht einmal in einem Anfall von Raserei, weil sie meine feste Geliebte war, und sich in eine andere verliebt hatte? Ich stöhnte innerlich. Warum sah ich immer alles aus der Lesben-Perspektive? Hatten die zwei Frauen miteinander geschlafen, bevor sie die Kleider tauschten? Ich sah Tommy an, und mir wurde wieder bewusst, dass ein schwuler Ermittler den Fall bekommen hatte. Meine Phantasie war gar nicht so abwegig. Vielleicht sollte ich in der Lesbenszene Nachforschungen anstellen. Ich würde ein Foto von der Tagesmutter in den entsprechenden Lokalen herumzeigen und- Jetzt erst fiel mir auf, dass ich gar kein Bild von der Frau hatte. Die Zeitungen hatten nur eins von Nadine gebracht. Tommy, hast du ein Foto von Renate Koenig? Als hätte mein alter Schulfreund nur auf das Stichwort gewartet, zog er ein Foto aus der Brusttasche seines Hemdes und reichte es mir. Kannst du behalten, wir haben Kopien machen lassen. Es war eine durchschnittliche Porträtfotografie, und wahrscheinlich schon vor einigen Jahren aufgenommen. Stand es auf ihrem Nachttisch oder hatte es Marko Koenig der Polizei überlassen? Eine junge Frau mit mittellangem brünettem und leicht gelocktem Haar lächelte mich an. Sie sah durchschnittlich, aber zum Anbeißen aus. Ich ertappte mich, dass ich froh war, sie noch unter den Lebenden zu vermuten. Ich konnte nicht glauben, dass diese Frau einer anderen in den Kopf schießt. aber es war ja auch nur eine Vermutung. Ich steckte das Foto ein. Mich wundert es nicht, dass sie unbemerkt verschwunden ist. Es gibt tausende, die so aussehen wie sie. Mein beamteter Kollege seufzte. Das macht die Suche nach ernstzunehmenden Zeugen auch so schwierig. Bisher waren alle Hinweise Blindgänger. Vielleicht würde ich in meinem Stammlokal mehr Glück haben, dachte ich, ohne den Gedanken mit Tommy zu teilen. Es gab mehrere Lokale mit der unsichtbaren Vorschrift „Women only“, aber jenes war das bekannteste, und es war anzunehmen, dass jede Lesbe in dieser Stadt den Laden schon mal aufgesucht hatte. Wenn Renate Koenig zur Familie gehörte, würde sie irgendeine der Frauen zumindest mal gesehen haben.

Ich war auf dem Weg zu Blücher, als mir Locke entgegenkam. Er war in lebhafter Laune, was auf Neuigkeiten wichtigster Natur hindeutete. Während er neben mir herging, sprudelte es nur so aus ihm heraus. Ich war heute morgen in der Nähe des Verlagshauses, um mir den Dicken mal anzusehen. Er kam pünktlich, aber nicht sehr weit. Am Eingang wartete eine Frau auf ihn, die ihn zur Rede stellte und fürchterlich beschimpfte. Leider war ich nicht nahe genug dran, um etwas zu verstehen. Als er sie endlich abschütteln konnte, folgte ich der Frau. Es war sehr mühselig, da sie noch allerlei Einkäufe machte, bevor sie nach Hause ging. Aber wenigstens war sie zu Fuß unterwegs. Sie wohnt gar nicht weit vom Verlagshaus entfernt, hat mich aber in ihrem Shopping-Wahn durch die halbe Stadt geschleift. Ich musste grinsen. Machs nicht so ausführlich. Was ist dabei rausgekommen? Er ließ sich seinen Triumph nicht nehmen. Als sie vor der Haustür stand, kam gerade eine alte Frau heraus, die ihr missbilligend nachschaute, weil die Jüngere sie nicht gegrüßt hatte. Mit Vorwurf in der Stimme rief ihr die Alte nach: Guten Tag, Frau Bracke! So erfuhr ich den Namen der Frau. „Eine unmögliche Person!“ , schimpfte die Alte vor sich hin. Mich nahm sie gar nicht wahr. Ich warf einen Blick auf das Klingelschilder. Holger Bracke stand auf einem. Sie war also verheiratet. Nun hatte mich die Alte entdeckt, und meine Erscheinung schien ihr nicht zuzusagen. „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“, bellte sie mich an. Ich behauptete, ein paar Häuser weiter zu wohnen, und in meinem Briefkasten wäre versehentlich ein Brief an einen Herr Bracke gelandet. Sie meinte, sie sei eine gute Bekannte von Herrn Bracke, und ich könne ihr den Brief aushändigen. Ich sagte, ich hätte den Brief nicht mitgenommen, sondern wäre einfach losgegangen, um herauszufinden, ob auf irgendeinem Klingelschild in der Nähe der Name Bracke zu finden sei. Ich hätte vermutet, dass er zu dieser Zeit eh auf Arbeit ist. „Seine Frau ist zu Hause“, sagte die Alte giftig, „aber der würde ich den Brief nicht anvertrauen. Mich würde es nicht wundern, wenn sie seine Privatpost einfach öffnen und lesen würde. Ich frage mich, wie ein so ehrenhafter Mann wie Holger Bracke eine so unverschämte Frau haben kann. Er hätte sich bestimmt schon scheiden lassen, aber er hat ja eine gewisse Verantwortung seinen Wählern gegenüber. Er kann ja nicht auf der einen Seite die Heiligkeit der Ehe auf seine Fahne schreiben, und auf der anderen- Aber bei der Frau wäre eine Ausnahme durchaus gerechtfertigt. Statt dass sie ihn bei seinem politischen Auftrag unterstützt, intrigiert sie gegen ihn, da bin ich mir sicher. Aber er will es ja nicht glauben. Er ist ja so gutmütig, der Herr Bracke. Und so bescheiden. Überlässt die Spitzenpositionen seinen Parteigenossen, dabei hat er die Partei ja selber gegründet. Wenn Herr Bracke Kanzler wäre, er würde schon für Recht und Ordnung sorgen.“ Mit Erwähnung dieser zwei Tugenden schien ihr aufzufallen, daß sie mit einem plauderte, der gar nicht in ihr Bild vom ordentlichen Bürger passte. Ihr Eifer, dem guten Herrn Bracke zu dienen, veranlasste sie aber, mir zu raten, den Brief bei seiner Arbeitsstelle abzugeben- Ich kam ihm zuvor: Und so hast du erfahren, dass Holger Bracke im Verlagshaus arbeitet. Locke winkte ab. Nicht nur das. Er ist dort der große Boss. Nur dass er sich damit bedeckt hält. Ich dachte an meine Theorie vom großen Manager der Ockergelben, und war jetzt überzeugt, dass wir mit Holger Bracke diesen Mann gefunden hatten. Ob Anne Teuchert sich ihm gegenüber deswegen so devot verhalten hatte? Wenn dieser Ober-Ockergelbe wüsste, dass eine seiner Angestellten mit anderen Frauen rummachte! Zorn über Nadines Mutter machte sich in mir breit, aber gleichzeitig verspürte ich das Verlangen, an einem weiteren ihrer Spiele teilzuhaben. Es drängte mich, sie kurz nach Dienstschluss wieder zu besuchen. So richtig konnte ich nicht glauben, dass diese Frau mit den Ockergelben gemeinsame Sache machte. Vielleicht war es auch für die Aufklärung des Falles von Vorteil, sich mit ihr enger einzulassen. Ich erschrak über meine eigene billige Ausrede. Ich war froh, dass heute mal wieder mein Stammlokal auf dem Programm stand. Vielleicht traf ich ja die Frau mit der interessanten Nase wieder, und sie würde wieder mitkommen, ohne gleich wieder auszubüchsen. Das würde mich jedenfalls von Anne Teuchert ablenken. Ich hatte Blüchers Haus fast erreicht, als sich Locke verabschiedete. Er mochte Blücher nicht besonders, weil der alte Mann im Rollstuhl eine der wenigen Personen war, über die Locke bei aller Bemühung nichts herauszufinden wusste. Wenn ein Mensch seine Vergangenheit sorgfältig zu einem Geheimnis zu machen wusste, dann war das Blücher. Dabei wusste mein Arbeitgeber, von wem ich so viele Informationen bekam, auch wenn wir nie über Locke redeten. Ich war gespannt, wie Blücher die Neuigkeiten aufnehmen würde.

Blücher runzelte die Stirn. Bracke, murmelte er vor sich hin, und seine Miene verriet mir, dass der Mann ihm nicht unbekannt war. Er schien mit einer Entscheidung zu kämpfen, sah mich dann fest an und sagte in seinem für ihn typischen leisen Ton: Wir machen weiter. Aber du musst verdammt vorsichtig sein, Manja. Ich wartete auf nähere Erklärungen, erwartete sie aber nicht. Nicht von Blücher. Er war nie sonderlich gesprächig. Sein nächster Satz überraschte mich. Wenn dus lassen willst, ist das in Ordnung. Es war noch nie vorgekommen, dass er mir diese Wahl ließ. Mich schauderte.Wenn Blücher mir anbot, einen Fall sein zu lassen, machte er sich wirkliche Sorgen. Das ganze war also gefährlicher, als ich dachte. Er sah mich an, wie ein König, der seine Tochter einem Drachen geopfert hatte. Wir machen weiter, wiederholte ich seine früheren Worte. Pass auf dich auf, sagte er nur, pass verdammt gut auf dich auf.

Verloren stand ich mitten in Anne Teucherts Büro. Auf meinem Anrufbeantworter war ihre sirenenhafte Stimme gewesen, die mit herrischem Ton fragte: Wo bleibst du? Ich will dich im kurzen Rock sehen, du Miststück! Ich trug einen Mini aus der Zeit meiner Affäre mit Tommy und zweifelte an meiner sonstigen emanzipierten Haltung. Diese devote Seite an mir war mir fremd, aber sie gefiel mir. Ich sah mich um. Der große Schreibtisch aus Edelholz drängte sich mir auf. Ich schlich zu ihm hin und öffnete vorsichtig die schwere Schublade. Vorsichtig kramte ich in dem Haufen nichtssagender Dinge, bis ich einen dicken Umschlag in Händen hielt. Auf dem Flur hörte ich schwere Schritte. Jemand kam auf die Tür zu und musste jeden Moment die Tür öffnen. Ich reagierte schnell und steckte den Umschlag in die Handtasche, die ich mitgebracht hatte. Ich hasse Handtaschen, aber als ich in der hintersten Ecke meines Kleiderschrankes den Rock und die Pumps hervorgekramt hatte, hatte ich die Tasche gefunden. Sie passte irgendwie zu den anderen Sachen und so hatte ich sie mitgenommen. Kaum war das Kuvert in ihr verschwunden, öffnete sich die Tür und ein Mann in einem schwarzen Anzug stand in der Tür. Er trug einen zum Anzug passenden Hut, dessen Krempe die Augen verdeckte. Lautlos schloss er die Tür und kam rasch auf mich zu. Bevor ich schreien konnte, hatte er mir mit einer Hand den Mund zugehalten. Mit der anderen drehte er meinen Arm hinter den Rücken, so dass die Handtasche zu Boden fiel. Dann warf er mich unsanft gegen den Schreibtisch, ohne mich loszulassen. Er stand dicht hinter mir und führte seinen Mund ganz nahe an mein Ohr. Ich bins, Miststück, hauchte mir Annes Stimme hinein, keine Bewegung. Die Hände wanderten nach unten. Eine zog brutal meinen Rock hoch, die andere bohrte sich in meinen Slip und riss ihn mit einem Ruck in Fetzen. Regungslos hörte ich das sirrende Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses, dann schob sich etwas von hinten in meine Möse. Es bewegte sich langsam hin und her, und wurde immer schneller. Ich krallte mich in die Tischplatte und meine Finger begannen zu schmerzen, vermischten sich mit dem lustvollen Schmerz in meinem Unterleib. Diesmal ließ sie mich kommen.

Es war schon spät, als ich mein Stammlokal betrat. Der Laden war überfüllt, alle Köpfe bewegten sich in meine Richtung. Ich war direkt von Annes Büro hierher gegangen. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich mit Minirock, Pumps und Handtasche nicht gerade die Kleiderordnung einer Lesbenkneipe bediente. Ohne Slip kam ich mir doppelt angreifbar vor. Meine Möse war immer noch feucht von den ausgiebigen Liebesspielen, die der Nummer am Schreibtisch gefolgt waren. Die Frau bringt mich ganz schön durcheinander, dachte ich. Ich hatte sogar vergessen, warum ich überhaupt herkommen wollte. Jetzt erst fiel es mir wieder ein. Das Foto von Renate Koenig befand sich zwar in meiner Handtasche, aber ich beschloss, die Aktion auf ein anderes Mal zu verschieben, wenn ich passender angezogen war. Als ich mir an der Bar ein Bier bestellte, musterte mich Ulrike Graf, Trans-Frau und Inhaberin des Lokals, amüsiert. Hey Manja, neuer Style, oder wie? Ich wurde puterrot. Will heute mal ein bisschen auffallen, konterte ich. Die Gräfin, wie Ulrike hier von den Stammkundinnen genannt wurde, schüttelte sich vor Lachen, dass ihr hormonverschuldeter üppiger Busen wackelte. Auffallen? Ein bisschen? Na, das ist dir wirklich gelungen. Ich überlegte, ob ich wenigstens ihr das Foto zeigen sollte. Die Gräfin wusste von meinem investigativen Job und war eine der verschwiegensten Personen, die ich kannte. Die Gelegenheit war günstig, da ich als Attraktion mittlerweile wieder abgeschrieben war, und die Damen sich wieder ihren Getränken und Flirt-Opfern widmeten. Ich schob das Foto über den Tresen. Die Gräfin dachte nach. Ja und nein, gab sie zur Antwort. Von dem Typ kommen hier ne Menge vorbei. Ich würde nicht ausschließen, dass sie mal hier war, aber sicher behaupten kann ich es auch nicht. Sie hob bedauernd die sauber gezupften Augenbrauen. Ich dankte ihr und nahm das Foto wieder vom Tresen. In dem Moment, ich dem ich mich wegdrehte, fiel mir vor Überraschung das Bild aus der Hand. Barbara Eisenschmidt, das Mädchen aus dem Ray´s, stand plötzlich vor mir. Sie lächelte und hob das Bild auf, bevor ich Zeit hatte, mich danach zu bücken. Barbara wollte es mir gerade reichen, als ihr Blick auf das Foto fiel. Das Lächeln versteinerte und wandelte sich zu einer Maske zwischen Furcht und Erstaunen. Ich wusste, dass sie Renate Koenig erkannt hatte und aus irgendeinem Grund erschrocken darüber war, dass ich ein Foto von ihr besaß. Kennst du die Frau? fragte ich direkt, als sie mir mit zitternden Fingern das Bild überließ. Sie schüttelte den Kopf, zu heftig und mit einer zu blassen Gesichtsfarbe, um zu ahnen, dass das Gegenteil die Wahrheit war. Ich ließ es darauf beruhen, und merkte mir insgeheim vor, das Mädchen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Darf ich dir einen ausgeben? fragte ich und sie nickte erleichtert. Das Blut schoss ihr in die Wangen zurück. Das Übliche? wollte Ulrike von ihr wissen und schob Barbara ein mir unbekanntes Flaschenmixgebräu zu ihr hin, ohne die Antwort abzuwarten. Barbara war hier Stammgast, stellte ich fest. Eine interessante Tatsache. Wir setzten uns an einen freigewordenen Tisch. Sie lächelte wieder. Du fragst dich vielleicht, was ich hier mache. Das Ray´s ist für mich nur ein Arbeitsplatz. Da hängen mir zu viele unangenehme Typen rum. Ich mag nur Frauen. Ausnahmsweise war also Locke mal falsch informiert. Von wegen tendenziell eher hetero. Und dass Barbara nur ab und zu mit einer Frau flirtet, um sich wichtig zu machen, glaubte ich spätestens dann nicht mehr, als ich den Stoff ihrer Jeans an meinem nackten Bein spürte. Die Bewegungen waren zu rhythmisch, um es für eine zufällige Berührung zu halten. Wieder sah ich sie nackt vor mir und die alten Argumente wie zu jung und nicht mein Typ lösten sich in Nichts auf. Ich wollte das Mädchen, und zwar sofort. Lass uns zu mir gehen, bat ich mit belegter Stimme. Wir ließen die kaum angerührten Flaschen stehen. Die Gräfin sah uns mit einem allwissenden Lächeln nach, als wir zusammen das Lokal verließen.

***Notiz: Sex mit Barbara…***


4

Das Telefon klingelte mich wach. Barbara lag noch neben mir und lächelte im Schlaf. Sie sah aus wie ein Engel. Eine Brust lugte unter der Bettdecke hervor. Ich war versucht, an der Brustwarze zu knabbern, stand aber dann doch gleich auf und ging zum Telefon. Verdammte Frühaufsteher, dachte ich. Es war Tommy. Wenigstens war er nicht vorbeigekommen, um mich zu wecken. Moin Maggy, gibts was Neues? Es gab viel Neues, aber ich war nicht in Erzähl-Laune. Tommy war es. Ich hab mich mal um deine beiden Freunde gekümmert. Ich fragte mich, welche Freunde er meinte, bis er den Namen Stefan Heering aussprach. Einige Anzeigen wegen Provozieren von Schlägereien, leichter Körperverletzung, Sachbeschädigung, Vandalismus und Beamtenbeleidigung. Nichts Besonderes. Der andere ist wesentlich interessanter. Einem Kollegen von der Abteilung Rechtsextremismus fiel zu deiner Beschreibung „Gesicht ähnelt dem eines Fuchses“ ein bestimmter Kerl ein, der in sämtlichen rechtsextremen Gruppen aktiv war und deshalb unter Beobachtung steht. Uwe Bley, einunddreißig, derzeitige Erwerbstätigkeit unbekannt. Wir gehen aber davon aus, dass er zur Zeit davon lebt, Aufträge anzunehmen, bei denen er gerne mal jemandem die Fresse einschlägt. Mir lief es kalt den Rücken runter, was nicht mit der Tatsache zusammenhing, dass ich splitternackt auf meinem Wohnzimmerteppich stand. Denkst du, er könnte den Mord begangen haben? Am anderen Ende der Leitung wurde es einen Moment lang still. Möglich wärs. Da Bley sowohl in diversen mittlerweile verbotenen Wehrsportgruppen als auch eine Weile Berufssoldat war, dürfte er sich recht gut mit Schusswaffen auskennen. Aber er ist nicht der Typ, der auf eigene Faust handelt. Er braucht sozusagen seinen Führer. Wenn er die Frau getötet hat, dann im Auftrag einer höhergestellten Person. Und Heering hat er sich wahrscheinlich zum Handlanger gemacht. Für ein paar Bier macht der fast alles. Es wäre aber unwahrscheinlich, dass er Heering in den Mord verwickelt hätte. Er würde nicht dichthalten, und wäre bei einer Festnahme wahrscheinlich sehr gesprächig. Im Moment macht es wenig Sinn, etwas zu unternehmen. Alles was wir in dem Zusammenhang gegen sie haben, ist, dass sie einige Tage später am Tatort etwas gesucht haben. Das macht sie verdächtig, aber nicht straffällig. Wir lassen sie erstmal beobachten. Mittlerweile zitterte ich auch vor Kälte und sah mich nach etwas um, das ich mir überwerfen konnte. Ich fand nichts. Der unklare Punkt ist immer noch, warum die Tote Renate Koenigs Kleidung trug, setzte Tommy seinen Monolog fort. Es wäre natürlich möglich, dass die Teuchert bei der Identifizierung gelogen hat. Bei Erwähnung des Namens kribbelte es bei mir im unteren Bereich. Ich wollte wieder ins Bett. Warum sollte sie gelogen haben? fragte ich. Was weiß ich. Mit Motiven tun wir uns bei diesem Fall eh sehr schwer. Aber das mit Bley ist vielleicht ein Anhaltspunkt. Wir solltest am besten heute noch bei uns vorbeischauen und feststellen, ob es sich bei Heerings Babysitter um Bley handelt. Ich versprach, in seinem Büro vorbeizuschauen und legte auf.

Nach unzähligen Küssen und Streicheleinheiten und einem reichlichen Frühstück war Barbara gegangen, mit der Versicherung, dass sie sich wieder melden würde. Sie fehlte mir bereits nach fünf Minuten und ich fragte mich, ob ich mich ernsthaft verliebt hatte. Die plötzliche Erinnerung an ihre Reaktion auf das Foto schob diesen Gedanken beiseite. Auch Barbara war irgendwie in die Sache verwickelt, ich musste einen klaren Kopf behalten. Sie war schon die zweite in den Fall verwickelte Frau, mit der ich geschlafen hatte. Die erste kam mir wieder in den Sinn und die Erwähnung Tommys, dass sie möglicherweise nur behauptet hatte, dass es sich um Renate Koenigs Kleidung gehandelt hatte. Wenn sie gelogen hat, welches Motiv hatte sie? Wollte Anne Teuchert, dass man Renate Koenig für die Tote hielt? Anne war alles andere als die am Boden zerstörte Mutter, die sich um ihre verschwundene Tochter sorgte. Ein neuer Gedanke überfiel mich. Deckte die Mutter die Tagesmutter? Wusste Anne, dass nicht Renate die Tote war, und wusste sie vielleicht sogar, wo sich Renate aufhielt? Möglicherweise wusste sie sogar, wo Nadine war. Wahrscheinlich in Sicherheit und in der fürsorglichen Obhut ihrer Tagesmutter.

Es war nicht auszumachen, was Blücher von meiner Theorie hielt. In der üblichen steifen Haltung und ohne eine Miene zu verziehen, hatte er sich meine Geschichte angehört. Sehr lesbisch, gab er schließlich als Kommentar ab. Ich konnte ihm unmöglich erzählen, dass meine Theorie vor allem darin bewiesen war, dass ich mit Nadines Mutter wilden Sex gehabt hatte. Es gibt eine Sache, die nicht passt, brummte mein Chef, und das ist Anne Teucherts Arbeitsplatz. Wenn sie wirklich eine heimliche lesbische Affäre mit Renate Koenig hat, warum arbeitet sie ausgerechnet in einem Verlagshaus, das einer homophoben, rechten Partei gehört? Er hatte ein Loch in meiner schönen Theorie entdeckt. Alles hatte so wunderbar zusammengepasst, aber das konnte ich mir selbst nicht erklären. Dennoch war ich überzeugt, dass es sich tatsächlich so verhielt, wie ich mir zusammengereimt hatte. Anne Teuchert, heimlich lesbisch und von ihrem Gatten entfremdet, verliebt sich in die Tagesmutter ihrer Tochter Nadine. Sie beschließen, zusammen durchzubrennen und das Kind mitzunehmen. Der Tag kommt. Anne bringt Nadine zu Renate, die sich mit dem Kind irgendwo versteckt. Die beiden werden als vermisst gemeldet. Ein Zufall gibt dem heimlichen Liebespaar eine einmalige Chance. Eine Frau wird tot aufgefunden, deren Gesicht nicht mehr erkennbar ist. Sie hat dieselbe Haarfarbe wie Renate Koenig, ihre Leiche wird ausgerechnet in der Nähe des Spielplatzes gefunden, zu dem die Tagesmutter täglich geht. Die Polizei hält die Tote für Renate Koenig und bestellt Anne Teuchert zu sich, die einzige Person, von der man weiß, dass sie Renate am gleichen Tag lebend gesehen hatte. Anne Teuchert behauptet, die Kleidung der Toten wäre mit der der Tagesmutter identisch und erhärtet so den Verdacht, daß Renate Koenig tot ist. Es dauert eine Weile, bis man die wahre Identität der Toten aufdeckt. Inzwischen könnte Renate mit Nadine sonst wo sein, und irgendwann würde Anne ihnen folgen, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Als Mutter des Kindes war Anne Teuchert über jeden Verdacht erhaben. Wer würde schon darauf kommen, dass sie lesbisch ist und ihr eigenes Kind entführt? Höchstens eine andere Lesbe. Eines Tages taucht eine Manja Maag bei Jürgen Teuchert auf, und stellt Fragen. Anne Teuchert nimmt an, dass die besagte Frau eine Lesbe ist, da sich diese als eine Freundin von Renate ausgibt. Ob sie keine Gelegenheit dazu hat, Renate zu fragen oder ob sie es selber rausfinden will, jedenfalls verführt sie die Schnüfflerin und versucht sie sich auf diese Weise gefügig zu machen. Zumindest geht sie davon aus, dass sie von einer Intimfreundin nicht geoutet wird. Soweit war meine Theorie stimmig. Nur Annes Verstrickung mit den Ockergelben wollte mir nicht gefallen. Blücher hatte recht, das passte nicht. Ich zog in Erwägung, Anne aufzusuchen, und ihr alles zu erzählen. Ich konnte sie verstehen. Ich würde ihr Gelegenheit geben zu fliehen, aber sie musste mir alles sagen, wenn es die Wahrheit war. Ich wollte nur die Gewissheit, dass Nadine am Leben und in guten Händen war. Zum Glück hatte ich Tommy noch nichts von meinen Vermutungen gesagt. Ich musste sofort zu Anne, Tommy und die Identifizierung von Bley konnten warten. Ich ging in den Flur hinaus, wo Blüchers Telefon stand und wählte Tommys Büronummer. Er ging sofort ran. Ich bins, Maggy, reichts wenn ich morgen- Er ließ mich nicht weiterreden. Maggy, ich hab eben auch versucht, dich anzurufen. Der Mörder, er hat wieder zugeschlagen. Wahrscheinlich derselbe- Etwas schnürte mir die Kehle zu. Ein Schleier trat vor meine Augen, ich musste mich irgendwo festhalten, um nicht umzukippen.Was Tommy sagte, hörte ich nicht mehr. Wen? hörte ich mich mit letzter Kraftin den Hörer flüstern, obwohl ich die Antwort schon ahnte. Das letzte, was ich wahrnahm, war der Name, den Tommy aussprach und der meine schreckliche Ahnung zur Gewissheit machte: Anne Teuchert.

Als ich auf Blüchers Bett liegend wieder zu mir gekommen war, war es schon später Nachmittag. Ich hatte als erstes versucht Tommy zu erreichen, aber er war weder im Büro noch zu Hause gewesen. Jetzt ging ich gerade die Treppe hinauf zu meiner Wohnung. Als ich vor der Wohnungstür stand und den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, merkte ich, dass sie nur angelehnt war. Ich nahm die Schlüssel zwischen die Finger wie einen Totschläger, um mich damit für alle Fälle zu verteidigen und öffnete vorsichtig die Tür. Nach einer gründlichen Durchsuchung konnte ich mir sicher sein, dass ich allein war. Erschöpft setzte ich mich auf das, was von meinem beigen Sofa übrig war. Jemand hatte das Polster aufgeschlitzt und dann das ganze Sofa systematisch auseinandergenommen. Das galt auch für meine übrige Wohnungseinrichtung. Was von meinen Sachen noch brauchbar war, war nicht der Rede wert. Gestohlen war nichts, wie ich mich nach einer Weile vergewissert hatte.Alles, was irgendwie Wert hatte, war noch da. Selbst die ansehnliche Summe Geld, die ich bar in meiner Wohnung stets herumliegen hatte, lag zwar verstreut aber vollzählig herum. Der Einbrecher hatte etwas Bestimmtes gesucht, was er bei mir vermutet hatte, und von dem er glaubte, dass ich es sehr gründlich versteckt haben musste. Es war kein gewöhnlicher Einbrecher gewesen, das stand fest. Was konnte er gesucht haben? Noch während ich mir die Frage stellte, sah ich die offene Handtasche. Der Inhalt war über den Boden verstreut. Ich starrte auf die Dinge, die ich in der Tasche aufbewahrte, nichts schien zu fehlen. Außer- Ja, das Foto fehlte! Und dann fiel mir der Umschlag wieder ein, den ich aus Anne Teucherts Schreibtischschublade entwendet hatte. Auch er war nicht mehr da. Das war es, was der Eindringling gesucht hatte. Aber warum hatte er auch das Foto mitgenommen? Ich überlegte, ob ich den Einbruch der Polizei melden sollte. Es war sinnlos. Aber ich musste unbedingt Tommy erreichen. Als ich zum Telefonhörer griff, war ich erstaunt, dass das Telefon noch funktionierte. Ich hatte schon begonnen zu wählen, da legte ich wieder auf. Etwas hatte mich stutzig gemacht. Das Kassettenfach meines Anrufbeantworters war offen, die Kassette, auf der die Anrufer ihre Nachrichten verewigten, fehlte. Als ich den Hörer wieder abnehmen wollte, klingelte das Telefon. Wolfgang hier, hörte ich die Stimme des Schauspielers sagen. Thomas wurde von irgendjemanden fürchterlich zugerichtet. Ich vernahm ein heiseres Schluchzen. Bin sofort bei euch, sagte ich und legte auf. Der Fall nahm eine Wendung an, die ganz und gar nicht mehr harmlos war.

Tommy war kaum wiederzuerkennen. Beide Augen waren so zugeschwollen, dass er kaum aus ihnen heraus sehen konnte. Am Kopf hatte er eine hässliche Platzwunde, die vom Notarzt genäht war. Um den linken Nasenflügel herum zog sich ein dunkelroter Bluterguss. Die Unterlippe war stark angeschwollen, aber zum Glück hatte er noch alle Zähne. Das Sprechen fiel ihm schwer, und Neher sah aus, als könne Tommy bei jedem Satz eine Blutfontäne aus dem Mund spritzen. Aus Tommys undeutlichen Bericht konnte ich soviel entnehmen, dass er auf dem Weg vom Büro nach Hause überfallen worden war. Das musste ungefähr zu der Zeit gewesen sein, als ich das erste Mal versucht hatte, ihn zu erreichen. Auf dem Weg lag eine Gasse, die eine Abkürzung darstellte, aber wegen dem vielen herumliegenden Müll und Hundekot nur selten von Passanten genutzt wurde. Dort hatten ihm die Angreifer aufgelauert. Sie mussten ihm schon eine Weile gefolgt sein und hatten die Gasse als günstige Gelegenheit wahrgenommen. Einer hatte ihn von hinten gepackt. Bevor Tommy sich hatte wehren können, hatte der zweite, maskiert und mit einem Baseballschläger bewaffnet, auf ihn eingedroschen. Lass das Schnüffeln, Arschficker-Bulle, hatte ihm der Maskierte zugeraunt und ihm dann mit einem gezielten Schlag bewusstlos geschlagen.Tommy war irgendwann von selbst wieder zu sich gekommen und hatte sich zum nächsten Arzt geschleppt, wo man ihn sofort behandelt hatte. Könnten es Bley und Heering gewesen sein?, fragte ich. Statt einer Antwort humpelte er zur Flurgarderobe und holte er eine zerknitterte Fotokopie aus der Innentasche einer Jacke. Das Bild war unscharf und schwarz-weiß, aber ich erkannte den Mann sofort. Die schmalen Augen und das fuchsartige Gesicht waren eindeutig die des Mannes, der Stefan Heering im Ray´s abgeholt hatte und den ich im Wald wiedererkannt hatte. Der mit dem Baseballschläger könnte Bley gewesen sein, selbe Statur, nuschelte mein lädierter Schulfreund. Dann war der andere wahrscheinlich Heering, fügte ich hinzu. Sie hatten den Auftrag, dich so einzuschüchtern, dass du den Fall abgibst. Tommy versuchte zu lachen. Es klang grauenhaft, und veranlasste den verzweifelten Neher, das Zimmer zu verlassen. Darüber war ich nicht unglücklich. Ich hatte den Fall ja gar nicht mehr. Gestern Nachmittag kam die plötzliche Weisung von oben, dass jemand anderes den Fall übernehmen würde. Ich hätte gute Arbeit geleistet, und solle ab sofort zwei Wochen bezahlten Sonderurlaub kriegen. Es war schwer, ihn zu verstehen und er tat mir leid, aber ich musste mehr wissen. Von wem genau ging die Weisung aus? fragte ich. Er zuckte mit den Schultern. Also wieder ein großer Unbekannter von der Polizei, der Tommy den Fall weggenommen hatte, wie der, der ihm den Fall übergeben hatte, ohne ihn zu informieren, warum gerade er ausgewählt worden war. Vielleicht waren die zwei Unbekannten ja identisch. Jedenfalls war etwas faul an der Geschichte. Okay, sagte ich, du bist quasi suspendiert und überdies noch krankgeschrieben. Der Bulle soll nicht mehr schnüffeln, dann wirds mein alter Schulfreund eben tun. Das heißt, wir beide zusammen. Er versuchte zu lächeln. Lass Wolfi Kaffee kochen, ich könnte einen brauchen, wenn ich mit meinen Neuigkeiten rausrücke. Es würde ein langer Kriegsrat werden, das stand fest.

Die Ereignisse hatten sich überschlagen, stellten wir zunächst gemeinsam fest, als ich vor meinem Kaffee und Tommy vor einem eiskalten Kakao saßen, den er nur mit einem Trinkhalm zu sich nehmen konnte. Dann erzählte ich ihm alles, was ich wusste und dachte, und was mir passiert war. Nur meine Affäre mit Anne verschwieg ich. Tommy erzählte, was er über den neuen Mordfall wusste. Es muss gestern spät nachmittags oder früh abends passiert sein. Sie hat wohl Überstunden gemacht. Die Arbeitskollegen waren alle schon fort. Der Mörder hat unbemerkt das Gebäude betreten, hat das Opfer in ihrem Büro überrascht und zwei Schüsse auf sie abgefeuert. Die zweite Kugel hat sie sofort getötet. Es ist dasselbe Kaliber wie bei der Unbekannten. Wir nehmen an, dass es sich um dieselbe Waffe handelte. Nach genauerer Untersuchung des Tatortes konnten wir feststellen, dass das Büro hastig und doch gründlich durchsucht worden ist, obwohl der Täter peinlichst bemüht war, kein allzu großes Durcheinander anzurichten. Vermutlich hat er dort etwas gesucht, von dem er recht genau wusste, dass es dort war. Ob er es gefunden hat, können wir nicht sagen, auch nicht, was es gewesen sein könnte. Ich konnte mir denken, was er gesucht hatte, musste aber auch diese Information verschweigen, wenn ich mein kleines Sex-Abenteuer nicht preisgeben wollte. Ich ärgerte mich, dass ich den Umschlag vergessen hatte. Sein Inhalt hätte sicher Aufschluss über die Sache gegeben und womöglich hätte der Mord an Anne Teuchert verhindert werden können. Aber für Schuldgefühle war es zu spät. Das Seltsame war, dass das Opfer bis auf ein Männerjackett völlig nackt war. Ein Sexualdelikt wird allerdings ausgeschlossen. Wir gehen davon aus, dass sie kurz vor ihrem Tod Sex mit einer Frau hatte. Die Männerkleidung war von ihr selbst. Es wäre möglich, dass die Liebhaberin nochmal zurückkehrte und Anne Teuchert tötete. Ich schluckte. Nicht nur, weil ich selbst unter die Verdächtigen geraten war, sondern weil mir klar wurde, wie nahe dran ich gewesen war, selbst das Opfer des Mörders zu werden. Hatte der Mörder mich gehen sehen und triumphierte er jetzt darüber, dass der Verdacht auf mich fallen musste? Was macht euch so sicher, dass es eine Liebhaberin und kein Liebhaber war? fragte ich. Sicher, es könnte ein Damenwäscheträger gewesen sein. Wir fanden zwei Damenslips am Tatort, einer völlig zerfetzt. Der Slip. Sie hatten etwas sichergestellt, dass mir gehörte, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie herausfanden, wem es gehörte. Ich hoffte, dass mir genug Zeit blieb, den Mörder vorher zu stellen. Langsam wurden mir einige Zusammenhänge klar. Der Täter hatte abgewartet, bis alle das Verlagshaus verlassen hatten, und wusste, dass Anne noch da war. Was er nicht wusste, war, dass Anne Intim-Besuch erwartete. Er musste seinen Plan zwar hinausschieben, war sich aber der Chance bewusst, dass der Verdacht auf mich fallen musste, was ihm natürlich gelegen kam. Er wartete, bis ich gegangen war, dann tötete er Anne und durchsuchte das Büro. Da er nicht fand, was er suchte, schloss er daraus, dass Anne mir den Umschlag gegeben oder ich ihn an mich genommen hatte. Er fand heraus, wer ich war und wo ich wohnte und stattete mir einen Besuch ab. Möglicherweise hatte mein Ohnmachtsanfall bei Blücher mir das Leben gerettet. Der Mörder dringt in meine Wohnung ein, findet sie verlassen und durchsucht sie nach dem Umschlag. Er findet ihn und entwendet nebenbei noch das Foto und die Kassette aus dem Anrufbeantworter. Eine innere Stimme sagte mir, dass irgendwo ein Fehler versteckt war, aber ich kam nicht darauf. Jedenfalls durfte die Tatsache, dass ich den versiegelten Umschlag nicht geöffnet hatte, mir die vage Hoffnung geben, dass ichnicht das nächste Mordopfer sein würde.Der Mörder konnte davon ausgehen, dass ich nicht wusste, was in dem Umschlag war. Und zudem diente ich ihm lebend besser, als Hauptverdächtige in Spe. Sollte ich Tommy doch alles erzählen? Vielleicht war er in der Lage, mich zu schützen. Ich sah in das übel zugerichtete Gesicht des suspendierten schwulen Polizeibeamten und war nicht mehr davon überzeugt.

Ich ging zu Fuß zu meiner Wohnung. Es war ein Risiko, aber der Fehler, der sich in meinem Hirn hin und her wand, ohne sich zu konkretisieren, ließ mir keine Ruhe. Ich hoffte, dass mir das erneute Betreten der Wohnung den nötigen Schlüsselreiz übermittelte. Diese Sache war von entscheidender Bedeutung, und ich ahnte, daß sie mit dem Einbruch in meine Wohnung zu tun hatte. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden. Locke, ihn hatte ich völlig vergessen. Ich war gerade in eine Einkaufsstraße abgebogen. Vor einer Konditorei blieb ich stehen und starrte fünf Minuten angestrengt in die Scheibe. Locke war nicht zu sehen. Das Gefühl des Verfolgt werdens blieb. Ich wollte gerade weitergehen, da sah ich ihn im Schaufenster. Es war Bley, der nun zielgerichtet auf mich zukam, eine Hand in der ausgebeulten Jackentasche. Ich überlegte nicht lange und rannte los. Das Fuchsgesicht folgte mir, aber so, dass die Passanten nichts mitkriegten. Ich dagegen zog neugierige Blicke auf mich. Nachdem ich einige Seitenwege eingeschlagen hatte, glaubte ich meinen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Ich rannte dennoch weiter, bis eine Mauer mir den Weg versperrte. Ich drehte um, lief den Weg zurück und bog in eine Querstraße ein. Nach ein Paar Metern prallte ich gegen einen Körper. Bleys Grinsen begrüßte mich. Ich war direkt in meinen Verfolger hineingerannt. Seine Hand spielte mit dem Ding in der Tasche, ohne es herauszuziehen. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was es war. Wo ist es?, näselte er. Was? fragte ich. Versuch mich nicht zu verarschen, du Dreckschlampe. Wir gehen jetzt schön langsam zu deiner Wohnung, wo du es mir geben wirst.Und nicht umdrehen oder Lärm machen, ist das klar? Während ich vor ihm herlief, überlegte ich, was er genau wollte, aber ich würde es wohl früh genug erfahren. Als wir auf das Haus zusteuerten, kamen uns zwei Männer entgegen. Ich riskierte einen flüchtigen Blick nach hinten und stellte fest, daß Bley sich empfohlen hatte. Kurz darauf wusste ich warum. Die beiden Männer standen jetzt vor mir und bauten sich auf bedrohliche Weise auf. Kriminalpolizei, stellte der eine sich vor, Frau Maag, Sie stehen unter Verdacht, Frau Anne Teuchert ermordet zu haben. Bitte folgen sie uns. Ich folgte. Irgendwie hatte ich Glück im Unglück gehabt.

Man brachte mich in einen speziellen Raum und verhörte mich. Man spielte mir meine Anrufbeantworter-Kassette vor, auf der sich noch Annes Stimme befand. Dass ein Einbrecher die Kassette gestohlen hatte, wurde mir nicht geglaubt. Irgendwie war sie wieder in meinem Anrufbeantworter gelandet und bei der Durchsuchung meiner Wohnung sichergestellt worden. Es wurde mir unterstellt, ich hätte meine Wohnung absichtlich verwüstet, um mich selbst als Opfer darzustellen. Als Krönung präsentierte man mir die Tatwaffe, die man angeblich in meiner Wohnung gefunden hatte. Auch den Slip hatte man sorgfältig untersucht, und mich als die Besitzerin entlarvt. Als ich einen Rechtsbeistand forderte, stand schon einer bereit. Zu meiner Überraschung betrat mein Bruder Achim den Raum. Man erklärte mir, dass man schon gewusst hätte, dass der berühmte Staranwalt Achim Maag mit mir verwandt war, und dass man davon ausgegangen war, dass ich nur ihn zum Rechtsbeistand wählen würde. Nicht, dass ich meinen Bruder nicht leiden konnte, aber er wäre der letzte gewesen, dem ich meine Verteidigung überlassen hätte. Wie sich herausstellte, war mein Zweifel an ihm nicht unbegründet. Nach ein paar persönlichen Worten an mich, die vor allem die Sorge unserer Mutter über meinen Lebenswandel zum Ausdruck brachten, bestätigte er zunächst den verhörenden Beamten meine „bedauernswerte sexuelle Verirrung“, womit der Fall für diese klar war. Ich sah mich schon in einer Einzelzelle der Abteilung perverse Elemente eines Frauengefängnisses, als ein hagerer Mann mit einem auffällig großen Adamsapfel hereinkam. Ich merkte, wie die Beamten von ihrer anfangs selbstbewussten Haltung in eine fast peinliche Unterwürfigkeit verfielen, sobald sie den Mann erblickt hatten. Er würdigte mich keines Blickes, begrüßte meinen Bruder und ging mit ihm hinaus. Kurze Zeit später kam Achim alleine zurück und teilte mir mit, ich sei vorläufig frei jemand hätte eine Kaution für mich hinterlegt. Auf meine Frage, wer es gewesen sei, meinte er, das spiele keine Rolle. Ich dachte an Blücher und freute mich, einen so reichen Arbeitgeber zu haben. Andererseits wunderte ich mich, woher Blücher von meiner plötzlichen Verhaftung erfahren hatte. Es sah ihm auch nicht ähnlich, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Wenn es nicht Blücher war, wer hatte die Kaution bezahlt? Der Fall wurde immer undurchsichtiger, und es war jetzt fast unmöglich geworden, etwas zu unternehmen. Ich wusste, ab jetzt stand ich unter ständiger Beobachtung. Wenn das nicht schon vorher der Fall gewesen war.

Achim ließ es sich nicht nehmen, mich in eines der teuersten Lokale der Stadt einzuladen. Ich hatte nichts dagegen, das Verhör hatte mich ausgehungert. Entsprechend war ich nicht kleinlich bei der Menüzusammenstellung. Mein gutsituierter Bruder konnte es sich leisten. Während ich einen Gang nach dem anderen aufgetischt bekam, stocherte Achim in seinem recht übersichtlichen Portiönchen herum und hielt mir Vorträge über gute Manieren, die Kleiderordnung in unserer Gesellschaft und schließlich über die Heiligkeit der Familie und Notwendigkeit der Fortpflanzung. Dass er selbst ein kinderloser Single war, ließ er dabei diplomatisch unter den Tisch fallen. Endlich kam er zur Sache: Was ist das für eine Geschichte, in die du da schon wieder hineingeraten bist? Spielst du schon wieder Sherlock Holmes? Ich hab dir immer gesagt, lass die Finger davon. Und hast du wirklich mit dieser Frau- ? Du weißt schon. Er sprach halblaut, peinlich bemüht, nicht gehört zu werden. Ich antwortete dagegen in gut hörbarer Lautstärke. Mit der Frau Sex gehabt? Warum nicht. Aber erschossen hab ich sie nicht. Achims Gesichtsfarbe nahm eine grünliche Färbung an. Musst du so laut schreien? Wir befinden uns in einem der besten Restaurants der Stadt, und du- Ich erinnerte ihn daran, dass er mich trotz meiner wenig edlen Garderobe hierher mitgeschleppt hatte. Er ließ den Punkt fallen. Du glaubst mir doch, dass ich unschuldig bin? Er wurde sanfter. Natürlich, was denkst du? Aber die Sache gefällt mir nicht. Ich musste laut lachen. Das Ehepaar am Nebentisch schaute erbost zu uns rüber. Meinst du, mir gefällt sie? Die Sache stinkt zum Himmel. Ich erzählte ihm von dem Einbruch und der verschwundenen Kassette. Dann fragte ich: Wer war der Typ mit dem großen Adamsapfel, mit dem du geredet hast? Ich sah ihm an, dass meine Beschreibung nicht hoffähig gewesen war. Toralf Eck. Ein sehr hohes Tier bei der Polizei. Ein knallharter Bursche. Der letzte Satz schien ihn selbst zu verwundern. Meine Ausdrucksweise färbte ab. Achim schien über etwas zu brüten. Die Kaution- Ich verstand. Die hast du hinterlegt? Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Und das für dein invertiertes Schwesterlein. Er schüttelte den Kopf. Ich wars nicht. Ich hätte es getan, glaub mir. Aber da ist mir jemand zuvorgekommen. Eck wusste auch nicht, wer es war. Das gefällt mir nicht. Ich erinnere mich an einen Fall, wo man für einen Verdächtigen anonym eine Kaution hinterlegt hatte. Wenige Tage später wurde er ermordet. Na, das waren ja Aussichten. Vielleicht wäre die Einzelzelle doch besser gewesen. Manja, weißt du, wo du ne Weile untertauchen könntest? Vielleicht irgendwo, wo dich niemand vermutet? Sieh an, mein Bruder hatte tatsächlich Angst um mich. Hör mal, ich stehe doch garantiert unter polizeilicher Bewachung. Die würden mich doch retten, bevor mir etwas zustoßen sollte, oder? Achim ignorierte die Ironie. Du solltest auf Nummer sicher gehen. Ich überlegte. Wahrscheinlich kannten meine Peiniger bereits alle Orte, an denen ich mich aufhielt. Blücher, Tommy, die Gräfin, Locke- Nein, ich durfte abgesehen davon niemanden unnötig in Gefahr bringen. Ich entschied mich für Locke. Er war zwar auch in den Fall verstrickt, war aber der vorsichtigste. Es bestand die Möglichkeit, dass meine Widersacher noch nicht auf ihn aufmerksam geworden waren. Ich weiß was. Er sah mich fragend an. Es ist besser, du weißt es nicht. Gib mir am besten deine Handynummer, dann kann ich dich anrufen. Er zog ein Notizbuch aus der Jacketttasche, riss ein Blatt raus und schrieb die Nummer auf. Als ich den Zettel in Händen hielt, glaubte ich ein Dejavue zu haben. Wieder die drei ockergelben Buchstaben. Woher hast du dieses Notizbuch? Die Gereiztheit in meiner Stimme erschreckte ihn. Von einem meiner Mandanten. Holger Bracke. Er ist der Chef eines großen Verlages- Ich bemühte mich, nicht laut aufzuschreien. Du arbeitest für die Ockergelben? Das darf nicht wahr sein. Der Kellner brachte mein Zitronensorbet auf Kiwi-Spiegel, was mich für einen Moment beruhigte. Er nutzte die Gelegenheit. Manja, diese Partei ist eine ganz normale bürgerliche, nach demokratischen Prinzipien agierende politische Gruppierung. Dass sie einen rechtsextremistischen Hintergrund hat, ist ein Gerücht. Ich schrie: Sie sind hochgradig homophob! Jetzt war das Ehepaar regelrecht entsetzt. Wahrscheinlich würden sie sich in Zukunft an ein anderes Lokal halten. Denkst du etwa, sie wollen die Schwuch- Homosexuellen in Lager internieren oder was? Sie wollen die Homoehe und ähnliches rückgängig machen. Das ist doch vernünftig, was müssen die denn heiraten? Der Kellner näherte sich unserem Tisch, gefolgt von dem Geschäftsführer. Ich sprang auf und rannte hinaus. Ob sie sich bei meinem sauberen Bruder beschwerten oder ihm mitleidig das Sorbet aus dem Gesicht wischten, erfuhr ich nicht mehr.

Ich rannte aus dem Lokal geradewegs auf die Straße und wäre beinahe von einem Auto überfahren worden. im letzten Moment konnte ich zurückspringen. Der Fahrer fluchte und fuhr weiter. Ich war kurz vor einem Nervenzusammenbruch, als ein metallic-grüner Sportwagen im Schritttempo heranfuhr und direkt vor mir hielt. Die Tür des Beifahrerplatzes öffnete sich und eine weibliche Stimme sprach mich vom Fahrersitz aus an: Schnell, steig ein. Wie benommen folgte ich ihrem Aufruf, ohne zu wissen, warum, und ließ mich auf den Beifahrersitz plumpsen. Der Wagen fuhr los. Erst als wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen hatten, wagte ich, mir die Fahrerin anzusehen. Ich traute meinen Augen nicht. Ich glaubte zu träumen, aber die Nase war unverkennbar. Die asymmetrische Nase, die mir bei unserer ersten Begegnung schon gefallen hatte, ebenso wie alles an der Frau. Sie lächelte. So sieht man sich wieder. Tut mir leid, dass wir uns bei unserer ersten Begegnung nicht wirklich kennengelernt haben. Ich hatte eine Menge Fragen, beschränkte mich aber auf die wichtigste. Wo fahren wir hin? Sie antwortete: Aufs Land. Ich hab da ein kleines Häuschen. Sehr abgelegen. Dort wird dich niemand vermuten. Im Rückspiegel sah ich, dass uns Zivilbullen folgten. Ein wagemutiges Manöver meiner schönen Entführerin , dass eines jeden Actionfilmes würdig war, änderte diesen Zustand, sorgte aber auch dafür, dass die eben genossenen Speisen nach oben strebten. Als mein Magen sich beruhigt hatte, waren wir in einer wirklich gottverlassenen Gegend angelangt. Kurze Zeit später hatten wir das abgeschiedene Häuschen erreicht. Ich war gespannt, wie das Abenteuer weiterging. Eines stand jedenfalls fest: Diese Frau war nicht zufällig vor Ort und Stelle gewesen. Und sie wusste über eine Menge Bescheid, was den Fall anbetraf.

Das Innere des Hauses wirkte so, als würde hier nur selten jemand vorbeischauen. Gela, wie sich die Frau mittlerweile vorgestellt hatte, schien nicht oft hierherzukommen. Wir lagen nackt im Bett. Sie rauchte eine Zigarette. Es war tatsächlich das erste Mal für sie gewesen. Diesmal hatte sie angefangen, sich zu entkleiden. Ich hatte sie ganz behutsam in die Frauenliebe eingeführt. Es hatte sich endlos hingezogen und war wunderschön gewesen. Danke, sagte sie jetzt. Endlich bin ich mir sicher. Ich verstand sie. Auch ich war mir meiner lesbischen Identität erst wirklich sicher gewesen, als ich das erste Mal mit einer Frau geschlafen hatte. Sie küsste mich auf den Mund. Ich muss los. Es ist besser, wenn ich heute Abend wieder bei meinem Mann bin. Sie antwortete, bevor ich fragen konnte: Ja, ich bin verheiratet. Aber zwischen meinem Mann und mir läuft nichts mehr. Aber es ist besser, er schöpft keinen Verdacht. Mach dir keine Sorgen. Fühl dich hier wie zuhause, ruh dich etwas aus. Ich komme morgen so schnell es geht wieder. Jeder Widerspruch war zwecklos, und vielleicht war es ganz gut, mal zur Ruhe zu kommen und Klarheit über den Verlauf des Falles zu bekommen. Gela zog sich an, küsste mich zum Abschied nochmals ausgiebig und verließ das Haus. Ich hörte, wie der Wagen davonfuhr. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf. Es war Zeit für eine neue Chronologie. Seit Annes Tod war ich nicht mehr zum Reflektieren gekommen. Wer hatte ein Interesse, sie zu ermorden? Meine Theorie fiel mir wieder ein. Blücher hatte Recht, irgendwie waren fast zu viele Lesben im Spiel, jetzt auch noch Gela. Oder hatte sie mit dem Fall nichts zu tun? Jedenfalls gab es, wenn die Kindesentführung von Anne und Renate der Wahrheit entsprach, einige Motive und Verdächtige. Zum einen die Männer, Marko Koenig und Jürgen Teuchert. Sie konnten hinter das Geheimnis gekommen sein. Koenig könnte Anne aus gekränktem Stolz, Teuchert seine Frau umgebracht haben, weil sie ihm das Kind wegnehmen und ihn verlassen wollte. Oder war es Renate Koenig gewesen? Hatte sie ihre Liebhaberin überraschen wollen, sie dann mit einer anderen ertappt und sie aus Eifersucht erschossen? Daran durfte ich gar nicht denken. Aber leider konnte auch das der Fall sein. Allerdings ging die Polizei davon aus, dass die Schusswaffe dieselbe gewesen war, mit der die Unbekannte getötet worden war. Hatte Renate Koenig und vielleicht sogar Anne doch etwas mit dem ersten Mord zu tun? Waren sie bei ihrem Manöver so weit gegangen, eine Frau nur deshalb umzubringen, damit die Polizei sie eine Weile für die verschwundene Tagesmutter hielt? War Renate Koenig eine Psychopathin, die erst die eine Frau, und dann ihre Geliebte ermordet hatte? Aber war Eifersucht überhaupt das Motiv? Viel wahrscheinlicher war, dass beide Morde mit dem Umschlag zu tun hatten, den ich dummerweise nicht geöffnet hatte. Es lag nahe, dass der Inhalt dieses Umschlags der Schlüssel zu dem Fall war. Jedenfalls schienen Bley und Heering hinter diesem Ding her zu sein. In wessen Auftrag? Im Auftrag der Ockergelben oder speziell dem von Bracke? Bisher hatte ich kein Indiz dafür, dass Bracke und die beiden Schläger zusammenarbeiteten oder sich überhaupt kannten. Fest stand, dass Bley und Heering in jener Nacht in der Nähe des Tatortes den Boden abgesucht hatten. Hatten sie, oder Bley allein die Frau getötet, weil sie den Umschlag bei ihr vermuteten? Als sie ihn nicht bei ihr fanden, suchten sie, als sie den Tatort unbewacht wähnten, die Umgebung ab. Ja, das ergab Sinn. Die Unbekannte hat den Umschlag bei sich und wird von Bley verfolgt. Sie könnte ihn auf der Flucht weggeworfen oder versteckt haben. Tatsache war, dass der Umschlag in Anne Teucherts Schreibtischschublade landete. Wie war er dahin gekommen? Hatte Anne Teuchert selbst ihn gefunden? Hatte sie selbst der Frau die Kugel in den Kopf gejagt, um an den Umschlag zu kommen? Oder hatte Renate in ihrem Auftrag gehandelt und ihr den Umschlag gegeben? Alles war möglich. Selbst dass Anne für Bracke gearbeitet hatte oder Bley für Anne. Ich dachte an die Unterwürfigkeit Annes, die ich gegenüber Bracke zu erkennen geglaubt hatte. Wollte man Anne als Mitwisserin ausschalten? Sie könnte sogar mit ihrer eigenen Waffe getötet worden sein. War Nadines Mutter in eine gefährliche Sache verstrickt gewesen, die sie am Ende das Leben gekostet hatte? Auch in diesem Zusammenhang war Nadines Verschwinden erklärbar. Anne Teuchert wird beauftragt, den Umschlag einer Frau abzunehmen, notfalls mit Gewalt. Ihre Tochter wird entführt, um sie unter Druck zu setzen. Ob Renate eine Komplizin ist oder ebenfalls entführt wurde, bleibt dabei offen. Diese These würde auch Annes Ruhe erklären, den sie wusste ja, dass Nadine in Sicherheit war, solange der Auftrag ausgeführt und das Ding beschafft worden war. Anne geht davon aus, dass mit der Übergabe des Umschlags Nadine wieder auftaucht, aber es kommt anders. Sie wird ermordet. Entweder vom Auftraggeber selbst oder von jemandem, der den Umschlag ebenfalls haben wollte. Möglich wäre auch, dass der Auftraggeber an dem Abend nur vorhatte, den Umschlag an sich zu nehmen. Er überrascht Anne beim Sex mit einer Frau und tötet sie dafür. Homophobie als Motiv würde sowohl zu Bley als auch zu Bracke passen. Wie auch immer der Plan ausgesehen hatte, er war schiefgegangen. Der Umschlag ist verschwunden, der Verdacht fällt natürlich auf Annes Geliebte. Annes Mörder findet heraus, wer ich bin, und durchsucht meine Wohnung. Er nimmt den Umschlag, ein Foto und das Anrufbeantworter-Band mit. Dieses bringt er zusammen mit der Mordwaffe zurück in meine Wohnung, damit man mich des Mordes an Anne verdächtigt. Ich werde verhaftet, aber ein anonymer Gönner sorgt dafür, dass ich auf Kaution freigelassen werde. War es Gela? Sie war schließlich auch vor Ort, sie könnte mich die ganze Zeit verfolgt haben. Welche Rolle spielte sie? Sie hatte mich in Sicherheit gebracht, aber es konnte eine Falle sein. Bis jetzt hatte aber niemand versucht, mich umzubringen. Lag es nur an fehlender Gelegenheit? Ich dachte an Bley. Die Polizisten hatten dieses Vorhaben womöglich vereitelt. Aber er hätte mich auch gleich killen können. Wozu mich dafür nach Hause begleiten? Jetzt fiel mir ein, dass er etwas bestimmtes von mir wollte. Wo ist es? hatte er mich gefragt. Was hatte er gemeint? Den Umschlag? Aber den hatte er doch aus meiner Wohnung bereits entwendet. Wenn er es gewesen war. Mir dämmerte langsam , dass da mehr als eine Partei nach dem mysteriösen Etwas fahndete. Bleys Verhalten ließ darauf schließen, dass das Lager, für das er arbeitete, den Umschlag nicht bekommen hatte, und davon ausging, dass ich ihn noch besaß. Wieder stellte sich das Gefühl ein, dass ich etwas wichtiges übersehen hatte. Ich dachte angestrengt nach. Der Mörder, der in Annes Büro den Umschlag suchte, war er derselbe, der meine Wohnung auf den Kopf gestellt hatte? Wenn ja, dann musste er bei mir regelrecht in Panik gewesen sein. Im Büro war er noch systematisch und unauffällig vorgegangen, als wolle er vermeiden, dass die Polizei überhaupt merkt, dass er etwas gesucht hatte. In meiner Wohnung dagegen schien er völlig planlos vorgegangen zu sein, und alles andere als unauffällig. Alles sprach wieder für die Theorie mit den zwei konkurrierenden Parteien. Bley gehörte zu der, die Anne töteten, und die bei der Durchsuchung des Büros nicht fündig geworden waren. Sie hatten mich im Verdacht, und schickten Bley, mich zu bedrohen und mir das Besagte auszuhändigen. Jemand von der anderen Partei verwüstete meine Wohnung und fand den Umschlag letztlich in meiner Handtasche. Dieser konnte nicht Annes Mörder sein. Zum einen hätte der Mörder mit weniger Aufwand meine Wohnung durchsucht, weil es nicht seine Art war. Zum anderen hatte er mich höchstwahrscheinlich von Anne weggehen sehen, und hätte darauf kommen müssen, dass der Umschlag sich in der Handtasche befand. Er hätte dort zuerst nachgesehen und wäre fündig geworden. Der Mörder hatte demnach keinerlei Grund und Interesse, in meiner Wohnung ein Schlachtfeld zu hinterlassen. Solange Annes Mörder glaubte, dass ich den Umschlag hatte, war ich lebendig noch interessant für ihn. Ich konnte nur hoffen, dass er nicht wusste, dass das andere Lager ihn bereits hatte. Die Überlegungen waren schlüssig, aber mein Gefühl sagte mir, dass der Fehler im System noch nicht behoben war. Etwas war in jedem Fall seltsam. Der Mörder hatte dafür gesorgt, dass der Verdacht auf mich fiel. Aber er brauchte mich in Freiheit und jenseits aller Polizeikontrolle, wenn er an den Umschlag kommen wollte. Bley, wenn er nicht selbst Annes Mörder war, arbeitete für diesen. Er war über meine Verhaftung selbst überrascht, und wäre wohl kaum zu meiner Wohnung mitgegangen, hätte er gewusst, dass ich unter Verdacht stand. Und da er nicht in meiner Wohnung war, hatte er weder die Kassette gestohlen und wieder zurückgebracht, noch die Mordwaffe bei mir versteckt. Nichts passte zusammen. Die eine Partei besaß die Mordwaffe, war aber nicht in der Wohnung gewesen. Zudem konnte sie kein Interesse haben, mich der Polizei auszuliefern. Die andere Partei war in der Wohnung gewesen, hatte wahrscheinlich die Sache mit dem Band eingefädelt, konnte aber die Mordwaffe nicht bei mir versteckt haben. Sie hatte zwar ein Interesse daran, mich außer Gefecht zu setzen, konnte aber gar nicht wissen, dass ich am Tatort gewesen war. Wie aber war sie überhaupt darauf gekommen, dass ich den Umschlag haben konnte, um dann in meine Wohnung einzudringen? Der Fall begann, mich zu überfordern. Ich hätte ihn gern der Polizei überlassen, selbst jetzt, da Tommy suspendiert war. Aber solange ich unter Verdacht stand, war das unmöglich. Wieder dachte ich an die Kaution, und wer sie gestellt hatte. Jemand, der über meine Ermittlungen Bescheid wusste und wollte, dass ich unbedingt weitermachte? Es gab aber noch eine Möglichkeit. Jemand, der ein Interesse hatte, dass ich frei herumlief, damit er mich beobachten konnte. Jemand, der den Umschlag haben wollte, den er noch bei mir vermutete. Dieser Jemand musste auch, direkt oder indirekt, Annes Mörder sein und wahrscheinlich auch Bleys Vorgesetzter. Alles sprach dafür, dass es Bracke war. Er hatte auch den Einfluss und das Geld, und die Sache mit der Kaution diskret zu behandeln, passte zu seinem hintergründigen Operieren. Es war auch vorstellbar, dass Bracke, der sicher auch bei der Polizei als durch und durch ehrenwerter Bürger und Politiker galt, genug Einfluss besaß, eine Kaution diskret zu hinterlegen und gleichzeitig durchzusetzen, dass sie bewilligt wurde. Bracke musste beschattet werden. Ich schaute auf die Uhr. Es war fast halb Zwölf. Zum Glück kannte ich die Nummer vom Ray´s auswendig, es war nicht das erste Mal, dass ich dort Locke ans Telefon rufen ließ. Gelas Telefon stand neben dem Bett, ich brauchte nicht einmal aufstehen. Während ich die Nummer wählte, dachte ich an Barbara und meine Brustwarzen richteten sich auf. Dieser Zustand hielt nicht lange an. Der Kollege ging ran. Ich hörte, wie er genervt Locke, Telefon! rief.Kurz darauf war mein Informant in der Leitung und freute sich, dass ich noch lebte. Ich hab mir ernsthaft Sorgen um dich gemacht. Nirgends warst du aufzutreiben. Ich war gerührt. Locke, hör zu, ich hab momentan ein Problem, das mich zwingt, mich weniger in der Öffentlichkeit zu zeigen. Und ich muss mehr über Bracke herausfinden. Locke lachte meckernd. Bin schon dabei. Seit ich weiß, wer er ist, bin ich sein persönlicher Schatten. Ich war begeistert. Wenn du was wichtiges herausfindest, gib Blücher Bescheid. Sag ihm auch, dass es mir soweit gut geht. Ich hörte, wie der Typ vom Ray´s zu schimpfen begann. Ich muss Schluss machen, sagte Locke noch überflüssigerweise und legte auf. Ich legte ebenfalls auf, lehnte mich beruhigt zurück und schlief kurze Zeit später ein.


5

Das Telefon weckte mich schon früh am Morgen. Es war Gela. Du kannst nicht bei mir bleiben. Die Polente ist mir auf den Fersen, ich kann sie nicht immer wieder abschütteln. Sobald ich hierherkäme, würden sie dich finden. Gela schien sehr besorgt darüber zu sein, dass sich die Polizei näher mit mir befasste. Ich fragte mich wieso. Erneut kam in mir der Verdacht auf, dass sie die Kaution bezahlt hatte. Sie nannte mir eine Adresse, wo ich sofort hingehen sollte. Du wirst eine Weile bei einer guten Freundin von mir bleiben. Du kannst ihr voll vertrauen. Es war kurz still in der Leitung. Manja, vertraust du mir? Ich wusste nicht viel über Gela, und auch nicht, welche Rolle sie in dem Fall spielte, aber ich vertraute ihr. Pass auf dich auf, Süße, sagte sie noch, dann hatte sie aufgelegt.

Die Adresse entpuppte sich als ein kleines ehemaliges Bauernhaus am Ortsrand, das schon etwas verfallen war. Es lag mitten in brachliegenden Feldern. Weit und breit war kein anderes Haus zu sehen. Eine Klingel gab es nicht. Ich klopfte, bis ich merkte, dass die Tür nur angelehnt war. Ich trat ein. Es roch nach Erde und modrigem Holz. Vor mir lag ein langer, spärlich mit wurmstichigen und schweren Bauernmöbeln ausgestatteter Flur. Er führte zu einer Wendeltreppe, über die man wahrscheinlich in die obere Etage kam. Ich ging vorsichtig ein paar Schritte weiter. Trotz der spärlichen Beleuchtung erkannte ich eine Gestalt, die langsam die Treppe herunterkam und auf einer der untersten Stufen zum Stehen kam. Ich habe dich schon erwartet. Gela hat dich angekündigt, hörte ich eine warm klingende Frauenstimme sagen. Wir kamen uns in der Mitte des Ganges entgegen. Sie hatte kurzes schwarzes Haar und ein gewöhnliches aber hübsches Gesicht. Sie trug einen dünnen Morgenmantel, unter dem sich ihr schlanker Körper abzeichnete, die Füße waren nackt und vom rauen Boden der Dielen schmutzig geworden. Sie streckte mir mit einer zierlichen Bewegung eine Hand entgegen. Liane Volkmann, stellte sie sich vor. Ich nahm ihre Hand und nannte ebenfalls meinen Namen. Ich bin gerade beim Frühstück. Einen Kaffee und was zu Beißen wirst du sicher nicht ablehnen. Ich ging hinter ihr die Treppe hoch. Sie gefiel mir. Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn sie Bestandteil des Frühstücks gewesen wäre.

Nach einer üppigen Mahlzeit und mehreren Tassen Kaffee führte Liane mich in einen kleinen Raum, der etwas zwischen Schlaf- und Badezimmer zu sein schien. Eine alte Matratze mit zerwühltem Bettzeug, eine Frisierkommode, auf der sich ein Spiegel und eine Unmenge Kosmetikartikel befanden und ein kleines Waschbecken mit einem Hahn darüber, der direkt aus der Wand zu wachsen schien. Hier schlief Liane wohl und besorgte die tägliche Körperpflege. Vor der Kommode stand ein wackeliger Stuhl, auf den mich Liane bat, Platz zu nehmen. Ich gehorchte. Gela meint, du sollst hierbleiben, aber ich denke, Verstecken bringt uns nicht weiter. Sie begann, mit ihren schlanken Fingern in meinem Haar herumzuwühlen. Ich musste mich zusammenreißen, in meiner Erregung nicht zu laut zu atmen. Ich werde dich ein wenig verändern, und dann kannst du dich wieder unter die Bevölkerung mischen. Bevor ich Gelegenheit hatte zu protestieren, hatte sie mit einigen gekonnten Schnitten aus meiner Mähne eine Kurzhaarfrisur gezaubert, die mir gar nicht mal so schlecht stand. Das war aber erst der Anfang. Als sie fertig war, erkannte ich mich selbst nicht wieder. Aus dem Spiegel blickte mich eine stark geschminkte Frau mit kurzem schwarzgefärbtem Haar an. Selbst mein Lächeln kam mir fremd vor. Liane streckte mir ein faltenfreies dunkelblaues Kostüm und eine weiße Bluse entgegen. Du dürftest meine Größe haben. Eine Perlenkette und ein paar halbhohe Pumps im gleichen Dunkelblau vervollständigten die Verkleidung. Während sie mir in einen schicken Damenmantel half, meinte sie, dass draußen schon das Taxi wartete, das mich in die Stadt hineinfahren würde. Ich stellte mir das verwunderte Gesicht des Taxifahrers vor, das er wahrscheinlich machen wird, wenn eine elegante Dame aus dem halbverfallenen Haus auf seinen Wagen zu stöckelt.

Ich hatte keinen Plan, wo ich weitermachen sollte. Als mich der Fahrer fragte, wohin es gehen sollte, nannte ich ihm das Verlagshaus, in dem Anne gearbeitet hatte. Ich wusste selbst nicht, warum. Sie gehen wohl zur Pressekonferenz? Ich nickte abwesend. Für den Taxifahrer gingen Damen in feinen Klamotten wohl mittags zu Pressekonferenzen. Ist schon eine schlimme Sache, das mit der Frau, die erschossen wurde. Ihre Geliebte solls gewesen sein. Jaja, diese unnatürlichen Dinge führen ins Verderben. Das hab ich schon immer gesagt. Die Polizei hatte die Mörderin bereits festgenommen, aber sie war so dumm, sie auf Kaution freizulassen. Da ist sie natürlich abgehauen. Neben mir auf dem Sitz lag eine Zeitung. Ich nahm sie und versteckte mich dahinter. Auf der ersten Seite, meinte der Fahrer wohlwollend. Er hatte mein Verhalten zum Glück falsch verstanden. Als ich die Frontseite genauer in Augenschein nahm, erbleichte ich unter der dicken Schicht Schminke. Nicht, dass es mich überraschte, ein groß abgebildetes Fahndungsfoto von mir dort vorzufinden. Es war das Foto darunter. Gelas Nase hätte ich unter Tausenden wiedererkannt. Unter dem Foto stand ihr voller Name: Angelika Bracke. Entsprechend lautete die reißerische Überschrift: PIKANT! GATTIN VOM VERLAGHAUS-BOSS VERHALF PERVERSER MÖRDERIN ZUR FLUCHT. Ich überlegte, ob ich dem Fahrer eine andere Adresse nennen sollte, aber das wäre verdächtig gewesen. Vielleicht war es gar nicht ungeschickt, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Dort würde man mich am wenigsten vermuten. Ich nahm an, dass Bracke die Pressekonferenz einberufen hatte, um sich von der Tat seiner Frau zu distanzieren. Seine Frau als Komplizin einer lesbischen Mörderin war das wenigste, was Bracke für das Ansehen seiner Partei gebrauchen konnte. Als das Taxi hielt, tastete ich meine Kostümjacke ab. Ich fand einen sorgfältig gerollten Geldschein. Liane hatte an alles gedacht. Ich drückte dem Fahrer das Geld in die Hand. Stimmt so. Es war eine ganze Menge Trinkgeld, die der homophobe Kerl bestimmt nicht verdient hatte. Aber ich hatte es eilig, aus dem Wagen zu kommen.

Anfangs fühlte ich mich in Lianes Klamotten overdressed, jetzt merkte ich, wie praktisch dieser Aufzug war. Niemand hatte mich aller Sicherheitsvorkehrungen zum Trotz davon abgehalten, in den Konferenzraum zu gelangen. Ich nahm in der hintersten Reihe Platz, um nicht zu sehr aufzufallen und einen Überblick zu haben. Der Saal, sicher der größte in dem Gebäude, wimmelte von Journalisten und Medienleuten. Vorne, etwas erhöht, saßen drei Männer. Bracke in der Mitte, und zu seiner Rechten mein großartiger Bruder. Ich hoffte, dass es mir gelang, aus dem Gebäude zu kommen, bevor er mir über den Weg lief. Er würde mich auch in meiner neuen Aufmachung erkennen, da war ich mir sicher. Auch den Mann links von Bracke kannte ich. Es war Toralf Eck, der Spitzenbulle mit dem großen Adamsapfel. Ist hier noch frei?, sagte eine Stimme plötzlich neben mir. Bitte, antwortete ich, und Tommy ließ sich auf dem Stuhl neben mir nieder. Er hatte eine dunkle Sonnenbrille auf, seine Unterlippe war wieder abgeschwollen. Der Mann links ist Eck, raunte mir mein alter Freundzu, ohne mich anzusehen. Er ist ein hohes Tier bei der Polizei, kümmert sich in der Regel nur um repräsentative und übergeordnete Aufgaben. In diesen Fall hat er sich höchstpersönlich eingeschaltet. Als Ermittler. Ich verstand die Anspielung. Eck war es, der den Fall übernommen hatte, und wahrscheinlich hatte er auch dafür gesorgt, dass Tommy suspendiert wurde. Er war sogar selber bei der Untersuchung des Tatortes anwesend. Die Journalistin neben Tommy warf ihm einen bösen Blick zu. Tommy räusperte sich geräuschvoll, entschuldigte sich für seine Erkältung und schwieg. Den letzten Satz hatte er mit einer sonderbaren Betonung gesagt. Was wollte er mir damit zum Ausdruck bringen? Warum sollte Eck als ermittelnder Beamter nicht den Tatort persönlich aufsuchen? Ich kam nicht mehr dazu, darüber nachzudenken. Die Pressekonferenz begann.

Bracke hatte sich gut aus der Affäre gezogen. Er nutzte das Dilemma, um sich parteipolitisch zu stärken. Das Gift der Homosexualität, das den Frieden und die Ordnung von Staat und Gesellschaft zersetze, müsse mit allen Mitteln bekämpft werden. Der bedauerliche Vorfall, der sich in einem Büro seines Verlagshauses zugetragen hatte, zeige, wie weit sich die Perversion schon in die besten Kreise geschlichen habe. Seine Angestellte Frau Teuchert sei eine ehrbare Persönlichkeit und treusorgende Mutter gewesen, die aber den Verführungen eines kriminellen Subjekts zum Opfer gefallen war. Er sei sehr vom Ausgang dieser Tragödie betroffen , aber er versicherte, dass die brutale Täterin ihre gerechte Strafe erhalten werde. Was seine Frau betraf, so hätte er schon lange den Verdacht gehabt, dass sie an einer geistigen Zerrüttung leide. Des öfteren hätte sie sich in einem Anfall gegen ihn gewendet, um ihm zu schaden. Mit dieser letzten Tat, einer gemeingefährlichen Verbrecherin zur Flucht zu verhelfen, wäre sie zu weit gegangen, da sie nicht nur ihm schadete, sondern auch die gesamte Bevölkerung in Gefahr gebracht habe. Es wäre veranlasst worden, dass sie in die geschlossene Psychiatrie überwiesen wird. Eck erklärte auf die Vorwürfe der Journalisten gegen die Polizei, er habe die Tatverdächtige falsch eingeschätzt. Ihre Schuld war zu dem Zeitpunkt der vorläufigen Freilassung keineswegs erwiesen. Mit ihrer Flucht hätte sie aber ein eindeutiges Geständnis abgelegt. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis man die Frau wieder gefasst hätte. Mein Bruder hatte geschwiegen. Man hatte ihm angesehen, wie unwohl er sich fühlte. Zu seinem Glück war der Nachname der vermeintlichen Mörderin nicht an die Öffentlichkeit gedrungen. Wahrscheinlich hatte man da auf ihn Rücksicht genommen. Seine mörderische Schwester verließ gerade grübelnd den Saal. Ich dachte über Eck nach. Die Medienleute hatten es auch nicht unterlassen, Zusammenhänge zwischen Nadines Verschwinden und der Ermordung der Mutter zu vermuten. Eck hatte einen Zusammenhang nicht ausgeschlossen, verwies aber darauf, dass er keine Informationen preisgeben dürfe. Dabei stellte sich heraus, dass sich der hohe Polizeimann auch dem Fall Nadine persönlich angenommen hatte. Ich war eben aus dem Tür des Saales getreten, als ich aus Versehen gegen einen jungen Mann mit langem zurückgegeltem blonden Haar stieß. Der Anzug, den er trug, war ihm ein wenig zu weit. Am Jackett-Aufschlag war ein Presseschildchen befestigt, das ihn ausgerechnet als G. Blücher auswies. Gerade als ich mich entschuldigen wollte, trat Eck aus dem Saal. Er sah mich direkt an und musterte mich. Der Pressemann sagte plötzlich mit unnatürlich exaltierter Stimme: In Moskau waren Sie als letztes? Nein, wirklich, Frau Blücher, Sie glauben gar nicht, wie ich die Auslandskorrespondenten beneide. Eck starrte eine Weile auf meine Brust und ging weiter. Ich berührte unwillkürlich die Stelle, als hätten sich seine Augen dort eingebrannt. Statt eines Brandlochs fühlte ich ein Presseschildchen an meinem Jackenaufschlag. G. Blücher stand drauf. Wie ich noch überlegte, wie es dahin gekommen war, hatte sich der Pressemann gleichen Namens bei mir eingehakt und begleitete mich so zum Ausgang. Währenddessen redete er immer noch von Moskau, einer Stadt, in der ich nie gewesen war. Darf ich sie zum Essen ausführen? sagte er, als wir draußen waren und winkte ein Taxi herbei. Jetzt klang seine Stimme natürlich und vertraut. Wir haben uns sicher eine Menge zu erzählen. Aus alten Zeiten, Frau Blücher.

In unseren Verkleidungen sahen Locke und ich wie einerfolgsverwöhntes Yuppie-Pärchen aus. Das Lokal, in das er uns hat bringen lassen, war ausgerechnet jenes gewesen, in dem ich Staranwalt Achim Maag auf so unrühmliche Weise verlassen hatte. Wenn er mich in diesem Aufzug sehen könnte, dachte ich. Ich hätte Locke ein solch ausgereiftes schauspielerisches Talent gar nicht zugetraut. Jetzt mimte er meinen Gatten, der mich zur Feier irgendeines Hochzeitsjubiläums in das Lokal ausgeführt hatte. Zwischen schwülstigen Liebesbeteuerungen, bei denen er sicher zu seinem eigenen Genuss meine Hand hielt und die er gerade so laut darbrachte, dass die anderen Gäste sie zwar hören aber sich nicht gestört fühlten, flüsterte er mir in leicht laszivem Ton wichtige Informationen zu. Der Kellner, der uns bediente, war derselbe von gestern gewesen, erkannte mich aber nicht. Selbst wenn er mich erkannt hätte, würde er wohl nicht glauben, dass ich in einem eleganten Kostüm nochmals hier aufkreuzen würde. Ich erfuhr, dass Locke zu Blücher gegangen war, um ihn zu beruhigen. Blücher hatte ihn beauftragt, zu der Pressekonferenz zu gehen, und hatte Locke einen seiner Anzüge sowie die Presseschildchen verpasst, die jetzt in unseren Jacketttaschen verwahrt waren. Das zweite war für den Fall gewesen, dass Locke das erste verlieren würde. Beide hatten uns gute Dienste geleistet. Ich fragte mich, ob Blücher früher im journalistischen Bereich tätig war. Plötzlich zog sich Lockes Hand zurück. Also ich bevorzuge ja die Winter in good old Germany, sagte er wieder in dem exaltierten Ton, der russische Winter ist doch sicher sehr kalt. Ich nickte nur. Die Gruppe am Nebentisch wunderte sich ein wenig über seinen plötzlichen Gefühlsumschwung. Erst jetzt erkannte ich, dass das Dreigestirn der Konferenz, Bracke, Eck und mein Bruder, das Lokal betreten hatten. Sie waren gerade an uns vorbeigegangen. Bracke und Eck nahmen bereits an dem Tisch Platz, den ihnen eine Kellnerin mit sehr üppigem Busen zeigte. Achim war noch in Reichweite unseres Tisches, als der Kellner kam und den Nachtisch servierte. Zweimal Zitronensorbet auf Kiwi-Spiegel, die Herrschaften, flötete er und stellte das Genannte vor uns hin. Achim drehte sich flüchtig zu mir um. Der Schweiß brach aus seiner Stirn. Im ersten Moment glaubte ich, er würde zu uns an den Tisch kommen, aber er ging zu den anderen und gab sich gelassen. Ich war überzeugt, dass er mich erkannt hatte. Ich bat Locke, sich mit dem Nachtisch zu beeilen und die Rechnung zu verlangen. Mir war der Appetit vergangen. Locke war schon so gut wie fertig und schielte schon auf mein nicht angerührtes Eis. Ich warf ihm einen mahnenden Das-macht-man-hier nicht-Blick zu. Er seufzte. Er winkte dezent den Kellner heran, während ich aufstand und mich Richtung Toilette bewegte.Dort tupfte ich mir das Gesicht mit Wasser ab. Plötzlich stand die Kellnerin mit dem üppigen Busen neben mir. Sie wirkte verlegen, was sie sehr attraktiv machte. Ich soll Ihnen das hier geben, sagte sie schüchtern und reichte mir einen gefalteten Zettel. Bitte glauben Sie mir, es ist nicht so, dass ich mich immer für solche Dienste zur Verfügung stelle, aber der Herr, der mir das gab, ist ein sehr bekannter und ehrenhafter Rechtsanwalt, und einer unserer häufigsten Besucher. Sie zitterte, während sie sprach, und der Busen geriet in Bewegung. Der Herr Rechtsanwalt schien ihr zuzusagen, und ich glaubte jetzt den Grund entdeckt zu haben, warum mein Brüderchen so häufig diesen Laden frequentierte. Was das Essen betraf, so hatte er schon immer derbe Hausmannskost bevorzugt. Eifersucht lag nicht in ihrer Stimme. Wahrscheinlich wusste sie sehr genau, dass Herr Maag sich nie dazu herablassen würde, mit einer Kellnerin anders zu verkehren, als sich von ihr bedienen und Aufträge ausführen zu lassen. Wenigstens würde das Trinkgeld heute besonders reichlich ausfallen. Ich beruhigte sie und legte ihr einen Geldschein in die Hand. Empfehlen Sie dem Herrn bitte das Zitronensorbet als Nachspeise und sagen Sie, das es ausgezeichnet sei. Sie nickte verwundert und steckte das Geld in den Ausschnitt. Sie hatte verstanden, dass es nicht für die reguläre Kasse gedacht war. Als sie rausgegangen war, wartete ich noch eine Minute, bis ich zu meinem Tisch zurückkehrte. Locke zahlte noch immer. Das indignierte Gesicht des Kellners verriet mir, dass der Gast sich gerade das Wechselgeld peinlich genau herausgeben ließ, nachdem er bereits vorher gegen die Etikette des Etablissements verstoßen und bar statt mit Kreditkarte bezahlt hatte. Stimmt so, sagte ich zum verblüfften Kellner und schenkte ihm mein schönstes Lächeln. Komm, Schatz, wir kommen sonst zu spät zum Empfang, warf ich zusammen mit einem Spinnst-du-Blick in Lockes Richtung. Wir standen auf, nahmen dem Kellner, der mir in den Mantel helfen wollte, die Garderobe ab, und verließen hastig das Restaurant. Ein paar Tische weiter empfahl eine Kellnerin drei Gästen das Zitronensorbet.

Ich sehnte mich nach Barbara. Locke hatte mir gnädigerweise ihre Adresse verraten, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Nach unserer gemeinsamen Nacht hatte mir Barbara weder Adresse noch Telefonnummer verraten, sondern versprochen, sich bei mir zu melden. Dass sie es noch nicht getan hatte, war ein Glück, denn mit ihrer Stimme auf dem Anrufbeantworter hätte der Eindringling von ihr gewusst. Der letzte Satz, den Tommy im Konferenzsaal zu mir gesagt hatte, fiel mir wieder ein. Er war sogar selber bei der Untersuchung des Tatortes anwesend. Eck am Tatort. Das Anrufbeantworter-Band, das verschwindet und wieder auftaucht. Die Mordwaffe, die die Polizei bei mir findet. Ein hoher Beamter der Polizei, der sich ausnahmsweise dazu herablässt, in einem Fall persönlich zu ermitteln. Tommys Suspendierung. Ein verschwundenes Kind, über dessen Verbleib die Polizei nicht die geringste Spur findet, obwohl sich ein Polizeichef höchstpersönlich darum kümmert. Eck bei der Pressekonferenz, an Brackes Seite. Dieser Mann spielte eine zentrale Rolle in dem Fall. Und das Bild, das sich aus all diesen Fragmenten ergab, schuf den Eindruck, dass Ecks Rolle keine rein polizeiliche war. Wer hatte Gelegenheit gehabt, die Kassette und die Waffe in meiner Wohnung zu deponieren? War es das, was Tommy andeuten wollte? Wenn es aber Eck gewesen war, wie war er an die beiden Dinge gekommen? Das mit der Waffe ließ sich noch einfach erklären. Eck kannte das Kaliber der Kugeln, und es durfte für einen Polizisten kein Problem darstellen, eine entsprechende Waffe zu organisieren. Da er die Ermittlungen leitete, war seine Aussage, es handle sich um die Mordwaffe, glaubhaft. Vor allem, wenn der Slip und das Band dazukamen. Letzteres konnte Eck aber nicht gefälscht haben. Es gab drei Möglichkeiten: Er hatte den Eindringling gefasst oder wusste, wer es war und hatte ihm das Band abgenommen. Oder er hatte den Einbruch selbst in Auftrag gegeben. Wahrscheinlicher war sogar, dass er persönlich meine Wohnung durchsucht hatte. Hatte er auch den Umschlag und das Foto entwendet? Jedenfalls schien es so, als ob er an dem Umschlag interessiert war, und das außerhalb seiner Aufgabe als Polizist. Wenn er sich persönlich in den Fall reinhing und die Arbeit nicht den dafür vorgesehenen Kollegen überließ, bedeutete das, dass er etwas vor der Polizei zu verbergen hatte. War ich hier auf die zweite Partei gestoßen? Hing das Verschwinden Nadines mit dem Umschlag zusammen? Hatte deshalb Eck sich des Falles von Anfang an angenommen? Eck als Verdächtiger warf ein ganz neues Licht auf die Sache. Zwei Männer sind unabhängig voneinander hinter einem ominösen Umschlag her. Der eine ist Bracke, der andere Eck. Die bisher nicht identifizierte Frau wird wahrscheinlich im Auftrag Brackes von Bley getötet, weil sie bei ihr den Umschlag vermuteten. Den Umschlag hat aber Anne Teuchert. Ihre Tochter wird von Eck entführt, um sie zu zwingen, den Umschlag herauszugeben. Anne ahnt, wer hinter der Entführung steckt und wähnt Nadine solange in Sicherheit, wie sie den Umschlag besitzt. Sie muss als Mitwisserin um sich und ihre Tochter fürchten, sobald sie den Umschlag, ihr einziges Druckmittel, verliert. Sie versteckt den Umschlag in der Schublade. Bracke findet heraus, dass sie ihn besitzt und lässt sie töten. Der Killer findet den Umschlag nicht. Eck, der wahrscheinlich Anne beschattet, sieht mich aus dem Büro gehen. Er findet heraus, wo ich wohne und durchsucht meine Wohnung. Wenn ich ihn überrascht hätte, hätte er sein Eindringen mit einem Durchsuchungsbefehl erklären können. Er nimmt die besagten Gegenstände mit. Mit der Kassette macht er mich zur angeblichen Mörderin, um mich aus dem Verkehr zu ziehen. Bracke, der den Umschlag bei mir vermutet, schickt Bley, um mich zur Herausgabe des Umschlags zu zwingen. Als der Plan fehlschlägt, hinterlässt er eine Kaution für mich, um mich weiter beobachten zu können. Hier aber war eine Unstimmigkeit. Wer auch immer die Kaution hinterlegt hatte, Eck jedenfalls konnte kaum Interesse daran gehabt haben, mich laufen zu lassen. Als zuständiger Mann und hoher Polizist mit großem Einfluss hätte er die Bewilligung einer Kaution leicht verhindern können. Hatte er im Laufe der Situation den Plan geändert? Aber warum? Aus demselben Motiv wie Bracke? Was, wenn er den Umschlag gar nicht gefunden hatte? Er durchsucht meine Wohnung und findet das Gesuchte nicht. Also versucht er es mit einem anderen Trick. Er nimmt das Band mit und macht aus mir die Hauptverdächtige und sich zum leitenden Ermittler. So hat er freie Hand, was die weitere Durchsuchung meiner Wohnung betrifft. Selbst wenn der Umschlag von einem anderen Beamten gefunden würde, würde alles Beweismaterial als erstes bei ihm landen. Den Umschlag zu öffnen und den Inhalt auszutauschen, wäre kein Problem für Eck. Aber er hat keinen Erfolg, der Umschlag findet sich nicht. Als auch das Verhör nichts bringt, weiß Eck, dass er nichts gegen mich ausrichten kann, solange der Umschlag in meinen Händen ist. Die Kaution wird hinterlegt und er willigt ein, um mich selber beobachten zu können. Es war auch denkbar, dass er die Kaution selbst hinterlegt hatte. Beide Parteien hatten mich also am Tatort gesehen, und beide hatten den Umschlag nicht. Dabei wäre es für Eck ein leichtes gewesen, die Handtasche zu öffnen, den Umschlag zu nehmen und wieder zu verschwinden. Da er mich am Tatort mit der Tasche gesehen hatte, musste er dort zuerst gesucht haben. Warum hatte er aber sinnloserweise und auf wenig polizeiliche Art meine Wohnung verwüstet? Weil der Umschlag nicht in der Tasche war! Ich hatte den ewig umher spukenden Fehler entdeckt. Wer aber hatte den Umschlag aus der Tasche genommen? Ich stand vor Barbaras Haus und sah auf dem Klingelschild zwei Namen. Leonhardt und Eisenschmidt. Barbara Eisenschmidt. Sie hatte die Nacht bei mir verbracht.Am nächsten Morgen hatte mich Tommys Anruf geweckt und ich hatte Barbara im Schlafzimmer zurückgelassen, wo auch die Handtasche gewesen war. Auch das Foto war verschwunden. Und Barbara hatte entsetzt reagiert, als ich ihr das Foto gezeigt hatte. Hatte sie meine kurze Abwesenheit dafür verwendet, das Foto an sich zu nehmen, und hatte nebenbei auch noch den Umschlag entwendet? Vielleicht vermutete sie darin weitere Fotos von Renate Koenig. Oder hatte sie gezielt nach dem Umschlag gesucht, wusste sogar, was sich darin befand? Die Vorstellung erschreckte mich, dass auch Barbara hinter dem Umschlag her war. Wenigstens steckte sie nicht mit Eck oder Bracke unter einer Decke. War auch sie am Tatort gewesen, und hatte mich beobachtet? War sie mir in mein Stammlokal gefolgt, hatte mir vorgemacht, sich für mich zu interessieren, um mit mir nach Hause zu gehen und auf eine Gelegenheit zu warten, den Umschlag an sich zu nehmen? Die Vorstellung tat weh, dass Locke Recht gehabt hatte und keine Lesbe war, und dass sie mich in der Hinsicht nur benutzt hatte. Ich musste Klarheit haben. Ich wusste mittlerweile, dass ich in Barbara verliebt war und ihr fast alles verzeihen würde. Nur wenn sie einen Menschen getötet hatte, das hätte ich ihr nicht verzeihen können. Aber ich glaubte fest daran, dass Barbara nicht die Morde auf dem Gewissen hatte. Wahrscheinlich hatte sie mit dem ganzen gar nichts zu tun, hatte lediglich das Foto gesucht und dabei aus Neugier den Umschlag genommen. Wenn es sich so verhielt, war sie in großer Gefahr. Ich musste sie warnen.

Die Wohnung war im obersten Stock. Eine Frau um die Vierzig öffnete mir die Tür. Sie war groß und kräftig gebaut, und von einer bizarren Schönheit. Die wilden roten Locken und das weite schwarze Gewand wirkten in dem sterilen Korridor des Neubaus anachronistisch. Im Mittelalter, dem sie entsprungen zu sein schien, wäre sie sicher als Hexe verbrannt worden. Ist Barbara da? fragte ich. Sie musterte mich von oben bis unten, als könne sie sich nicht vorstellen, dass eine Frau in solcher Aufmachung etwas von Barbara wollte. Sie ist nicht zu Hause, antwortete sie schließlich mit einer nicht unerotisch tiefen Stimme. Wollen Sie hereinkommen und auf sie warten? Sie müsste jeden Moment wiederkommen. Erleichtert nahm ich ihr Angebot an. Es hätte mich nicht verwundert zu erfahren, dass Barbara seit zwei Tagen nicht mehr hier aufgetaucht sei. Ich trat ein und sie schloss die Tür hinter uns. Susanne Leonhardt. Barbara wohnt bei mir zur Untermiete. Susanne hatte einen kräftigen Händedruck, wie ich ihn von dieser Frau nicht anders erwartet hätte. Ich überlegte, welchen Namen ich für mich ausdenken sollte. Da sie nicht danach fragte, sagte ich gar nichts und folgte ihr. Am besten, wir setzen uns in die gute Stube. Susanne öffnete eine Tür und ließ mich eintreten. Wie eine gute Stube sah es in dem Raum nicht aus, mehr wie eine Folterkammer. Überall standen seltsame Apparaturen herum. Plötzlich wurde ich zu Boden gerissen. Ein schwerer Körper drückte sich gegen meinen Rücken. Stahlharte Klammern wanden sich um meine Handgelenke und bogen die Arme brutal nach hinten. Ich hörte die tiefe Stimme meiner Gastgeberin dicht an meinem Ohr: Los, wehr dich, du kleine Schlampe. Ich wusste, dass dies zwecklos war und versuchte es gar nicht erst. Diese Frau hatte einen Griff, der Billardkugeln zu Matsch drücken konnte. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wer du bist? Die lesbische Mörderin, die von der Polizei gesucht wird. Lesbisch und eine Mörderin, das macht mich doppelt geil. Aber hier bist du für eine Weile sicher. Ich werde dich einfach behalten und mit dir machen, was ich will. Während sie sprach, hatte sie mich vom Boden hochgezogen wie eine Stoffpuppe und in einen Verschlag getragen, der hinter der Wand verborgen war. Hier ist dein Zimmer, sagte sie und lachte frivol. In dem Raum befand sich nichts weiter als ein überdimensionales Kreuz aus Stahl, an dem Hand- und Fußfesseln herabbaumelten. Es dauerte nicht lange, da fand ich mich an dem Kreuz festgemacht wieder, das Gesicht gegen den kalten Stahl gedrückt. Jetzt wirst du für dein doppeltes Verbrechen bestraft, du kleine Edelnutte. Susanne stand vor mir, packte mich brutal an den Haaren und riss den Kopf hoch. Sieh dir gefälligst deine Herrin an, Sklavenweibchen, brüllte sie mich an. Sie trug ein ledernes Korsett und bis zum Po reichende Schnürstiefel mit extrem hohen Pfennig-Absätzen. Dazwischen glänzte ihre rasierte Möse. Das alles musste sie unter dem langen Gewand verborgen haben. Sie stelzte hinaus und kam mit einem Krummsäbel wieder, den sie mir demonstrativ unter die Nase hielt, bevor sie um mich herumging. Ich hörte das Geräusch von reißendem Stoff und kurz darauf einen leichten Luftzug um Rücken und Po. Sie musste mit einem gekonnten Schnitt Mantel, Jackett, Bluse und Rock längs durchtrennt haben, ohne mir einen einzigen Kratzer zuzufügen. Ich hörte sie wieder sich entfernen und dann zurückkommen. Dann spürte ich einen brennenden Schmerz auf dem Rücken und schrie auf. Kurz darauf fühlte ich den Schmerz auch auf dem Hintern. Während der Schmerz immer mehr zunahm, konnte ich zwischen meinen eigenen Schreien wüste Beschimpfungen und orgasmisches Stöhnen meiner Peinigerin wahrnehmen. Meine Schreie gingen in Winseln über, als ich merkte, dass die Hiebe ausblieben. Auch die Beschimpfungen verebbten. Das Stöhnen wurde lauter, Susanne schien zu masturbieren. Trotz der höllischen Schmerzen spürte ich Erregung und Feuchtigkeit im eigenen Unterleib, als sie mit einem lauten Aufschrei kam. Ich hörte noch die Pfennig-Absätze, ein Schließgeräusch und das Klicken eines Mechanismus, dann gaben meine Sinne auf.

Als ich wieder zu mir kam, war ich völlig entkräftet. Meine Arme fühlten sich taub an, ich hatte nicht einmal die Kraft, an meinen Fesseln zu rütteln. Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund und das Gefühl am Verhungern und Verdursten zu sein. Ich erinnerte mich langsam an das, was passiert war. Wie lange hing ich schon hier? War es draußen schon dunkel? Seit sich die Tapetentür hinter mir geschlossen hatte, war es völlig düster in dem Verschlag. Ich versuchte zu rufen, aber meine Kehle war zu trocken. Es hätte ohnehin keinen Sinn gehabt, Susanne Leonhardt würde nur das tun, was sie wollte. Wollte sie mich aushungern? Ich horchte angestrengt, aber der Raum war vollkommen schallisoliert. Die Stille war noch unerträglicher als die Schmerzen, die mir diese Sadistin zugefügt hatte. Plötzlich ging die Tapetentür auf. Vielleicht wollte sie weitermachen, aber mir war alles gleichgültig geworden. Ach du Scheiße, entfuhr es der Person, die den Raum betrat. Ich erkannte die wohltuende Stimme meines Informanten. Wäre ich nicht in dem elenden physischen Zustand gewesen, ich hätte mich aus lauter Dankbarkeit dazu hinreißen lassen, mit ihm zu schlafen. Tränen liefen über meine Wangen. Ich heulte los. Mit einigen Sätzen war Locke zu mir geeilt und band mich vom Kreuz los. Meine Füße waren dick angeschwollen. Locke bemühte sich, mich aus dem einzelnen Schuh zu befreien, gegen den der geschwollenen Fuß drückte. Nachdem es ihm endlich gelungen war, zog er vorsichtig die Reste von Lianes Kostüm vom Körper und besah sich meinen Rücken. Die Striemen waren noch zu sehen, aber das Blut schon eingetrocknet. Locke nahm mich so, wie ich war, auf seine Schultern Huckepack und trug mich aus dem SM-Studio hinaus. Die Wohnung war völlig verwüstet. Mitten im Flur lag eine Daunendecke. Aus dem einen Ende schaute ein ledernes Paar Schnürstiefel heraus. Das andere war blutdurchtränkt. Was ist passiert, flüsterte ich mit letzter Kraft. Mein Retter antwortete nicht, sondern brachte mich in ein Zimmer, das ebenfalls völlig verwüstet war. Locke hob einige Kleider vom Boden auf, und zog sie mir an wie eine Mutter ihr Kleinkind. Es waren die Klamotten, die Barbara angehabt hatte, als sie bei mir gewesen war. Locke ging hinaus. Langsam bekam ich wieder Gefühl in meinen Gliedern. Locke kam mit einem Glas Wasser wieder und flößte es mir in kleinen Schlucken ein. Ich schluckte gierig. Das kühle Nass tat meiner ausgedörrten Kehle gut. Jetzt aber raus hier, schlug Locke vor. Es gelang mir, mich aufzustellen. Ich wankte, Locke stützte mich. Wir gingen langsam den Flur entlang. Ich bemühte mich, nicht auf die Daunendecke zu schauen. Wir stahlen uns vorsichtig aus der Tür und gingen geräuschlos die Treppe hinunter. Wir hatten Glück, im Treppenhaus begegnete uns niemand. Erst als wir außer Reichweite des Hauses waren, sahen uns Leute nach. Es war bereits dunkel. Man hielt uns für ein betrunkenes Pärchen, und Locke nutzte seine schauspielerischen Fähigkeiten, den Eindruck zu verstärken. Ich war wieder einer Ohnmacht nahe. Notarzt ist zu riskant, hörte ich Locke vor sich hinmurmeln. Wir bogen in eine Straße ein, in der sich in der Ferne ein Hoffnungsschimmer zeigte. Ich erkannte die bunten Neon-Lettern über meinem Stammlokal. Dahinein, hauchte ich mit letzter Kraft und verlor wieder das Bewusstsein.

Als ich erwachte, glaubte ich erst, doch noch in Susannes Verschlag zu sein. Aber statt an einem Stahlkreuz zu hängen, lag ich auf dem Kanapee in Ulrikes privatem Hinterzimmer, wohin sie sich ab und zu verkroch, wenn ihr die Arbeit am Tresen zu stressig wurde. Meine Wunden waren ordentlich versorgt, wie es sich für die Arbeit eines ehemaligen Krankenpflegers gehörte. Der Krankenpfleger trug ein tief ausgeschnittenes Kleid und saß auf einem Stuhl neben dem Kanapee. Gottchen, bin ich froh, dass du wieder unter den Lebenden weilst. Die Gräfin reichte mir ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. Ihr befehlender Blick ließ es mich widerstandslos herunterkippen. Was es auch immer war, es hätte einen toten Elefanten zum Leben erweckt. Ich rang noch nach Atem, als Locke mit einem Riesenteller Suppe und ein paar Scheiben Brot eintrat. Die Köchin schrie auf, als sie mich männliches Wesen eintreten sah, aber als ich ihr erklärte, dass ich von Ihro Gnaden ein Bleiberecht hätte, gab sie mir das da. Er sprach mit vollem Mund. Er hatte sich seinen Anteil gesichert. Iss langsam, Kindchen, mahnte mich Ulrike mütterlich, als ich begann, das Essen in mich hineinzuschlingen. Bevor sie uns alleine ließ, sagte sie noch: Ihr könnt hier bleiben, solange ihr wollt. Hier seid ihr sicher. Die Mädels und ich werden die Klappe halten. Als ich halbwegs wieder bei Kräften war, wiederholte ich meine Frage, was eigentlich geschehen war. Ehrlich gesagt war ich einfach neugierig. Ich wusste ja, dass du zu Barbara wolltest, und da ich ein wenig was für sie übrig habe, nahm ich deinen Besuch als Anlass, bei ihr vorbeizuschauen und zu sehen, wie sie so wohnt. Unten brauchte ich nicht zu klingeln, ein paar Kinder gingen gerade raus, und ich schlüpfte hinein. Oben wollte ich eben läuten, als ich feststellte, dass die Tür nur angelehnt war. Als ich eintrat- Locke schluckte und schloss die Augen. Der reinste Horrorfilm. Ich dachte an das viele Blut auf der Decke. Sie hieß Susanne Leonhardt. Barbara wohnte bei ihr zur Untermiete. Hat man ihr in den Kopf geschossen? Locke zögerte. Die Erinnerung veranlasste, dass ihm alle Farbe aus dem Gesicht wich. Der Einbrecher hat ihr den Kopf gespalten. mit einem Säbel. Ich drückte gewaltsam die Suppe in den Magen zurück. Ein säuerlicher Geschmack breitete sich in meiner Mundhöhle aus. Ich hab die Wohnung durchsucht, ich war auf das Schlimmste gefasst. Dich oder Barbara zu finden, so- Wieder schloss er die Augen, um einen grauenvollen Gedanken zu verscheuchen. Aber ich fand nur die Verwüstung und das SM-Studio. Ich wollte schon umkehren, da fand ich den Schuh. Er lag im Studio, oder vielmehr, er stand. Es sah aus, als zeigte die Spitze wie ein Pfeil auf die Tapete. Ich fragte mich, wie er dahingekommen war. Es war schwer, sich vorzustellen, dass du mit Barbara und nur einem Schuh weggegangen warst. Da erinnerte ich mich an den Probenraum eines Kumpels. Er war auch hinter einer Tapetentür gewesen, nur dass man es von außen sehen konnte. Ich klopfte die Wand ab, und merkte, dass sich hinter der Wand ein Hohlraum befand. Den Mechanismus zu finden, war gar nicht so einfach. Aber schließlich gelang es mir, und da fand ich dich. Ich sah ihn zärtlich an. Und hast mir das Leben gerettet. Dafür würde ich dich glattweg heiraten. Er lachte. Nein danke. Ehe ist schon an sich schlimm genug. Aber Ehe ohne Sex- Ich lachte mit. Dann wurde Locke sehr ernst. Denkst du, der Einbrecher hatte es auf dich abgesehen? Ich erzählte ihm von Barbara und der Möglichkeit, dass sie den Umschlag hatte. Dass ich mit ihr geschlafen hatte, verschwieg ich. Jemand muss herausgefunden haben, dass Barbara den Umschlag hat. Er besuchte sie, brachte ihre Mitbewohnerin um und durchsuchte die Wohnung. Barbara hatte das Glück, nicht zu Hause zu sein. Und du, Manja Maag, fügte ich in Gedanken hinzu, hattest verdammtes Glück, dass dich diese verrückte Domina in ihren Verschlag gesperrt hatte. Sonst lägst du jetzt auch mit gespaltenem Kopf unter einer Daunendecke. Die Suppe ließ sich kein zweites Mal zähmen. Ich erbrach mich auf Ulrike Grafs schönem Kanapee. Sie würde mir verzeihen. Wir müssen Barbara finden, sagte Locke, nachdem er mir geholfen hatte, das edle Möbel notdürftig zu säubern. Sie schwebt in Lebensgefahr, und weiß es vielleicht nicht. Ich musste ernsthaft befürchten, dass auch mein junger Freund in das Mädchen verliebt war. Jetzt war aber nicht der Zeitpunkt, ihm zu eröffnen, dass wir in der Hinsicht Konkurrenten waren, und ich sogar einen Vorsprung besaß. Ich hoffe nur, sie kehrt nicht in ihre Wohnung zurück, sagte ich. Dort dürfte sie fast am sichersten sein. Ich glaube nicht, dass der Täter nochmal zu seinem Blutbad zurückkehrt. Ich gab ihm Recht. Aber die Polizei wird nicht lange auf sich warten lassen. Und ich habe den Verdacht, dass ein Polizeimann im Privaten in die Sache verwickelt ist. Locke machte große Augen. Du meinst, ein Bulle ist der Mörder? Ich dämpfte seine Begeisterung. Nein, aber wenn er mitkriegt, was gelaufen ist, wird er darauf schließen, dass eine der dort Wohnenden den Umschlag zumindest besessen hat. Früher oder später wird er Barbara verdächtigen. Locke stieß einen Pfiff aus. Mannomann, du meinst doch nicht etwa den Bullen, der neben Bracke bei der Pressekonferenz saß? Ich nickte. Ich war heute bei Blücher, um ihm von der Konferenz zu berichten. Als ich ihm den Namen des Bullen nannte, meinte er: „Eck? Interessant. Erst Bracke, und dann auch noch Eck. Fehlt nur noch- Hier brach er ab. Ich traute mich nicht, nachzufragen. Du kennst ihn ja, er ist so verschlossen. O ja, ich kannte Blücher. Und wenn er mal was sagte, war es von höchster Bedeutung. Blücher kennt also einen Zusammenhang zwischen Bracke und Eck. Und es gibt noch eine dritte Person, die in diesem Zusammenhang steht. Wieder einmal ärgerte ich mich über meinen Chef. Mich in eine gefährliche Sache hinein locken, mir aber wichtige Informationen vorenthalten. Vielleicht lag es aber daran, dass er Locke nicht restlos traute und ich nicht bei ihm vorsprechen konnte. Mir hätte er womöglich gesagt, wer noch fehlte, und in welchem Verhältnis die drei Personen zueinander standen. Ich muss mit Blücher reden. Du hast die wichtige Aufgabe, Barbara zu finden und sie in Sicherheit zu bringen. Ich dachte nach. Ich weiß, wo du sie am besten hinbringst. Ich nannte ihm Lianes Adresse und beschrieb ihm den Weg. Zum Glück hatte Locke ein gutes Gedächtnis. Schriftliches hinterließ Spuren und war gefährlich. Auch Achims Zettel hatte ich vorsorglich noch das Restaurant-Klosett heruntergespült. Nicht auszudenken, wenn Eck in der zerschnittenen Kostümjacke den Zettel finden würde. Bei dem Gedanken fiel mir ein, dass ich mit der Chronologie und Nadines Foto nicht so umsichtig vorgegangen war. Beides befand sich noch in der Gesäßtasche meiner Jeans, die ich bei Liane gelassen hatte. Aber ich vertraute Liane, so wie ich Gela vertraute. Ihr sauberer Gatte musste unbedingt überführt werden, damit man sie aus der Geschlossenen herausholen konnte. Im Moment war es wohl am besten für sie, auf diese Weise aus der Gefahrenzone heraus zu sein. Es war nicht Gela, um die ich mir Sorgen machte. Es war Barbara. Und ich liebte dieses Mädchen mehr, als ich mir eingestehen wollte.


6

Am nächsten Morgen saß ein junger Mann in Blüchers Küche. Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug und eine dazu passende Krawatte. Auch das dünne Bärtchen korrespondierte gut mit seinem kurzen, schwarzgefärbten Haar. Donnerwetter, entfuhr es Blücher, als er mir eine zweite Tasse Kaffee nachschenkte. Deine Wirtin versteht ihr Handwerk. Ich kann immer noch nicht glauben, dass du es bist. Ich lächelte hinter dem angeklebten Bärtchen. Nachdem die Gräfin sich hat transformieren lassen, hat sie den Krankenpfleger-Job geschmissen und hat an einem kleinen Theater als Visagistin gearbeitet. Frauen in Männer verwandeln kann sie noch besser als Männer in Frauen. Sämtliche Dragkings der Stadt holen sich bei ihr ihre Tipps. Ich erzählte ihm ausführlich, was Locke und ich erlebt hatten. Dann kam ich auf das zu sprechen, was er Locke angedeutet hatte. In welchem Zusammenhang stehen Bracke und Eck? Blücher rollte in sein Arbeitszimmer und kam mit einem Fotoalbum wieder. Er schlug eine bestimmte Seite auf und zeigte auf einen Zeitungsausschnitt mit einem Foto, auf dem drei junge Männer abgebildet waren. Sie durften so um die dreißig sein. Eck erkannte ich sofort an seinem großen Adamsapfel. Er sah ernst aus, als wäre es ihm unangenehm, fotografiert zu werden. Der Mann in der Mitte war klein und hatte eine Ausstrahlung, die man als charismatisch bezeichnen würde. Auf mich wirkte er unsympathisch, arrogant und skrupellos. Er blickte mit einem aufgesetzten Zahnpasta-Lächeln voll in die Kamera, als ob er es genießen würde, im Mittelpunkt zu stehen. Ich vermutete, dass es Bracke war, in jüngeren Jahren, bevor er Fett angesetzt hatte. Der dritte Mann hatte im Moment der Aufnahme den Kopf weggedreht, so dass nur sein dichter Haarschopf und der Vollbart zu sehen waren. Zudem war der Rand des Bildes weggeschnitten, und das Profil des Gesichtes, ein Arm und ein Bein fehlten. Alles, was man über den Mann sagen konnte, war, dass er kleiner als Eck und größer als Bracke war, und das war nichts Besonderes. Ich nahm an, dass die Zeitung froh war, überhaupt ein Bild bekommen zu haben, und sie hatten deshalb dieses unzureichende veröffentlicht. Eck und Bracke, sprach ich meine Vermutung aus. Blücher nickte. Und wer ist der andere, der nur halb zu sehen ist? Blücher nahm einen Schluck aus seiner Tasse, bevor er sprach. Ich weiß es nicht. Er scheint keine wichtige Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls wurde er in dem Artikel nicht erwähnt. Wie ich zum ersten Mal den Namen Bracke von dir hörte, horchte ich auf. Als sich herausstellte, dass ausgerechnet Toralf Eck in dem Fall ermittelte, erinnerte ich mich an diese Sache, die vor zwölf Jahren passiert war. Damals war Bracke im Auswärtigen Dienst. Er war gerade nach Mexiko-Stadt versetzt worden. Im übrigen war er dafür bekannt, sich wie ein Herrscher aufzuführen. Er bewohnte eine scharf bewachte Villa und soll eine Armee von Bediensteten gehabt haben, die er ausbeutete und mit einem lächerlichen Mindestlohn abspeiste. Zu der Zeit trieb gerade in Mexiko eine linksextremistische Rebellengruppe ihr Unwesen. Sie hatten eine deutsche Reisegruppe entführt und forderten die Freilassung eines inhaftierten Genossen. Auf Druck der Bundesregierung gab die mexikanische Regierung nach einigem Zögern nach. Eck, der damals noch beim Außenministerium war, sollte zusammen mit Bracke den Geisel-Austausch vor Ort organisieren. Der Austausch erfolgte, die befreiten Touristen wurden nach Deutschland ausgeflogen. Bis auf einen. Er war in Mexiko auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Die erste Erklärung lautete, die Geiselnehmer hätten ihn noch vor der Geisel-Austausch erschossen. Der Sprecher der Rebellengruppe dementierte, einige der Touristen sagten aus, dass sich der Mann noch kurz nach dem Austausch lebend unter ihnen befunden hatte. Erst als Bracke und Eck die Gruppe nach Mexiko-Stadt gebracht hatten, fiel ihnen auf, dass der Mann fehlte. Man fragte bei den Rebellen nach, die beteuerten, dass alle Geiseln übergeben worden seien. Die mexikanische Regierung sandte Militär aus, die Umgebung abzusuchen. Die Leiche wurde unweit des Rebellencamps gefunden, das die Rebellen mittlerweile verlassen hatten. Der Mann war erschossen worden. Beide Regierungen, die den Fall möglichst schnell zu den Akten legen wollten, einigten sich auf die Version, dass die Rebellen den Mann zurückbehalten und dann vor ihrer Flucht getötet hätten. Die mexikanische Regierung nahm den Vorfall als Anlass, bei der Zerschlagung der Rebellengruppe besonders brutal vorzugehen, was kurze Zeit später der Fall war. In Deutschland wurde die Sache schnell unter den Teppich gekehrt. Vorsichtshalber enthob man Bracke und Eck von ihren Ämtern, aber ich schätze, nicht ohne sie zu entschädigen. Ihre heutigen Posten sprechen für diese Theorie. Ich war ganz erschlagen von Blüchers ungewohntem Redefluss. Wer war der Getötete? fragte ich, und schenkte uns nochmal nach. Er hieß Sankowsky oder so ähnlich. Er war zu unbedeutend, um ihn überhaupt namentlich in der Presse zu erwähnen, geschweige denn die Sache groß aufzumachen. Erst später erfuhr man, wie er hieß, weil die Geschichte doch nochmal an die Öffentlichkeit gezerrt wurde. Seine damals siebzehnjährige Tochter versuchte durchzusetzen, dass der Vorfall nochmals untersucht werden sollte. Sie zweifelte an der offiziellen Version. Ihrem Gesuch wurde nie stattgegeben. Die überlebenden Touristen wollten nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Ob sie es im Laufe der Jahre wieder versucht hat, ist nicht bekannt. Für die Medien war die Sache bald nicht mehr interessant. Blücher zeigte auf das Foto. Die Aufnahme stammt von einem Laien. Sie wurde kurz vor dem Aufbruch der Kommission in das Krisengebiet in Mexiko-Stadt gemacht. Das Gebäude im Hintergrund ist Brackes Villa. Die Herren befinden sich also im Garten von Brackes Anwesen. Da es Journalisten untersagt war, die Kommission zu begleiten, ist dies die einzige Aufnahme, die es von der Aktion gab. Ich schätze, sie war damals in sämtlichen Zeitungen der Welt abgedruckt. Es wäre interessant zu wissen, wer das Foto geschossen hat. Ich stimmte ihm zu. Und wer der dritte Mann auf dem Foto ist. Sicherlich nicht der Gärtner. Er setzte noch einen drauf. Und Sankowskys Tochter ausfindig zu machen, wäre sicher auch aufschlussreich. Sie müsste jetzt neunundzwanzig sein. Die Frage ist, ob sie nicht mittlerweile verheiratet ist und anders heißt. Und an den Vornamen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich habe von der Geschichte nur den einen Artikel. Damals sammelte ich die Artikel mehr aus künstlerischen Gründen. Der Kontrast zwischen der Figur Eck und der Figur Bracke ist ein wahres Meisterwerk. Ich würde dem Fotografen gerne dafür gratulieren. Wieder einmal hätte mich Blüchers Vergangenheit interessiert, aber er würde nie mehr erzählen, als er von sich aus tat. Er reichte mir einen Ausweis. Es gibt da ein Archiv, das sämtliche Presseveröffentlichungen archiviert. Ausgesuchte Persönlichkeiten haben Zutritt zu diesem Archiv. Sie zum Beispiel, Herr Blücher. Ich nahm den Ausweis. Also war ich von Frau zu Herr Blücher mutiert. Mein Auftrag war klar, ohne dass mein Chef ihn explizit aussprechen musste.

Die Suche war mühselig gewesen, hatte sich aber gelohnt. Stolz präsentierte ich Blücher beim Nachmittagskaffee die Ergebnisse. Zunächst hatte ich den Artikel herausgesucht, der Sankowsky im Zusammenhang mit den Vorwürfen seiner Tochter erwähnte. Dabei stieß ich auf ihren Vornamen: Petra. Ich hatte den Namen in die Suchmaschine des Archivcomputers eingegeben, aber es musste eine Unmenge von Frauen diesen Namens geben. Jedenfalls wäre es eine Sisyphos-Arbeit gewesen, jedem Eintrag nachzugehen. Ich gab Sankowsky und Mexiko ein. Hier fanden sich nur wenige Einträge. Von einem abgesehen handelten sie von den Erfolgen einer österreichischen Sportlerin diesen Namens bei in Mexiko ausgetragenen Wettkämpfen. Die Ausnahme bezog sich auf den Staatsbesuch des damaligen US-Außenministers in Mexiko-Stadt, dem in der amerikanischen Botschaft ein feierlicher Empfang bereitet wurde. Zu den Gästen zählten auch der deutsche Botschafter und einige Botschaftsmitarbeiter. Da der Artikel aus einer deutschen Zeitung war, hatte man als Bildmotiv eine hübsche, jungen Botschaftsangestellte gewählt, wie sie dem Außenminister einen Präsentkorb überreicht. Der Text unter dem Bild umschrieb die junge Frau als „die bildhübsche Sekretärin des deutschen Botschafters, Petra Sankowsky“. Ich zweifelte nicht daran, dass es sich um die Tochter des nach dem Geisel-Austausch umgekommenen Touristen handelte. Zeitlich passte es zusammen: Nachdem das Anliegen zur Untersuchung des Vorfalles abgeschmettert wurde, begibt sich Petra nach Mexiko-Stadt. Sie bewirbt sich als Schreibkraft bei der deutschen Botschaft und wird hoffentlich aufgrund ihrer Leistungen und nicht nur wegen ihrem attraktiven Erscheinungsbild eingestellt. Sie arbeitet sich bis zur Sekretärin des Botschafters hoch. Was war ihr Motiv, sich ausgerechnet in dem Land, in dem ihr Vater zu Tode kam, niederzulassen? Wollte sie auf eigene Faust Untersuchungen anstellen? Wenn ja, war sie damit erfolgreich gewesen? Es gab keinen Hinweis darauf, was aus ihr geworden war. Ich hatte das Bild genauer betrachtet. Ja, Petra war prädestiniert für den Job, einem wichtigen Mann einen Präsentkorb zu überreichen. Sie war von jener gewöhnlichen Schönheit, wie man sie in der Werbung gern verwendete. Ebenso gut konnte man sie sich vorstellen, wie sie einen Jogurt ins Bild hielt und dabei lächelte. Das Lächeln, das war es allerdings, was sich vom Zahnpasta-Lächeln der Werbetussis unterschied. Es war ein warmes, ehrliches Lächeln, das einem die Frau auf Anhieb sympathisch machte. Es kam mir seltsam bekannt vor. Gottfried Blücher, sagte ich feierlich, und er zuckte unter seinem verhassten Vornamen zusammen, ich schwöre dir, und ich bin mir hundertprozentig sicher, diese Petra Sankowsky ist mit keiner geringeren identisch als die kürzlich verschollene Renate Koenig. Damit schien Blücher nicht gerechnet zu haben. Und ich wollte gerade vorschlagen, dass Petra Sankowsky vor ein paar Tagen in der Nähe eines Spielplatzes in den Kopf geschossen wurde. Mit dieser Möglichkeit hatte ich auch gespielt, aber die Frau neben dem Außenminister war eindeutig dieselbe auf dem Foto, welches mir Tommy gegeben hatte. Zu dumm, dass es nicht mehr in meinem Besitz war und ich die Fotos vergleichen konnte. Dennoch war ich mir sicher, es war dasselbe ungewöhnliche Lächeln einer gewöhnlichen Frau. Auf Tommys Foto war sie nur schon ein wenig älter und die Haare waren kürzer. Wir schwiegen eine Weile. Es wurde Zeit für die zweite Sensation. Wer das Foto von Eck und Bracke gemacht hat, weiß ich nicht, aber vielleicht kann es uns der dritte Mann auf dem Foto verraten. Blücher war begeistert. Du weißt, wer er ist? Ich feixte. Der Gärtner ist es nicht, aber fast. Die Geiseln wurden mit einem Bus zurückgebracht. Jemand musste den Bus gefahren haben. Man könnte annehmen, dass ein Einheimischer den Bus chauffierte, aber zu der Zeit leistete die deutsche Botschaft sich einen Fahrer aus der Heimat. Sie misstrauten den Mexikanern zu sehr. Man befürchtete, Sympathisanten oder gar Mitglieder der Rebellengruppe einzustellen, und ging mit deutschem Personal auf Nummer sicher. Dass es sich bei dem Mann auf dem Foto um den Fahrer handelt, ist bloße Vermutung, aber es liegt nahe, dass sich alle Personen auf dem Foto befinden, die bei der Aktion dabei waren. Dass der Fahrer in der Presse nicht explizit erwähnt wurde, verwundert nicht. Blücher gab zu, dass meine Theorie einleuchtete. Aber es kommt noch besser. Ich versuchte herauszufinden, wie der Fahrer geheißen hat. Ich stieß auf den Namen, als ich so nebenbei in Brackes Vergangenheit wühlte. Es stimmt, Bracke hatte einen sehr schlechten Ruf, was die Behandlung von Untergebenen betraf. Nach oben hin gab er sich stets korrekt und tugendhaft, aber es gab Gerüchte, dass er sogar die sechzehnjährige Tochter seiner Köchin vergewaltigt haben soll. Was davon wahr war, kam nie ans Tageslicht, die Leute waren von ihm abhängig. Und dann geschah etwas, dass Bracke zum Helden der Armen machte. Er rettete ein (?)-jähriges Mädchen einer armen Familie aus einem brennenden Haus. Die Eltern des Kindes kamen bei dem Brand um. Bracke nahm die Waise in seine Domestiken-Schar auf, behandelte sie aber wie eine Tochter. Als er Mexiko verließ, soll er das Mädchen mit nach Deutschland mitgenommen haben. Bracke wurde in der Zeit von der mexikanischen Presse regelrecht als Nationalheld gefeiert. Man stürzte sich auf jede Kleinigkeit, was Bracke betraf. So wird auch sein Privatchauffeur erwähnt, der gelegentlich auch offizielle Transporte für die deutsche Botschaft unternahm. Und der Name des Fahrers ist Marko Koenig. Blücher wollte gerade einen Schluck Kaffee trinken, stellte die Tasse aber wieder auf den Tisch. Und du glaubst, es ist der Ehemann unserer verschollenen Tagesmutter, die du für Petra Sankowsky hältst? Jetzt endlich gönnte er sich den Schluck. Warum nicht? Marko Koenig, Privatchauffeur Brackes und damit sicher dessen Vertrauter, wird beauftragt, den Geisel-Bus zu fahren. Später lernt er die Sekretärin Petra Sankowsky in der deutschen Botschaft in Mexiko-Stadt kennen. Sie heiraten und kehren nach Deutschland zurück. Später trennen sie sich. Blücher rieb sich die Glatze. Also noch einer, der bei der Geisel-Geschichte anwesend war, und jetzt in den Fall verwickelt ist. Mit Marko Koenig hatten wir uns noch gar nicht befasst. Es wurde höchste Zeit.

In der Tür stand ein Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Charles Bukowski hatte, wie man ihn auf Bildern kannte. Seine Alkoholfahne wehte mir entgegen, bevor er die Tür geöffnet hatte. Bist du ne Schwuchtel? begrüßte er mich, hinderte mich aber nicht daran, seine Wohnung zu betreten. Wahrscheinlich waren seine Reaktionen zu langsam. Es war eine Einraumwohnung. Überall standen volle Aschenbecher und leere Alkflaschen herum. Die Luft war durchzogen von Zigarettenqualm und Schnapsgeruch. Die gesamte Bude war völlig verwahrlost. Marko Koenig ließ sich in den einzigen Sessel fallen. Ich nahm vorsichtig auf dem wenig appetitlichen Sofa Platz. Wer du auch immer bist, trink einen mit. Aber glaub ja nicht, dass du mir den Schwanz lutschen darfst. Obwohl, gebrauchen könnte ichs. Er lachte scheppernd über seinen ordinären Witz. Ich war heilfroh, dass er mich für einen Mann hielt. Ich wollte weder wissen, wie sein Schwanz schmeckte noch mir ausmalen, was er sich einfallen ließ, wenn er mein wahres Geschlecht wüsste. Koenig schenkte mir ein Wasserglas mit Schnaps ein, dann nahm er die Flasche. Prost, sagte er und schwenkte die Flasche in meine Richtung. Ich nahm höflich das Glas und nippte dran. Zum Glück schien ihn nur zu interessieren, wie viel er selber trank. Er schaute mich mit glasigen Augen an. Na los, erzähl mal was nettes! , munterte er mich auf. Von Mexiko? schlug ich vor. Er nahm die Flasche und schleuderte sie über meinem Kopf hinweg gegen die Wand. Sie zerschellte neben einem Pin-Up-Poster. Tropfen perlten sich an der nackten Haut des Modells und hinterließen den Eindruck, dass sie gerade aus dem Bad gestiegen sei. Stehst wohl doch auf Titten? Ich hatte wohl zu lange auf das Poster gestarrt. Scheiße, Mann, was weißt du verdammt nochmal über Mexiko? Er versuchte aufzustehen und mich zu packen. Zum Glück gelang ihm beides nicht. Ich schob ihm Blüchers Zeitungsausschnitt hin. Der da rechts, der nur halb auf dem Bild zu sehen ist. Sind Sie das? Er schnaubte. Das geht dich n feuchten Dreck an, Bürschchen. Ich wandte meine bewährte Taktik des Wartens an, die sich bei alkoholisierten Gesprächspartnern besonders eignete. Ich schwieg und rührte mich nicht, sah ihm aber unverwandt in die Augen. Nach einer Weile wurde er nervös. Nein, das bin ich nicht. Das war so ne Schwuchtel, den Namen hab ich vergessen. Scheinbar waren bis auf ihn alle Männer Schwuchtel. Ich hab das Foto geschossen. Ich überlegte ob ich ihm Blüchers Gratulation aussprechen sollte, unterließ es aber. Haben Sie den Bus gefahren? bohrte ich weiter. Ja, ja, aber ich hab während der Übergabe im Bus gewartet. Ich hab nichts gesehen und gehört. Als sie mit den Touristen kamen, hatten sies sehr eilig. Vor allem der da. Er tippte mit dem Zeigefinger auf den, dessen Name ihm entfallen war. Auf dem Papier blieb ein Fettfleck mit Koenigs Fingerabdruck zurück. Mit dem Toten hatte ich nichts zu tun. Trotzdem haben sie mich bei der Botschaft nicht übernommen, als Bracke versetzt wurde. Und Bracke wollte mich auch nicht mehr. Ich habe mich dann als Profikiller durchgeschlagen. Wieder lachte er scheppernd. Wie haben Sie Renate kennengelernt? Das Lachen brach jäh ab. In der Bar, in der ich einen Job bekommen hatte. Es war eine deutsche Bar, mit deutschen Spezialitäten und importiertem Bier aus der Heimat. Der Besitzer war ein Altnazi, glaube ich. Eines Tages kommt diese hübsche Puppe bei uns reingeschneit. Sie erzählte mir, dass sie bei der deutschen Botschaft sei, ich erzählte ihr , dass ich für die mal den Chauffeur gespielt habe. Sie kam dann ziemlich häufig, ich musste ihr alles von damals erzählen. Da war sie scharf drauf. Dafür ging sie auch mit mir ins Bett. Irgendwann hatte ich den Job und das verfluchte Land satt und machte ihr einen Heiratsantrag. Sie zögerte, aber als ich ihr sagte, dass ich nach Deutschland zurückwollte, willigte sie ein. Wir heirateten noch in Mexiko-City, sie kündigte und wir zogen in meinen Heimatort. Es dauerte nicht lange, da wollte sie unbedingt hierherziehen. Was weiß ich warum. Ich gab nach, ich liebte sie ja über alles, ehrlich. Von da an nannte sie sich nur noch Renate, was angeblich ihr zweiter Vorname war. Dabei fand ich heraus, dass sie nie einen zweiten Namen besessen hatte. Wie sie eigentlich hieß, hab ich vergessen, ist aber auch egal. Sie begann, mich zu ignorieren, mich zu vernachlässigen. Sie wollte auch nicht mehr mit mir schlafen. Ich begann zu trinken. Einmal schlug ich sie, da hat sie mich verlassen. Ich fragte mich, ob mit dem einen Mal nicht eher ein Zeitraum gemeint war, unterbrach aber mein Gegenüber nicht. Aber das ist ja jetzt egal. Sie ist tot, umgebracht, fertig. Wahrscheinlich hat sie sich mit so nem Ausländer eingelassen, der dann durchgedreht ist. Ich überhörte seinen letzten Satz und wandte ein: Die Tote, die sie als ihre Frau identifiziert haben, war nicht ihre Frau. Er schlug mit der Faust auf den Tisch, das die leeren Flaschen klirrten. Das war meine Frau. Das habe ich doch schon der Polizei gesagt. Renate oder wie auch immer. Sie ist tot tot tot, verdammt noch Mal. Tränen standen ihm in den Augen. Er fing an zu heulen und begann mir leid zu tun. Warum beharrte er nur darauf, dass seine Frau gestorben war? Wenn er sie noch liebte, musste er den Hoffnungsschimmer, dass sie noch am Leben war, nicht begrüßen? Ich beschloss zu gehen. Ohne mich zu verabschieden, stand ich auf und öffnete vorsichtig die Wohnungstür. Vor mir stand Stefan Heering, die Pranke bereits an der Tür-Schelle. Ich huschte an ihm vorbei, mit dem Gesicht nach unten. Er schaute mir misstrauisch nach. Wer war denn diese Schwuchtel? hörte ich ihn noch fragen, und die Antwort Koenigs: Was für ne Schwuchtel?

Ich war wieder im Hinterzimmer der Gräfin und rief von dort aus Tommy an. Von ihm hatte ich die Adresse von Marko Koenig bekommen, und ihm eingedenk unseres Paktes versprochen, ihm alle Neuigkeiten zu berichten. Dieses Versprechen hielt ich gerade ein. Am Ende erwähnte ich noch, dass Stefan Heering Koenig kannte und wohl ein Sauf-Kumpel von ihm sei. Interessant, meinte mein Ex-Lover, damit fällt Koenig unter die besonders Verdächtigen. Möglicherweise arbeitet auch Bley für ihn. Ich war mir nicht so sicher. Mein Eindruck war, dass Koenig einfach nur ein armes Schwein war. Für einen Täter hatte er ganz schön frei von der Leber mit mir gesprochen, einer wildfremden „Schwuchtel“. Vielleicht war aber auch der Alkohol schuld daran gewesen. War er vielleicht zum mordenden Psychopathen mutiert? Nein, wenn er etwas mit den Morden zu tun hatte, dann hatte er mit Kalkül gehandelt. Zumindest die ersten zwei Morde waren in voller Berechnung geschehen. Und es war schwer, sich vorzustellen, wie der alkoholkranke Koenig Susannes Kopf zielsicher mit einem Säbel spaltet. Aber es konnten auch Heering oder Bley getan haben, in seinem Auftrag. Verdächtig war jedenfalls, dass er damals bei der Sache in Mexiko dabei war. Es sah tatsächlich so aus, als ob die beiden Fälle miteinander zusammenhingen. Zu viele Protagonisten waren in beiden Szenarien zu finden. Aus der Kneipe drang tumultartiger Lärm. Ich ruf dich später nochmal an, sagte ich in den Hörer. Von wo rufst du an? tönte es zurück. Mach dir keine Sorgen, antwortete ich und legte auf. Es war besser, wenn möglichst wenig Leute wussten, wo ich war. Ich dachte an Tommys schmächtige Statur und weiche Ader, und daran, wie man ihn zugerichtet hatte. Eine Folter würde er nicht lange durchstehen. Und zumindest dem Fuchsgesicht traute ich einiges zu. Ulrike kam aufgeregt ins Zimmer gelaufen. Ein betrunkener Kerl hat sich gewaltsam Einlass verschafft und hat zwei Gäste geschlagen. Wir müssen die Polizei verständigen. Die Szene kam mir bekannt vor. Warte, sagte ich, lass mich erst einen Blick auf den Typen werfen. Meine Vermutung war richtig gewesen. Stefan Heering war in eine der letzten Kneipen gekommen, wo er noch kein Hausverbot hatte. Dass er hier von vornherein nicht erwünscht war, schien er nicht zu verstehen. Er verteilte fleißig Schimpfwörter an die Gäste. Zwei stämmige Kampflesben hatten versucht, ihn hinauszuwerfen. Die eine hatte ein geschwollenes Auge und half ihrer Freundin, wieder zu sich zu kommen. Ich zog mich wieder ins Zimmer zurück. Lass die Polizei. Geh zu ihm, und sag, der Boss von dem Laden lädt ihn persönlich zu einem Glas ein. Dann führst du ihn hier herein. Die Gräfin war beleidigt. Erstens bin ich nicht der Boss, sondern die Chefin. Und zweitens will ich mit dem Kerl keine Minute allein in diesem Zimmer verbringen. Für lange Erklärungen war keine Zeit. Wer hat denn von dir geredet? Ich spiele den Boss. Es ist wichtig, vertraue mir. Sie gab sich geschlagen und wollte hinausgehen. Noch was. Wenn ein bestimmter Typ hier aufkreuzt oder vor dem Laden auf und ab geht, dann lass es mich unauffällig wissen. Ich beschrieb ihr das Fuchsgesicht und betrachtete mich kurz im Spiegel. Zum Glück hatte die Visagistin gleich bei meiner Ankunft meine Maske frisch aufgelegt. Das Spiel konnte beginnen. Ich nahm eine Flasche Gin und zwei Gläser aus einem Schrank und stellte sie auf den niedrigen Glastisch. Dann setzte ich mich breitbeinig auf einen der Sessel. Ich gab das perfekte Bild eines Patrone ab, es fehlte nur noch die Zigarre, auf die ich als Nichtraucherin verzichtete. Heering staunte nicht schlecht, als er eintrat und mich erblickte. Du bist doch die Schwu- Verzeihen Sie. Er hatte die Gin-Flasche auf dem Tisch entdeckt. Wahrscheinlich war das der Grund, warum er einen Grad höflicher wurde. Mit herablassender, sicher sehr männlich wirkender Handbewegung forderte ich ihn auf, auf dem freien Sessel Platz zu nehmen. Er gehorchte. Als Patron einer Kneipe, in der ich wie der Hahn im Korb unter lauter Weibern regierte, strahlte ich trotz meiner weiblichen Züge auf ihn eine gewisse Autorität aus. Ich schenkte ein. Ich bin ein guter Freund von Marko Koenig. Leider erinnert er sich nicht immer daran, wen er vor sich hat. Heering nickte schwerfällig. Er schien diese Erfahrung auch gemacht zu haben. Ich dachte, Marko hätte keine Freunde. Er hat noch nie von Ihnen erzählt. Ich nippte an meinem Glas. Ich schaffe es nur selten, ihn zu besuchen. Die Arbeit, der Laden, Sie verstehen Wieder nickte er schwerfällig, trank sein Glas auf Ex und bediente sich selbst. Was ist mit Ihnen? Es schien ihn zu irritieren, dass ich ihn siezte. Er war es nicht gewohnt, höflich behandelt zu werden. Als Freund würde ich mich nicht bezeichnen, eher als Kumpel. Wir zischen halt gelegentlich einen zusammen. Oder mehrere, dachte ich bei mir. Was arbeiten Sie denn so, junger Mann? Er wirkte einen Moment misstrauisch, aber dann antwortete er: Dies und jenes. Was halt so anfällt. Ich gab mich als der Zuhälter, für den er mich wahrscheinlich hielt. Die Sache ist die. Meine Mädchen hier konnten sich ja von Ihrer Kraft und Ihrem Einsatz überzeugen. Ich suche für den Laden noch so eine Art Sicherheitsmann, Sie verstehen, was ich meine. Und ich habe den Eindruck, Sie sind genau der Richtige. Er plusterte sich auf vor Stolz, kam aber gleich zum Wesentlichen. Was springt dabei raus? Ich gab mich gelassen und ganz als Geschäftsmann. Darüber reden wir noch. Zunächst mal will ich wissen, für wen Sie noch so arbeiten. Es könnte einer meiner Konkurrenten sein. Mein Gesprächspartner hatte inzwischen die halbe Flasche geleert, was ihn bedenkenloser reden ließ. Naja, ich kenne meine Auftraggeber nicht. Der Uwe, was mein Kumpel ist, checkt die Jobs ab. Wenn ein zweiter Mann gebraucht wird, nimmt er mich mit. Ich nahm meine Stimme etwas zurück und steckte meine Nase tiefer in seine widerliche Fahne. Was sind das für Aufträge? Auch sowas darunter? Ich zerschnitt die Luft waagerecht mit einer Hand, um anzudeuten, was ich meinte. Er verstand sofort. Nein, nein, sowas machen wir nicht. Meist sinds ziemlich stupide Sachen, aber die Kohle stimmt. Vor ein paar Tagen zum Beispiel haben wir mitten in der Nacht in einem Wald nach etwas gesucht. Ich wusste nicht einmal, was. Uwe meinte, ich sollte nach allem Ausschau halten, was irgendwie auffällt. Wir haben nichts gefunden, aber die Kohle bekamen wir trotzdem. Ich gab mich enttäuscht. Nicht mal ein bisschen wehtun, mit schlagkräftigen Argumenten seine Position klarmachen? Ich schlug mit einer Faust in die flache Hand. Er lachte meckernd. Es klang wie eine Ziege kurz vor dem Verenden. Klar, sowas kommt schon mal vor. N blaues Auge, n paar gebrochene Rippen. Aber nie so, dass da einer abkratzt. Ich lächelte zufrieden. So hab ichs gern. Ich denke, ich kann dich brauchen. Du gibst mir deine Nummer, und ich melde mich sobald ich was für dich hab. Aber kein Wort zu deinem Kumpel, auch nicht zu Marko oder sonstwem. Ich brauch nur einen, und der kriegt die ganze Kohle. Wieviel, das hängt vom Auftrag ab. Aber wir werden uns schon einig. Heering nickte zum dritten Mal, stand schwankend auf und streckte mir seine Rechte entgegen. Ich stand ebenfalls auf. Seine Pranke umfasste meine Hand und zerquetschte sie beinahe. Ich konnte den Schrei noch unterdrücken. Ich wollte im als Vorschuss und Vertrauensbeweis den Rest Gin schenken, aber er hatte die Flasche bereits geleert. Die Nummer, sagte ich.Er wurde verlegen. Telefon is nicht. Richten sies Marko aus, wenn Sie mich brauchen. Sie müssen ihm ja nicht sagen, was Sie von mir wollen. Ich glaubte ihm. Wenn er ein Telefon besaß, hatte er sicher nicht die Rechnung bezahlt, und es war abgestellt worden. Okay. Kann sein, dass ich bald was für dich habe. Jetzt erst fiel mir auf, dass ich ihn duzte. Ihm war es gar nicht aufgefallen. Da gibt es so einen Bullen. Eine Schwuchtel, die uns öfter mal blöd kommt. Wieder erklang das Meckern. Den haben wir erst neulich ne Lektion verpasst. Der wird so schnell niemanden belästigen, der Arschficker. Ich lachte mit und hoffte insgeheim, dass Tommy mir verzeihen würde. Sehr gut. Dann ist das also schon erledigt. Und noch ne Abreibung wäre zu viel für diesen Warmduscher. Ich hab mich schon gewundert, warum wir von ihm nichts mehr gehört haben. Ich brachte ihn zur Hintertür. Und wie gesagt, kein Wort zu niemandem. Und lass dir ja nicht einfallen, hier aufzukreuzen, ohne dass ich gerufen habe. Ich konnte nur hoffen, dass er meine Ratschläge beherzigte. Ich würde nicht nur gute Freunde und meine Stammkneipe verlieren, sondern auch in Teufels Küche geraten. Dass Heering kein Mörder oder Totschläger war, glaubte ich ihm. Aber Bley war ein anderes Kaliber. Ihm war zuzutrauen, dass er im Alleingang auch weniger harmlose Aufträge übernahm. Ich konnte nur hoffen, dass Heering ihm gegenüber dicht hielt.

Ich war Heering gefolgt. Beschatten war zwar nicht meine Stärke, aber ich hoffte, in dem Zustand, in dem sich Heering befand, würde es ihm nicht auffallen. Er ging den Weg, den ich vorhin erst gegangen war. Es war klar, er wollte zu seinem Sauf-Kumpan. Ich beobachtete, wie Heering läutete und hereingelassen wurde. Es hatte wenig Sinn, den beiden erneut auf die Pelle zu rücken. Ich drehte mich um. Vor mir stand Bley, wieder mit einer Hand in der Jackentasche mit einem Ding spielend, dass er im Begriff war, sofort hervorzuholen. Okay, Bürschchen, erklär mir mal, was du von Stefan wolltest. Was hat er bei dir gewollt, und ausgerechnet in dieser Weiberkneipe? Er betrachtete mich genauer. Sieh mal einer an, die Killer-Lesbe. Wenn ich dich bei den Bullen verpfeife, kommt ne Menge bei rum. Aber du hast Glück, die Bullen sind auch meine Freunde nicht. Vielleicht kommen wir ja trotzdem ins Geschäft. Du hast was, wofür jemand ne Menge Kies lockermacht, wenn er es bekommt. Was es ist, weiß ich nicht, aber du weißt es umso besser. Es war nicht die angenehmste Art zu erfahren, dass Bley selbst weder Annes Mörder war noch den Umschlag je zu Gesicht bekommen hatte. Und wenn ich das Ding bereits an deinen Auftraggeber verkauft habe? Bley zeigte mir seinen Totschläger und ließ ihn wieder in der Jackentasche verschwinden. Verarsch mich nicht, Fotze. Wenn er es schon hätte, würde er mich kaum beauftragen, es dir abzunehmen. Das war trotz meiner Lage eine beruhigende Nachricht. Demnach hatte man Barbara nicht gefunden. Zumindest der Auftraggeber Bleys nicht. Ich bluffte weiter. Dann ist Marko Koenig nicht dein Auftraggeber? Das Fuchsgesicht starrte mich erstaunt an, was bei seinen schmalen Augen krank aussah. Das versoffene Drecksgesicht, zu dem Stefan ständig rennt? Ich zuckte mit den Schultern. Wie auch immer, er hat mir dafür ne Menge Kohle rübergerückt. Bley drückte mir den Totschläger in die Rippen. Okay, Fotze, dann nehmen wir ihm das Ding mal wieder ab. Und du gehst vor. Ich hielt es für klüger zu tun, was er verlangte. Solange er mir glaubte und eine Aussicht auf den großen Schatz sah, war ich vorläufig außer Gefahr. Überwältigen konnte ich ihn noch immer. Mit Heering und Koenig würde ich schon fertig werden, vorausgesetzt, sie frönten gerade ihrer Lieblingsbeschäftigung. Ich klingelte. Der Summer ertönte, ich schlüpfte durch die Tür. Bley folgte mir hastig, bevor ich auf die Idee kam, ihn auszusperren. Den Weg nach oben blieb er mir dicht auf den Fersen. Die Wohnungstür war angelehnt. Ich wollte vorsichtig hineinschauen, aber Bley stieß mich in die Wohnung hinein. Heering stand fassungslos neben der Tür an der Wand gelehnt und starrte zum Sofa, auf dem ich vor nicht allzu langer Zeit gesessen hatte. Jetzt saß Koenig darin. An seinem Hals zog sich ein tiefer Schnitt, aus dem reichlich Blut herausfloss. Stefans Hand hielt noch immer den Hals der zerbrochenen Flasche krampfhaft fest. Ich wars nicht, sagte er immer wieder, ich wars nicht. Er war kurz davor, zu heulen. Auch Bley hatte für einen Moment die Fassung verloren, gewann sie aber gleich wieder. Los, Fotze, such das Ding, und dann raus hier. Er sah Heering an wie ein Metzger, der sein Schlachtvieh bedauerte. Plötzlich wankte das Vieh und brach lautlos zusammen. Jetzt erst sahen wir die enorme Platzwunde an seinem Kopf. Ich untersuchte die Wunde flüchtig, dann kontrollierte ich die Lebensfunktionen. Die beiden Sauf-Brüder waren vermutlich in Streit geraten und hatten sich gegenseitig mit zerbrochenen Flaschen bearbeitet. Scheiße, entfuhr es dem Schläger. Ein Rest von aufrichtiger Sorge um seinen Komplizen glomm auf. Du rufst nen Notarzt und in der Zwischenzeit verpissen wir uns. Den Schatz hatte er vorläufig vergessen. Du kannst dich verpissen, ich bleibe hier und leiste Erste Hilfe, bis der Notarzt kommt. Dass der Notarzt hier nicht mehr gebraucht wurde, verschwieg ich. Ich wollte nur, dass Bley verschwand, bevor ihm wieder einfiel, warum wir hier waren. Ich stand mit dem Rücken zur Badezimmertür und sah Bley herausfordernd an. Plötzlich riss er wieder die Augen weit auf, mehr als vorhin. Gleichzeitig öffnete sich sein Mund, ohne einen Laut auszustoßen. Dann fühlte ich, wie ein schwerer Gegenstand gegen meinen Kopf sauste.

Blackouts schienen bei diesem Fall an der Tagesordnung zu sein. Wenigstens kam ich jedes Mal wieder zu mir. Diesmal in einem Raum, der nicht nur nach Krankenhaus aussah, sondern auch so roch. Ich hatte diesen Geruch noch nie vertragen. Ich würgte. Als ich versuchte, den Kopf aus den Kissen zu heben, brummte mein Schädel, als wäre auf meinem Hirnwindungen ein Güterzug vorbeigefahren. Ich beschloss, ruhig liegenzubleiben. Sicher kam bald ein Arzt oder eine Krankenschwester vorbei, und erklärte mir, was geschehen war. Stattdessen kam Eck mit einer Tasse Tee, die er mir befahl auszutrinken. Als ich keine Anstalten dazu machte, flößte er mir ein paar Schlucke ein. Sie haben Glück gehabt. Leichte Gehirnerschütterung, in ein paar Tagen sind Sie wieder wohlauf. Ich sah ihn ängstlich an. Es hätte mich nicht überrascht, wenn er jetzt beide Hände um meinen Hals gelegt und fest zugedrückt hätte. Was ist geschehen, fragte ich ihn. Er antwortete: Das genau wollte ich eigentlich von Ihnen erfahren, Frau Maag. Ich nahm wahr, dass ich wieder zur Frau geworden war und einen hässlichen weißen Krankenhauskittel trug. Sie haben nichts zu befürchten. Sie müssen zugeben, dass alle Indizien dafür sprachen, dass Sie Anne Teuchert getötet haben. Aber ich habe nicht wirklich daran geglaubt. Oder meinen Sie etwa, ich hätte es sonst zugelassen, dass Sie auf Kaution herauskommen? Nach dem jüngsten Vorfall wäre es wohl besser gewesen, wir hätten Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit verwahrt. Ich versuchte mich zu erinnern, aber der Kopf schmerzte zu sehr. Was für ein Vorfall? Der Polizist seufzte. Gedächtnislücke, wie? Der Arzt hatte so etwas schon befürchtet. Nun, was auch immer geschehen ist, jedenfalls fanden wir Sie bewusstlos in der Wohnung eines gewissen Marko Koenig. Sie sind das einzige Opfer, das überlebt hat. Ich sah ihn fragend an. Koenig selbst fanden wir leblos auf seinem Sofa sitzend. Ihm wurde mit einer zerbrochenen Flasche die Kehle durchgeschnitten. Einen zweiten Mann, den wir als einen gewissen Stefan Heering identifizieren konnten, fanden wir tot am Boden liegend. Er hat wie Sie einen tüchtigen Schlag mit dem Knauf einer Schusswaffe auf den Schädel gekriegt. Bei ihm muss der Täter allerdings häufiger zugeschlagen haben. Der dritte Mann war ein alter Bekannter von uns.Uwe Bley. Übler Bursche. Auf ihn hat der Täter vier zielsichere Schüsse abgefeuert. Er wird sofort tot gewesen sein. Das Würgen kam wieder. Ich hatte wirklich Glück gehabt. Soweit wir den Tathergang rekonstruieren konnten, spielte sich das ganze folgendermaßen ab. Der Täter suchte Marko Koenig auf. Wir nehmen an, dass Koenig ihn selbst hereingelassen hat. Möglicherweise war es ein Bekannter von ihm. Er zerbricht eine Flasche und schneidet dem volltrunkenen Gastgeber die Kehle durch. Bevor der Mörder entkommen kann, klingelt es. Der Täter öffnet die Haustür, lässt die Wohnungstür angelehnt und geht mit gezückter Waffe auf Posten. Stefan Heering tritt ein und bekommt eine übergezogen. Da sein Schädel etwas robuster ist, legt der Täter noch ein paar nach. Er will verschwinden, aber da kommt ihm noch eine Idee. Er drückt dem bewusstlosen Heering die Flasche in die Hand. So sollte der Verdacht aufkommen, die beiden hätten sich gegenseitig umgebracht. Oder es war einfach ein makaberer Scherz des Mörders. Wieder klingelt es. Diesmal verschanzt sich der Täter mit gezückter Waffe im Badezimmer, nachdem er den neuen Besuch hereinlässt. Der Besuch waren vermutlich Sie und Bley. Es sieht so aus, dass Heering noch mal zu sich gekommen ist, kurz darauf aber seinen Verletzungen erlag. Sie haben ihn untersucht und seinen Tod festgestellt. Als Sie mit dem Rücken zum Badezimmer standen, nutzte der Täter die Gelegenheit und schlug Sie bewusstlos. So wie der Schlag geführt wurde, muss er darauf geachtet haben, Sie nicht ins Jenseits zu befördern. Bley dagegen knallte er kaltblütig nieder und verließ den Tatort ungesehen. Der Mensch ist ein Profi. Und du auch, ging es mir durch den schmerzenden Schädel. Entweder war Eck ein verdammt intelligenter Polizist oder selbst der Mörder. Er wusste zu gut Bescheid nach meinem Geschmack. Alles, was er über den Täter herausbekommen haben wollte, konnte ebenso gut auf ihn zutreffen. Warum war er so schnell am Tatort gewesen? Der Täter dürfte wohl kaum selbst die Polizei verständigt haben. Eck dagegen brauchte nur am Tatort bleiben, eine Weile verstreichen lassen und schließlich seine Kollegen anfordern. Die würden glauben, er wäre als erster am Tatort erschienen. Dass er selber der Täter wäre und den Tatort noch gar nicht verlassen hatte, darauf würden sie nicht kommen. Dass der Mörder, wer immer es war, mich bewusst am Leben gelassen hatte, war ein Beweis, dass er immer noch hoffte, über mich an den Umschlag zu kommen. War Ecks Krankenbesuch der Versuch, sich mein Vertrauen zu erschleichen, um ohne Gewaltanwendung den Aufenthaltsort Barbaras herauszufinden? Ich war in dem Moment froh, selbst nicht zu wissen, wo sie war, hoffte aber, dass Locke sie inzwischen gefunden hatte.

Es ist spät und Sie brauchen Ruhe, sagte Eck plötzlich fürsorglich. Schlafen Sie, morgen geht es Ihnen sicher besser, dann können wir uns weiter unterhalten. Ich war zu müde, um zu antworten. Nachdem Eck gegangen war, schlief ich sofort ein.


7

Am nächsten Morgen bekam ich dreifachen Besuch. Nach einem dürftigen Frühstück ohne Kaffee, das mir allerdings eine bezaubernd schöne Schwester gebracht hatte, kam der Arzt auf Visite und bestätigte mir eine zunehmende Besserung. Der dritte Gast war Achim. Als er sah, dass es mir besserging, legten sich seine Sorgenfalten ein wenig. Gute Nachrichten, begrüßte er mich, und wedelte demonstrativ mit einer Zeitung, Eck hat veranlasst, dass im Zuge der neuen Mordfälle ausdrücklich erwähnt wurde, dass du gänzlich unschuldig bist. Er wurde leiser: Trotzdem traue ich ihm nicht über den Weg. Schon seine Nachricht im Restaurant hatte mich verblüfft: ECK ICH TRAU IHM NICHT. Mein konservativer Bruder war sonst immer bestrebt, wichtige Persönlichkeiten für Halbgötter zu halten. Umso mehr erschien mir Eck in seiner Katzenfreundlichkeit gefährlich. Immerhin, was die Polizei betraf, konnte ich mit der Maskerade aufhören. Achim wedelte wieder mit der Zeitung. Allerdings dürfte spätestens jetzt die ganze Stadt von deinen unglücklichen Neigungen wissen. Ein Total-Outing, was solls. Meinem Bruder gefiel das überhaupt nicht. Ich beruhigte ihn: Ehrlich gesagt habe ich andere Sorgen. Und du solltest lieber diese mit mir teilen. Ich fragte mich, wie viel ich Achim anvertrauen sollte. Er war immerhin Brackes Anwalt, und Bracke war mir noch verdächtiger als Eck. Was weißt du eigentlich über Bracke? Er druckste rum. Dies soll ein ganz normaler Krankenbesuch sein. Von Bruder zu Schwester. Ich gab nicht nach. Von Schwester zu Bruder bitte ich dich, beantworte bitte meine Frage. Er überlegte. Nun, ich lernte ihn kurz nach meiner Zulassung als Anwalt kennen. Er war gerade aus Südamerika gekommen, und hatte ein Mädchen mitgebracht. Sie war eine Waise, aus armen Verhältnissen, die Eltern kamen, soviel ich weiß, bei einem Brand ums Leben. Er kam zu mir, weil er wissen wollte, ob man ihren Namen sozusagen verdeutschen lassen konnte. Es war ihm irgendwie unangenehm, dass sie Ausländerin war. Soviel ich weiß, sorgte er dafür, dass sie perfekt deutsch lernte. Er soll ihr regelrecht den spanischen Akzent ausgetrieben haben. Er kann manchmal wirklich fanatisch sein. Er verbot ihr sogar, spanisch zu sprechen, und ich glaube, sie hat ihm gehorcht. Sie hat ihn als ihren Lebensretter vergöttert, nehme ich an. Ich dachte an Anne Teuchert. Auch sie schien Bracke vergöttert zu haben. Ob sie die Geschichte mit dem Mädchen kannte? Es war anzunehmen. Ich war damals noch zu unerfahren, gab ihm aber die Adresse eines Anwalts, der auf solche Sachen spezialisiert war. Die Namensänderung wurde vollzogen, und Bracke war überglücklich. Zum Dank wurde er mein treuester Mandant. Später kam das mit den Ockergelben. Das war typisch für ihn, auf der einen Seite diese fast väterliche Fürsorge für Ana, auf der anderen Seite jene latente Xenophobie. Ich frage mich- Ich unterbrach ihn. Warte mal. Wie hast du gesagt, hieß das Mädchen? Meine Erregung irritierte ihn. Ana Rosario Montez. Eigentlich ein schöner Name, finde ich. Ich frage mich, was er so Schlimmes an dem Namen fand. Den Nachnamen, so hoffte er, würde sie mit einer Heirat verlieren. Ob sie tatsächlich geheiratet hat, weiß ich nicht. Er begann sehr bald, sich bei dem Thema schweigsam zu geben. Ana, dachte ich, Anna. Oder Anne. O ja, sie hatte geheiratet. Den Studenten Jürgen Teuchert, und hatte somit ihren spanischen Mädchennamen eingebüßt. Ob Bracke ihr den Mann ausgesucht hatte? Nein, dafür war sie doch zu emanzipiert gewesen. Aber den Job, den er ihr besorgt hatte, hatte sie angenommen. Und so konnte Bracke sie täglich sehen, ohne sein wahres Verhältnis zu ihr an die große Glocke zu hängen. Eine zwar südländisch wirkende, aber sehr attraktive Mitarbeiterin mit deutschem Namen und deutschem Ehemann, die perfekt deutsch sprach, waren kein Hindernis für die rechten Parteifreunde. Und da Bracke selber heiratete, räumte er jeden Verdacht beiseite, Anne könnte mehr sein als nur eine Angestellte seines Verlagshauses. Ich ging auch nicht davon aus, dass die beiden jemals etwas miteinander gehabt hatten. Und ich konnte mir erst recht nicht vorstellen, dass Bracke sein Ziehtochter ermordet hatte, nachdem er sie unter Einsatz seines Lebens gerettet und sich zeitlebens um sie gekümmert hatte. Wahrscheinlicher war, dass sie den Umschlag für ihn organisiert hatte. Bevor Anne ihm den Umschlag geben konnte, wurde sie von jemandem ermordet, der nicht wollte, dass der Inhalt in Brackes Hände gelangte. Somit war Bracke wahrscheinlich an dem Inhalt des Umschlags interessiert, aber nicht der Mörder Annes. Und wenn man davon ausging, dass alle Morde von derselben Person begangen wurde, kam er auch für diese als Täter nicht in Frage. Heering, Bley und Koenig waren auch ausgeschieden. Alles deutete auf Eck hin. Was aber war mit Renate, oder besser Petra? Wenn der Umschlag mit dem Tod ihres Vaters zusammenhing, würde sie über Leichen gehen, ihn zu erhalten? Oder ging es gar nicht um den Umschlag? Wollte sie an all denen Rache nehmen, die bei der Geisel-Übergabe dabei gewesen waren? Würden Bracke und Eck ihre nächsten Opfer sein? Nein, es war unwahrscheinlich. Selbst wenn der Tod von Susanne Leonhardt nicht auf ihrer Rechnung stand, hätte es keinen Grund gegeben, Heering und Bley zu töten. Warum hatte der Täter überhaupt den beiden und mir die Tür geöffnet? Hätte er sich still verhalten, wären wir davon ausgegangen, dass Koenig einfach nicht zu Hause war und wären wieder gegangen. Renate, wenn sie ihren Mann ermordet hatte, hätte verschwinden können, ohne weitere Begegnungen zu riskieren. Ich folgerte daraus, dass der Mörder irgendwie gewusst haben muss, dass wir früher oder später bei Koenig auftauchen würden. Zumindest Bley und Heering waren ihm im Weg, und er nutzte die Gelegenheit, sie für immer loszuwerden. Da auch die beiden hinter dem Umschlag her waren, durfte das das eigentliche Motiv des Täters sein. Für eine unüberlegte Rache hätte Renate schon lange Zeit und Gelegenheit gehabt, zumindest ihren Mann zu töten. Auch die profimäßige und gleichzeitig drastische Art der Verbrechen sprachen gegen eine Tat aus Leidenschaft. Der Täter war kaltblütig und hatte Spaß am Töten. Und er liebte das Risiko. Dass Petra Marko Koenig aus Berechnung geheiratet hatte, war eindeutig, aber sie musste ihn auch ein wenig geliebt haben. Wenigstens so viel, um ihm nicht die Kehle durchzuschneiden. Petras Leben war seit dem Tod ihres Vaters darauf ausgerichtet gewesen, die wahren Hintergründe herauszufinden. Alles war Teil eines Plans, der lange Aufenthalt in Mexiko, die Eheschließung mit dem Geisel-Busfahrer, die Rückkehr nach Deutschland in ausgerechnet jene Stadt, in der sich Bracke und Eck niedergelassen hatten. Und Anne. Auch, dass sie sich durch die Tagesmuttertätigkeit in Annes Familie geschlichen hatte, gehörte zum Plan. Hatte Petra gewusst, dass Anne früher oder später den Umschlag organisieren würde, und als sie ihn hatte, das Kind entführt, um ein Druckmittel zu haben? Eine einleuchtende Theorie. Anne organisiert den Umschlag für Bracke. Petra entführt das Kind, und setzt Anne darüber in Kenntnis. Jedenfalls wusste Anne, dass dem Kind nichts passieren würde. Wahrscheinlich ändert sie ihren Plan, und beabsichtigt, Petra den Umschlag zu geben. Wenn das Kind wieder frei war, konnte sie Petra immer noch denunzieren. Wie auch immer, sie kommt nicht mehr dazu, weil sie von einer dritten Person erschossen wird. Von Eck? Oder war es der Unbekannte auf dem Foto, dessen Name Koenig nicht mehr gewusst hatte, und der es laut seiner Aussage besonders eilig hatte, die Touristen wegzubringen? Da ich Eck nicht trauen konnte, musste ich Bracke fragen, wer der Mann gewesen war. Koenig schien nicht viel für ihn übrig gehabt zu haben. Vielleicht hatte Koenig einen Verdacht gehabt, dass der dritte Mann etwas mit dem Tod Sankowskys zu tun gehabt haben könnte. Koenig stellte eine Gefahr für ihn dar und musste somit sterben. Was Petra betraf, so musste sie nach Annes Tod befürchten, dass der Mörder auch sie nicht verschonen würde. Sie taucht mit dem entführten Kind unter. Hatte sie Bley und Heering angeheuert, nach dem Umschlag zu fahnden? So konnte sie in ihrem Versteck bleiben, und dennoch versuchen, an das begehrte Kleinod zu kommen. Bley war zwar rücksichtslos aber seinen Auftraggebern gegenüber absolut loyal. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass die beiden im ihrem Auftrag den Wald abgesucht hatten. Zu dem Zeitpunkt ging nach meiner Theorie Petra davon aus, den Umschlag von Anne zu erhalten. Auch Anne konnte Bley engagiert haben. Bley sucht für sie den Wald ab, aber Anne findet den Umschlag selber. Möglicherweise hatte sie den Auftrag anonym oder in einer Verkleidung erteilt, so dass Bley hintergangen wurde. Sie wird ermordet, aber Bley sucht weiter in ihrem Auftrag, weil er glaubt, dass es seinen Auftraggeber noch gibt. Und der Überfall auf Tommy? Wollte eine der beiden Frauen dem ermittelnden Polizisten zu verstehen geben, dass die Polizei sich heraushalten sollte? Hatte Anne diesen Auftrag noch vor ihrem Tod erteilt? Beide konnten ja nicht wissen, dass Tommy noch am gleichen Tag des Überfalls suspendiert worden war. Aber es war ebenso gut möglich, dass der Auftrag gegen Tommy von ganz anderer Seite kam. Schließlich durfte Tommy als Polizist und offen Schwuler genug heimliche Feinde haben, und Heering sprach ja auch von verschiedenen Auftraggebern. Der Überfall auf Tommy mußte nichts mit dem Fall zu tun haben. Während meiner Überlegungen hatte ich die Augen geschlossen. Ich hörte zwei Menschen den Raum betreten. Sie schläft, sagte Achim zu ihnen, dann entfernten sich Schritte. Sie darf unter keinen Umständen das Krankenhaus verlassen. Ich erkannte die Stimme Ecks. Der Angesprochene war sicher der Arzt. Jemand beugte sich über mich und betastete vorsichtig meinen Kopf. Sie dürfte soweit sein, aber wenn Sie es sagen, können wir sie noch eine Weile hierbehalten, sagte der Arzt. Zu ihrer eigenen Sicherheit ist es besser so. Ich werde sie persönlich überwachen. Und es ist besser, wenn sie nicht erfährt, dass sie nicht mehr liegen muss. Sie scheint sehr dickköpfig zu sein. Der Arzt lachte. O ja, dickköpfig ist der richtige Ausdruck. So ein Schlag hätte auch schlimmer enden können. Ecks übertriebene Sorge um mich machte mir Angst. Was hatte er vor? Wollte er mich so lange festhalten, bis ich ihm sagte, wo der Umschlag war? Oder hatte er Angst, ich könnte das nächste Opfer sein? Aber hatte er nicht selbst angedeutet, dass der Mörder mich in Koenigs Wohnung bewusst geschont hatte? Die Männer gingen hinaus. Meine Augen schmerzten bereits vom krampfhaften Schließen. Ich blinzelte. Ein leichter Schwindel erfasste mich. Ich sah den Raum nur verschwommen, als wenn ich mich inmitten einer Wolke befand. Im Wolkennebel erschien mir plötzlich eine Lichtgestalt, ein schöner Engel in Weiß. Er sprach liebliche Worte zu mir. Frau Maag? Ich soll Sie zum Röntgen bringen. Die Schwester half mir aus dem Bett und setzte mich in einen Rollstuhl. Sie schob mich langsam aus dem Zimmer und den Flur entlang. Als wir an dem Schwesternzimmer vorbeikamen, sah ich durch das Fenster, wie Eck auf die Schwester einredete, die mir das Frühstück gebracht hatte. Nicht hinsehen, mahnte mich eine Stimme hinter mir. Jetzt kam sie mir vertraut vor. Wir hatten gerade das Station-Zimmer hinter uns gelassen, als Eck herauskam und mit großen Schritten zu meinem Zimmer hastete. Auch die Schwester kam aus ihrer Höhle. Sie blickte in unsere Richtung. Wir hatten fast den Fahrstuhl erreicht, als Eck aus meinem Zimmer stürmte und der Schwester etwas zubrüllte. Die Schwester zeigte verängstigt auf uns, während die Fahrstuhltür sich öffnete. Ohne anzuhalten, rannte Eck weiter. Wie ein Wahnsinniger kam er auf uns zu gestürmt. In der Hand hielt er einen Revolver. Ich wurde in den Fahrstuhl hineingeschoben. Eck versuchte, mit den Händen die sich schließende Tür wieder aufzureißen. Der Revolver fiel scheppernd auf den Boden des Aufzugs. Die Tür schloss sich. Eck konnte im letzten Moment seine Finger zurückziehen, bevor sie zermalmt wurden, dann fuhren wir hinunter. Gerade als meine Entführerin mich aus dem Fahrstuhl in die Tiefgarage des Krankenhauses schob, gingen die Alarmsirenen an. Sie schob schneller, und ich war kurz davor, mich zu übergeben. Vor einem roten Kleinwagen hielt sie an. Sie kramte hastig die Autoschlüssel heraus, öffnete die Beifahrertür und schob mich hinein. Sekunden später saß sie neben mir, und ließ den Motor aufheulen. Das Auto raste die Auffahrt hoch. An der Ausfahrt erwartete uns eine Gruppe Männer. Ich glaubte, Revolver in ihren Händen gesehen zu haben. Sie versuchten , uns anzuhalten, aber der Wagen raste weiter. Sie sprangen im letzten Moment zur Seite, dann waren wir auf der Straße. Das war knapp, lachte Barbara. Mir war zu übel, um etwas zu erwidern. Sie holte eine Strickjacke aus dem Handschuhfach. Los, zieh das über. Als ich den letzten Knopf zu hatte, musste ich mir noch ein Kopftuch aufsetzen. Dann hielten wir in der Hofeinfahrt eines unbewohnten, baufälligen Hauses. Wir hörten Polizeisirenen. Als sie anfing, sich auszuziehen, dachte ich, sie wäre völlig durchgedreht und wollte ausgerechnet in dieser Situation mit mir schlafen. Aber sie holte ein langes Gewand, wie es bei orientalischen Frauen Sitte war, unter dem Sitz hervor und zog es sich über. Ein Kopftuch vervollständigte ihre Kostümierung. Für mich waren noch ein langer Pluder-Rock und Sandalen vorgesehen. Als wir aus der Hofeinfahrt auf die Straße traten, mußte man sie für eine moslemische Frau halten, die mit ihrer alten Mutter spazieren ging. Ich hatte mich bei Barbara eingehakt und ging etwas gebeugt. Da mit immer noch schlecht war, sah es sehr realistisch aus. Ein Streifenwagen fuhr langsam an uns vorbei. Der Fahrer warf einen flüchtigen Blick auf uns und drehte sich gleichgültig wieder weg. Als der Wagen außer Sichtweite war, zog ich Barbara in einen Winkel. Diesmal musste sie wohl glauben, dass ich über sie herfallen wollte. Mir war wirklich nicht danach zumute. Ich kotzte mir die Seele aus dem Leib. Alles in Ordnung? fragte sie besorgt. Ja, jetzt war alles in Ordnung. Barbara lebte und war wieder bei mir, und das war die Hauptsache.

Wir hatten uns bei der Gräfin verschanzt. Die Polizei würde zwar sicher auch im Lokal nach uns fragen, aber Ulrike würde sie nicht in das Hinterzimmer lassen. Kaum hatte die Gräfin uns hereingelassen und war aus dem Zimmer gegangen, stürzten wir uns aufeinander. Mein Verlangen nach Barbara war schon auf dem Weg zur Kneipe immer größer geworden. Auch für sie war es unerträglich gewesen, mich nicht in den Armen halten zu können. Jetzt lagen wir nackt auf dem Kanapee, die Kleider lagen verstreut im Raum. Unter ihren wilden Küssen und sanften Berührungen hatte ich meine Kopfschmerzen verdrängen können. Jetzt meldeten sie sich wieder. Ich liebe dich, sagte Barbara plötzlich in die Stille hinein. Es klang ehrlich und schlicht. Ich dich auch. Ich schlang meinen Arm um sie. Eine Weile lagen wir ruhig da, als ich hochschreckte. Wo ist es? Wo hast du es? Was ist es? rief ich so aufgebracht, dass sie erschrak. Von was redest du? Ich packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Das Ding, der Umschlag, den du aus meiner Handtasche genommen hast. Du hast es doch-? Sie riss sich von mir los. Mensch, was soll das? Du tust mir weh. Ich entschuldigte mich. Ach du meinst den Umschlag, den ich mit dem Foto zusammen- Weißt du, dass du mir mit diesem Foto ganz schön einen Schreck eingejagt hast? Ich nickte. Ja, so kam es mir vor. Barbara stand auf, und warf sich das orientalische Gewand über ihre Nacktheit. Ich dachte erst, es wäre ein Foto meiner Schwester. Als du telefoniertest, hab ich es aus der Tasche genommen, um es mir bei Gelegenheit genauer anzusehen. Ich fand den Umschlag und kam auf den Gedanken, es könne ein Brief meiner Schwester sein. Es wäre durchaus möglich, dass ihr euch kanntest. Aber als ich das Foto genauer studierte, merkte ich, dass die abgebildete Frau nur eine flüchtige Ähnlichkeit mit meiner Schwester hatte. Also sah ich keinen Anlass, den Umschlag zu öffnen. Ehrlich, ich wollte dir bei unserer nächsten Begegnung beides wiedergeben. Ich stand ebenfalls auf. Und wo ist der Umschlag jetzt? Barbara überlegte. Er müsste zusammen mit dem Foto noch in der Innentasche meiner Hose sein, die ich bei dir angehabt hatte. Die Tasche hab ich mir mal eingenäht, um große Geldscheine darin verstecken zu können. Die Hose müsste noch in meinem Zimmer liegen. Seit meine Mitbewohnerin ermordet wurde, hab ich mich nicht mehr hingetraut. Also hatte Susannes Mörder den Umschlag doch gefunden. Wer ist das Mädchen auf dem Foto? fragte Barbara unvermittelt. Hast du was mit ihr? Ich lächelte über ihre Eifersucht, die mir irgendwie guttat. Nein, nein. Ich kenne sie nicht einmal. Bevor ich sie kennenlernen konnte, ist sie spurlos verschwunden. Barbaras Augen wurden feucht. Sie auch? Ich streichelte ihre Wangen. Was meinst du mit auch? Sie nahm meine Hand von ihrem Gesicht weg. Meine Schwester. Sie hat sich vor einiger Zeit auch in Nichts aufgelöst. Eines Tages brach der Kontakt einfach so ab. Ich hab nie mehr etwas von ihr gehört. In ihrer alten Wohnung war sie nicht mehr. Keiner ihrer Freunde wusste, wo sie steckte. Bei der Arbeit ist sie auch nicht mehr erschienen. Sogar unsere Mutter hab ich gefragt, obwohl wir keinen Kontakt mehr miteinander haben. Sie wusste auch nichts, und es war ihr gleichgültig, was mit Liane geschehen ist. Nach meinem Comingout hat sie mich verstoßen, meine Schwester war eine Zeit lang auf Drogen, die hat sie dann deshalb auch rausgeschmissen. Dabei hat Mamma uns damals vor unserem Vater gerettet, indem sie ihn verlassen hat. Er hat gesoffen, hat Mamma und uns geschlagen. Liane soll er sogar versucht haben, zu vergewaltigen. Zum Glück hat er sehr bald ins Gras gebissen. Mir schwirrte der Kopf. Es war schwer, mich auf ihre hastig vorgebrachten Familienabgründe zu konzentrieren. Ein Wort klang in meinen Ohren nach, wie ein akustisches Dejavue. Liane. Ist deine Schwester verheiratet? Barbara sah mich fragend an. Nicht, dass ich wüsste. Und ich kann es mir nicht vorstellen. Sie ist zwar nicht lesbisch, aber sie hasst Männer. Bei dem Vater konnte ich mir das lebhaft vorstellen. Wenn sie geheiratet hat und mittlerweile Volkmann heißt, dann weiß ich, wo sie steckt. Als Barbara den Namen Volkmann hörte, überfiel sie ein Zittern. Volkmann? Aber so heißt sie doch, Volkmann. Nachdem Mutter unseren Erzeuger verlassen hatte, nahm sie wieder ihren Mädchennamen an: Volkmann. Meine Schwester und ich waren von da an Liane und Barbara Volkmann. Später, als Mutter mich rauswarf, benutzte ich aus Protest den Namen meines inzwischen verstorbenen Vaters und nannte mich wieder Eisenschmidt. Liane war ziemlich sauer deswegen, für sie war der Name eine Art Schändung. Von da an haben wir uns auseinandergelebt. Sie meldete sich nicht mehr so häufig. Und dann kam das mit den Drogen dazu. Aber ich liebe meine Schwester und würde alles geben, um sie wiederzufinden. Jetzt weinte sie und ich nahm sie behutsam in meine Arme. Es könnte Zufall sein, aber ich habe vor kurzem erst eine Frau solchen Namens kennengelernt. Auch sie half mir, mich zu verstecken und zu verkleiden. Schon deshalb liegt es nahe, dass sie deine verschollene Schwester ist. Sobald es uns möglich ist, werden wir sie aufsuchen.

Vorläufig war es am besten, wenn wir in Ulrikes Hinterzimmer blieben. Sie brachte uns leckeres Essen aus der Küche und informierte uns, was in der Kneipe vor sich ging, und wer von den Stammgästen eingetrudelt war. So hatten wir indirekt am Lesben-Leben weiterhin teil. Aber wir brauchten es gar nicht wirklich. Wir hatten uns. Und mit jeder Minute kamen wir uns näher. Ich musste hin und wieder an Locke denken. Der Arme suchte wahrscheinlich immer noch Barbara und litt abwechselnd unter Liebeskummer und dem Gefühl, zum ersten Mal zu versagen. Es gab noch einen Grund, warum wir bei der Gräfin bleiben mussten. Ich erwartete einen wichtigen Anruf von Achim. Da er gegenüber Eck skeptisch war und zugleich einen guten Draht zu Bracke hatte, hatte ich ihn gebeten, den Verlagschef nach der Identität des Unbekannten zu fragen, der bei dem Geisel-Austausch in Mexiko dabei gewesen war. Ich hatte ihm die Nummer des Lokals gegeben, ohne ihm zu sagen, wo ich mich befand. Er sollte einmal anklingeln, auflegen und fünf Minuten später nochmal anrufen. Ulrike kam mit einer Flasche Wein. Es hat einmal geklingelt. Ich habe hierher durchgestellt. Ich bedankte mich. Exakt fünf Minuten später klingelte das Telefon. Mein Bruder war Pünktlichkeit betreffend wirklich pedantisch. Die Geschichte kannst du abhaken, Schwesterherz. Bei dem Mann handelte es sich um einen jungen, in Mexiko ansässigen deutschen Arzt. Die Botschaft hielt ihn für kompetent und vertrauenswürdig. Da er aber für verschroben galt und zu weit weg wohnte, hatten die wenigsten seiner Landsleute Kontakt mit ihm. Er lebte etwas abgelegen in einem Haus am Rand der Zivilisation. Familie hatte er nicht, lebte ganz allein dort. Bracke glaubt, dass er ein Homosexueller war, und konnte ihn deshalb nicht ausstehen. Dabei war er ein sehr humaner Arzt, hat die Armen umsonst behandelt und ging regelmäßig in die Slums, um nach dem Rechten zu sehen. Man hielt es für günstig, ihn bei dem Geisel-Austausch dabeizuhaben. Nicht nur um medizinische Hilfe zu haben, falls einer der Touristen sie brauchte. Er machte keinen Unterschied zwischen den Menschen, er hatte auch die Rebellen behandelt, und wäre nie auf die Idee zu kommen, jemanden zu denunzieren. Das schaffte Vertrauen. Außerdem konnte er sehr gut spanisch. Seltsamerweise soll er aber während der Geiselbergabe kaum ein Wort gesagt haben. Vielleicht hat er einfach den Ernst der Lage so eingeschätzt, dass viele Worte nicht angebracht waren. Beim Rücktransport soll er es furchtbar eilig gehabt haben, und hätte sich beinahe mit dem Busfahrer gezankt. Wahrscheinlich vermutete er irgendeine Krankheit bei einer der befreiten Geiseln, die dringend behandelt werden musste. Allerdings ließ er sich schon vor Eintreffen in Mexiko-Stadt auf dem Weg absetzen, nachdem er die Touristen während der Fahrt recht flüchtig untersucht hatte. Bracke fand ihn durch und durch lächerlich. Er erzählte mir, dass er den Moment vor der Fahrt in einem Gruppenfoto festhalten wollte. Doktor Kranz, so hieß der Arzt, soll sich geweigert haben, dass ein Foto von ihm gemacht wurde. Als man ihn endlich überredet hatte, drehte er sich in dem Moment, in dem der Fotograf abdrückte, zur Seite und trat einen Schritt nach rechts. Bracke hat nichts gesagt, konnte aber den Doktor von da an überhaupt nicht mehr leiden. Achim hatte Recht. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass ein zwar verschrobener aber menschenfreundlicher Arzt aus Mexiko zwölf Jahre später in Deutschland mehrere Morde begeht. Ich wagte einen letzten Versuch. Was ist aus Dr. Kranz geworden? Ist er irgendwann nach Deutschland zurückgekehrt? Achim hüstelte. Ja, ziemlich bald sogar. Aber nicht im besten Zustand. Wenige Tage nach der Aktion fand ihn ein Mexikanerjunge in der Nähe des Hauses. Sein Leichnam soll schon von wilden Tieren oder Ameisen angefressen worden sein. Es ist eben nicht gut alleine und jenseits der Zivilisation zu leben, sage ich immer. Der Leichnam konnte aber noch eindeutig von Botschaftsangehörigen identifiziert werden und wurde sofort nach Deutschland überführt. Die Bestattung ging auf Staatskosten, der Mann war vor lauter Nächstenliebe völlig verarmt. Ich glaubte ein wenig Verachtung in des Rechtsanwalts Stimme zu hören. Selbstlosigkeit war noch nie Achims Stärke gewesen. Ich bedankte mich für den ausführlichen Bericht und legte auf. Dr. Kranz kam demnach als Mörder nicht in Frage. Jetzt konnte nur noch eines Aufschluss über die Sache geben: der Umschlag. Aber den hatte höchstwahrscheinlich der Mörder.