GENDERN – ein Essay


Die Diskussion um das Gendern schlägt hohe Wellen. Ich will mich hiermit nicht in die öffentliche Debatte mischen, sondern die Wellen etwas zu glätten versuchen, indem ich mich bemühen will, das ganze etwas nüchterner zu betrachten.

Worum geht es? Zunächst einmal um Sprache. Die Einführung des Genderns führt zu einer Veränderung unserer Sprache, in diesem Fall der deutschen Sprache. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Sprache etwas Pragmatisches ist, es ist Kommunikation im Alltag. Es ist etwas Lebendiges, was ständig Veränderungen unterworfen ist. Unsere Sprache von heute ist nicht mehr die von vor tausend Jahren, auch nicht die von vor hundert Jahren; ja nicht einmal die von vor fünfzig Jahren. Allein die jüngsten technischen Entwicklungen haben unsere Sprache massiv geprägt und verändert. Nicht nur neue Wörter wie Internet, Smartphone usw. sind zwangsläufig in die deutsche Sprache „eingewandert“, die Zahl der Anglizismen ist auch enorm gestiegen. Logisch, da faktisch alles, was mit Computern (auch ein englisches Wort!) zu tun hat, global ist und mit englischen Begriffen ausgedrückt wird. Übrigens ist „Handy“ ein Anglizismus, der im englischen Sprachraum gar nicht existiert; dort sagt man „mobile“.

Sprache ist zudem ein Spiegel unserer Gesellschaft. Würde unsere Gesellschaft sich nicht verändern, verändert sich unsere Sprache nicht. Mit der Veränderung unserer Gesellschaft verändert sich zwangsläufig auch die Sprache. Eine Gesellschaft, die sich konsequent den digitalen Neuerungen verwehren würde, bräuchte natürlich auch die damit verbundenen Begriffe nicht in ihre Sprache aufnehmen.

Verändert sich eine Gesellschaft, verändert sich auch die Sprache; das gilt aber auch umgekehrt. Mittels Veränderung der Sprache verändert man auch die Gesellschaft. Im Dritten Reich wurden bestimmte Begrifflichkeiten in die deutsche Sprache eingeführt, die das Denken und Handeln der Bevölkerung beeinflussten. Wie stark, sieht man daran, dass der Umkehrprozess, also die Verbannung dieses Vokabulars, nur sehr schwierig und langsam von sich geht. Und er ist noch nicht einmal abgeschlossen. Inzwischen wird in entsprechenden Kreisen sogar versucht, dieses Vokabular wieder gesellschaftsfähig zu machen. Auch hier wird Sprache verändert.

Doch zurück zum Gendern. Gendern ist der Versuch, unsere heutige demokratische Gesellschaft in der Alltagssprache wiederzuspiegeln. Denn ob wir das gut finden oder nicht, wir haben eine Gesellschaft, in der Männer und Frauen nach dem Gesetz die gleichen Rechte haben, und eine Gesellschaft, in der nonbinäre Identität sowie von der Heteronormativität abweichende sexuelle Orientierung nicht mehr als Krankheit oder Verbrechen eingestuft werden. Ersteres hat sich in mehreren Stufen in unsere Sprache Eingang gefunden. Seit es Studentinnen, Ärztinnen und Richterinnen gibt, wurden diese Frauen zwar mit ihren Kollegen mitunter mitgedacht, wenn von Studenten, Ärzten und Richtern die Rede war, fanden aber keine Sichtbarkeit in der Sprache selbst. In einer zweiten Phase versuchte man diese Sichtbarkeit mit dem umständlichen „Studentinnen und Studenten“ herzustellen. In der dritten Phase, die noch andauert, kämpft man um die sprachlich eleganteste Lösung. Da das – ich nenne es mal binäres Gendern – große I, also „StudentInnen“, weder gut aussieht noch schön klingt, versucht man es mit „Studierende“. Hier spätestens beginnt es kompliziert zu werden. Denn wie handhabt man es in meinen anderen Beispielen? Sind Richter beider Geschlechter „Richtende“? Und Ärzte und Ärztinnen, sind die als „Behandelnde“ oder als „Heilende“ zu betiteln?

Hier, in der konkreten Umsetzung, liegt das eigentliche Problem. Lassen wir die Ewiggestrigen mal beiseite, die jede Veränderung der Gesellschaft ablehnen oder leugnen, oder die gar Veränderungen im Sinne des Dritten Reichs herbeisehnen. Von diesen kann man nicht erwarten, dass sie die Sichtbarkeit der Frau in der Sprache wollen. Tragisch genug, dass es genug Frauen gibt, die so eingestellt sind. Halten wir uns an den Teil, der die Sichtbarkeit der Frau in der Sprache durchaus befürwortet, finden wir eine nachvollziehbare Skepsis unter ihnen, was das Gendern betrifft. Dabei lehnen diese selten die Sichtbarkeit der Frau in der Sprache als solches ab, sondern mehr die konkreten Lösungsvorschläge. Es gilt eine sinnvolle praktische Lösung zu finden, die zwar die erstgenannten niemals überzeugen wird, aber die letztgenannten überzeugt.

Doch widmen wir uns zunächst den nonbinären Identitäten. Zur Erklärung für die unter euch, die sich mit der Materie nie befasst haben: Lange Zeit galt die Norm, dass es zwei „Geschlechter“ gibt; man ist entweder ein Mann oder eine Frau. Auch die Frauen, die mit einem männlichen Körper geboren wurden – zu denen zähle ich – nehmen sich in der Regel als Frau wahr, und bei den meisten „als Frau“ geborenen Männern ist es nicht anders. Es gibt aber auch nicht wenige Menschen, die sich in dieser binären Zuordnung nicht wiederfinden; sie nehmen sich als zwischengeschlechtlich wahr oder empfinden jede Kategorisierung als Willkür. Ich will das „Problem“ nicht vertiefen, denn ich kann es selbst nicht nachvollziehen. Das muss ich auch nicht, und das muss niemand. Das ist nicht wichtig. Entscheidend ist, dass es Menschen gibt, die es empfinden und somit eine nonbinäre Identität haben, und dass diese Teil unserer demokratischen Gesellschaft sind. Somit ist es legitim, wenn auch sie in unserer Sprache sichtbar sein wollen.

Nun hat man z.B. auf dem Stellenmarkt das „m / w / d“ eingeführt, was ich als Fortschritt begrüße. Sprachlich gut gelöst ist es deshalb noch lange nicht. Hätte ich eine nonbinäre Identität, möchte ich nicht unter „Diverse“ gezählt werden. Das klingt wie der traurige Rest neben Mann und Frau. Darüber hinaus versucht man mit dem Gendern den nonbinären Menschen gerecht zu werden. Der nonbinäre Mensch, der eine Universität besucht, findet sich weder bei den „Studierenden“ noch bei den „StudentInnen“ wieder. Und mögen wir davor bewahrt werden, von „Studentinnen, Studenten und Anderen bzw. Sonstigen“ zu sprechen! Oder ein Schreiben mit „Sehr geehrte Damen und Herren und Übrige“ zu beginnen. Bleiben also nur die Sonderzeichen. Die Auswahl reicht von „Student/innen“ und „Student_innen“ über „Student*innen“ bis zu „Student:innen“. Das sind die, die mir einfallen.

Ich halte die Lösung mit Sonderzeichen für glücklicher als die letztlich binären Lösungen. Ich plädiere aber für eine einheitliche Handhabung. Schrägstrich und Unterstrich haben etwas brutal Trennendes und betonen, wie auch die Lösung mit dem großen I, das „innen“ zu sehr. Das Sternchen kommt in der Schriftsprache höchstens als Fußnote vor, und diese Assoziation dürfte nonbinäre Menschen so wenig begeistern wie zu den Diversen gezählt zu werden.

Bleibt der Doppelpunkt. Das ist mein Favorit. Ein Zeichen, das in der Schriftsprache gängig ist und sich im Schriftbild nicht übermäßig aufdrängt. Auch das „innen“ tritt nicht plakativ hervor und assoziiert weder Innereien noch Innenarchitektur. Vor allem aber empfinde ich den Doppelpunkt als ein „Dazwischen“; er bringt am sinnfälligsten zum Ausdruck, dass es zwischen dem Studenten und der Studentin noch etwas gibt: die Student:in. Die Student:in ist für mich nicht nur der studierende Mensch im allgemeinen, er steht auch für den nonbinären Studierenden an sich. So wie der Student nur der studierende Mann und die Studentin nur die studierende Frau ist. Und dasselbe gilt für den Plural: eine Gruppe studierender Frauen sind Studentinnen, eine Gruppe studierender Männer Studenten. Eine gemischte Gruppe wird als Student:innen bezeichnet, unabhängig davon, ob sie nur aus Männern und Frauen besteht oder auch Nonbinäre darunter sind. Theoretisch würde nach meinem Vorschlag auch eine reine Gruppe Nonbinärer als Student:innen bezeichnet werden; doch seien wir realistisch: wie oft käme dieser Fall vor? Und sehen wir den Tatsachen ins Auge. Die meisten Menschen nehmen sich als Frau oder Mann wahr. Auch das sollte in der Sprache berücksichtigt werden.

Die Einführung des Doppelpunktes als Gender-Zeichen dürfte die höchste Akzeptanzquote haben. Nun kommt das Problem hinzu, dass auch dieser, wie alle Sonderzeichen, beim Sprechen nicht gehört wird. Dafür hat man auch eine sogenannte Lösung gefunden, die Pause zwischen dem Wortteil vor und dem nach dem Sonderzeichen. Das klingt nicht nur grauenhaft, es tut auch beim Sprechen weh. Muss das sein? Warum lässt man nicht die Pause weg und sagt „Studentinnen“ in einem fließenden Wort? In dem so gesprochenen „Student:innen“ sind nach meinem Empfinden alle drin: der Student ebenso wie die Studentin und die Student:in. Eine Überbetonung des Weiblichen? Na und? Jahrhunderte lang hat sich niemand daran gestört, dass das Männliche überbetont wurde und die Frau gänzlich unsichtbar war. Jetzt sind mal die Frauen dran. Und sollte sich mit der Zeit herausstellen, dass die Nonbinären viel zahlreicher sind als man ahnte, kann man ihnen irgendwann den sprachlichen Staffelstab überreichen.

Wie auch immer man es handhabt: Warum überhaupt gendern? Wie gesagt, gesellschaftliche Veränderungen verändern nicht nur Sprache und bringen neue Begriffe hervor (z.B. Bundeskanzlerin!), sondern Verändern von Sprache verändert auch gesellschaftliche Verhältnisse. Wollen wir zu einer patriarchalisch-konservativen und demokratiefeindlichen Gesellschaft zurückkehren, in der ein Teil der zur Gesellschaft Gehörenden totgeschwiegen wird? Oder wollen wir den demokratischen Gedanken, der alle Menschen berücksichtigt und gleichstellt, fördern? In dem Fall müssen alle in der alltäglichen Sprache vorkommen.

Ich bin für Demokratie. Ich lade euch ein, es mir gleichzutun und ganz selbstverständlich zu gendern. Und den Mut zu haben, das jenseits von Geboten und Verboten zu tun. Ich jedenfalls werde von nun an „Student:in“ bzw. „Student:innen“ schreiben und „Studentin“ bzw. „Studentinnen“ sagen. Ich schaffe mir Realität. Wenn ich es konsequent mache, und im Idealfall viele mitmachen, wird genau diese Art zu gendern Realität und Gewohnheit. Ich werde gegen ein Genderverbot ebenso Widerstand leisten wie gegen eine vorgeschriebene Art des Genderns, die ich für überzogen halte oder die mein Auge und Ohr beleidigt.

Ich halte im übrigen gar nichts davon, bestehende literarische Werke nachträglich gendergerecht umzuschreiben. Das ist anmaßend gegenüber den Autor:innen, die sich nicht mehr wehren können, und es verfälscht den historischen Zusammenhang. Man kann Goethe und Schiller, und auch nicht Günther Grass vorwerfen, nicht gegendert zu haben. Doch wir Autor:innen von heute, lasst uns den Mut haben, (über) Lehrer:innen, Polizist:innen und Verbrecher:innen zu schreiben. Apropos Lehrer:innen – erlauben wir diesen das Gendern in der Bildung unserer Kinder. Denn den Kindern von heute gehört die Welt von morgen. Aber seien wir auch da nicht pedantisch. Wenn eine Schüler:in nicht gendert, sollte das ebenso wenig zu einer schlechteren Note führen. Wir meinen oft, es darf nur das eine oder das andere gelten. Warum kann nicht beides richtig sein? Je weniger wir zum gendern gezwungen werden, desto eher freunden wir uns mit diesem an.