AfD


In einer Serie kurzer Essays möchte ich Gedanken zur aktuellen politischen Situation aufschreiben, die in letzter Zeit in meinem Kopf herumgeistern. Ich betone, dass sie weitgehend subjektiver Natur, also selbstverständlich anfechtbar sind. Was davon tatsächlich zutrifft bzw. eintreffen könnte, überlasse ich der Einschätzung und Fantasie meiner Leser:innen…

Es wird in letzter Zeit viel über die AfD geschrieben. Ob ich mit diesem Essay etwas neues hinzufügen werde, weiß ich nicht; aber mir ist die Auseinandersetzung wichtig…

Ich will damit beginnen, das System Demokratie mal ganz naiv zu untersuchen. Was ist das genau? Stellen wir es uns als eine Vielzahl von Vereinen vor. Vereine, deren Ziel es ist, einen Ort, eine Stadt, eine Gemeinde, ein Bundesland oder die Republik zu organisieren.

Wie jeder Verein hat der Verein „BRD“ – nehmen wir ruhig gleich die Republik als Exempel – einen gewählten Vorstand, der stellvertretend für den ganzen Verein sich um die Organisation kümmert, die organisatorische Arbeit leistet. Es gibt die verschiedenen Parteien, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen, was die Organisation betrifft. Entscheidend ist, dass die Parteien von allen Mitgliedern des Vereins, zu dem alle Bundesbürger:innen gehören, gewählt werden (können). Der Verein „gehört“ nicht einer oder mehreren Parteien, sondern uns allen. Die Parteien organisieren den gemeinsamen Verein, wie es bei jedem Verein der Fall ist. Es gibt einen Vorstand, aber auch Vereinsstatuten: grundlegende (Grundgesetz) und andere, die immer wieder neu gesetzt werden. An diese sind alle gebunden, auch die Mitglieder, die den Vorstand bilden.

Je nachdem, mit welchen Schwerpunkten es sich eher identifizieren kann, wählt jedes Vereinsmitglied eine bestimmte Partei. Auch wenn der Vorstand aus den Parteien besteht, mit denen jemand sich nicht identifiziert, kann Einfluss auf den Verein genommen werden. Zum einen indirekt über die Vorstandsmitglieder, die als Opposition im Vorstand sitzen, zum anderen direkt über das Recht, seine Meinung zu sagen, zu demonstrieren usw. Egal wie man zum Verein und dessen Vorstand steht, es gibt ein Kriterium, das jedes Vereinsmitglied zu beachten hat: niemand kann sich über die grundlegenden und aktuell geltenden Statuten hinwegsetzen. Das einzelne Mitglied hat einige Rechte, aber kann nicht machen was es will. Auch in einer Demokratie ist die Freiheit des Einzelnen eingeschränkt. Ich glaube, dass darin das zentrale Missverständnis bei nicht wenigen Menschen liegt; dass Demokratie uneingeschränkte individuelle Freiheit bedeutet oder bedeuten soll. In einer Gemeinschaft ist das gar nicht möglich…

Zur besseren Veranschaulichung meines Gedankens will ich exemplarisch das fiktive Ehepaar Erwin und Erna Müller nehmen. Erwin und Erna sind stark von einem Individualdenken geprägt. Das geht den meisten so und hat zunächst nichts problematisches. Ich behaupte, dass fast jeder Mensch sich bei jeder Entscheidung als erstes fragt: Was nützt es mir persönlich? Das ist normal und auch gesund. Erwin und Erna erwarten also, dass der Vereins-Vorstand dafür sorgt, dass die ganz persönlichen Interessen des Ehepaars gewahrt werden. Das Problem ist, dass die Müllers nicht den nächsten Gedankenschritt tun, sich nämlich bewusst zu machen, dass sie nicht die einzigen Vereinsmitglieder sind und der Vorstand individuellen Erwartungen aller Mitglieder berücksichtigen muss. Was herauskommt, ist der berühmte Kompromiss, mit dem natürlich nicht jedes individuelle Bedürfnis zum tragen kommt.

Dass der Vorstand dennoch versucht, den Wünschen auch der Müllers gerecht zu werden, das verstehen Erwin und Erna nicht. „Die da oben“ würden machen was sie wollen und sehen nur ihr eigenes Interesse. Erwin und Erna sind aber nicht die einzigen Bürger:innen der Bundesrepublik Deutschland. (Ich verlasse nun das Vereins-Metapher wieder.) Demokratie ist eben nicht grenzenlose Freiheit für alle, sondern ein Zusammenleben im Kompromiss, der auch Einschränkung der individuellen Freiheit bedeutet.

Ein Teil der Bürger:innen unserer Republik kommt mit der Notwendigkeit des Kompromisses und der eingeschränkten Freiheit nicht klar. Sie denken undemokratisch. Ich finde, das ist die treffende Bezeichnung. Undemokratisch denken bedeutet, die eigene Person kompromisslos in den Mittelpunkt zu stellen. Ich darf alles, oder das System ist eine „Diktatur“. Kommt uns das bekannt vor? Genau. In Krisen und Ausnahmesituationen wie der Pandemie wurden die Bürgerrechte massiv eingeschränkt. Eine Entscheidung, die demokratisch gefällt wurde, wurde von nicht wenigen als diktatorisch empfunden und bezeichnet.

Unsere Müllers sind solche Leute. Sie denken undemokratisch und nehmen unsere Demokratie als Diktatur war. „Die da oben machen was sie wollen“. Wer gerade „die da oben“ sind, spielt keine Rolle. Die Bösen, das sind für Erwin und Erna immer die, die gerade „oben“ sind. Das heißt die Parteien, die gerade die Mehrheit bilden und deswegen regieren. Die maßgeblich (aber eben nicht allein!) den Kurs bestimmen. Leute wie die Müllers sind immer unzufrieden mit der aktuellen Regierung, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass jede demokratisch gewählte Regierung zwangsläufig die individuelle Freiheit „einschränkt“. In dem Sinne, dass der Einzelne in einer Gemeinschaft nun mal nicht machen kann was er will.

Erwin und Erna wollen sich nicht einschränken lassen. Sie fühlten sich schon vom DDR-Regime zu Recht eingeschränkt und sind 1989 auf die Straße gegangen. Sie haben Kohl und die blühenden Landschaften gewählt, dann aber, als diese für sie persönlich nicht blühten, die Linke unterstützt. Da diese aber nichts für sie tun konnte, weil sie einfach keine ausreichende Mehrheit hatte, haben die Müllers es nochmal mit der Union versucht. Natürlich war auch die Ära Merkel von Kompromissen bestimmt. Also waren die Müllers weiterhin unzufrieden mit „denen da oben“ und haben gar nicht mehr vom Wahlrecht Gebrauch gemacht. Erst als Bündnis90/Die Grünen bei der letzten Bundestagswahl eine reelle Chance hatten, etwas zu bewirken, haben Erwin und Erna diese gewählt. Herausgekommen ist die Ampel. Und was müssen die Müllers feststellen? Drei Parteien mit teilweise stark auseinanderklaffenden Vorstellungen kämpfen um Kompromisse, und sind weit entfernt davon dafür zu sorgen, dass sich die Müllers so richtig frei fühlen. Im Gegenteil, noch nie fühlten sich Erwin und Erna so sehr in ihrer individuellen Freiheit eingeschränkt. Schuld sind natürlich nicht nur die Grünen, auch SPD und FDP. Auch die Union hat ausgespielt für sie, und die Linke sowieso.

Das nächste Mal wählen Müllers die AfD. Nicht weil sie eine rechtsextreme Gesinnung haben, und vielleicht sind sie nicht einmal der Ansicht, dass das Land „von Migranten überschwemmt wird“. Die AfD ist ganz einfach die Partei, die „noch nicht dran“ war und die auch gegen „die da oben“ ist. Dass die AfD wie alle im Bundestag vertretenen Parteien ebenfalls zu „denen da oben“ zählt, ist bei den Müllers nicht so richtig angekommen. Parteiprogramme haben Erwin und Erna noch nie interessiert. Warum auch, die werden ohnehin nie umgesetzt. Die Politiker versprechen alles mögliche und halten ihre Versprechen eh nicht. Dass es daran liegt, dass (zum Glück!) schon lange nicht mehr eine Partei allein die Regierung stellt und in einer Koalition Parteiziele nicht uneingeschränkt umgesetzt werden können, ist ihnen nicht bewusst.

Also AfD. Ausgerechnet AfD. Denn bei keiner anderen Partei divergieren Parteiprogramm und Propaganda so sehr. Und keine andere Partei ist so sehr bestrebt, die demokratischen Gepflogenheiten zu unterwandern. Genau, denken da Erwin und Erna, mit der AfD ist endlich Schluss mit der Gängelei und der Einschränkung unserer individuellen Rechte. Wir dürfen dann endlich machen was wir wollen. Nur dass die Realität anders aussehen würde: hätte die AfD tatsächlich die Regierungsverantwortung, wird sie mehr als alle anderen die Freiheit des Einzelnen einschränken. Wenn sie tatsächlich regierte, hätte sie die absolute Mehrheit und bräuchte keine Kompromisse zu machen. Die Mitglieder der Partei werden zu ihrem eigenen Vorteil regieren und nicht im Sinne des deutschen Volkes, wie sie gern behaupten. Und sie werden natürlich noch weniger Rücksicht auf die persönlichen Wünsche der Müllers nehmen. Diese werden, sollte es dann noch möglich sein zu demonstrieren, bei Demonstrationen gegen die AfD an vorderster Front stehen. Da es zum Glück unwahrscheinlich ist, dass die AfD die absolute Mehrheit bekommt, wird diese Partei womöglich immer die Alternative für Leute wie Erwin und Erna bleiben. Genau deshalb, weil sie nicht zum Zuge kommt und sich dadurch nicht offensichtlich zeigt, dass sie diktatorischer ist als alle anderen Parteien, die bisher in der BRD die Regierung gestellt haben.

Es wird behauptet, die AfD wäre im Gegensatz zu den anderen Parteien undemokratisch. Stimmt das? Ich sage ja. Das Argument, dass sie eine demokratisch gewählte Partei ist, sagt nur aus, dass wir in einer Demokratie leben. Und die lässt jede Partei zur Wahl zu, deren Programm und Handeln nicht gegen die Verfassung verstößt. Selbst verfassungsfeindliche Tendenzen, wie sie ja in einigen Landesverbänden bereits festgestellt wurden,“Demokratie und Rechtsstaat“ gewährt sogar Demokratiefeind:innen ein hohes Maß an Freiheit.

Demokratisch gesinnte Politiker:innen sehen sich als Stellvertreter:innen des gesamten Volkes in seiner Vielfalt. Sie haben alle gesellschaftlichen Belange im Blick und damit auch jede einzelne Bürger:in. Ich will das an einem Beispiel veranschaulichen. Die Belange jeder noch so kleinen Minderheit werden in einer Demokratie berücksichtigt. Eine Frage, die sich zum Beispiel stellte, war die, ob gleichgeschlechtliche Paare heiraten dürfen oder nicht. Eine Frage, die sich konsequenterweise aus dem bereits bestehenden Gesetz der „eingetragenen Partnerschaft“ ergab. Jedenfalls wurde darüber befunden, und zwar in einer Legislaturperiode, in der die Union die Kanzlerin stellte. Angela Merkel (hier stellvertretend erwähnt für die damalige Regierung, da in einer Demokratie eben keine einzelne Person alles entscheiden darf) hatte also auch die Belange im Blick, mit denen sie nicht persönlich sympathisierte. Sie ließ über die „Ehe für Alle“ entscheiden, einem Gesetzentwurf, der nicht von ihrer Partei eingereicht wurde. Aber er stand schon lange zur Debatte, und Frau Merkel war sich bewusst, dass der Punkt zum Wohl der Gesamtgemeinschaft geklärt werden musste. Sie selbst hat von ihrem individuellen Recht Gebrauch gemacht und dagegen gestimmt. Sie hat als Politikerin allgemein demokratisch gehandelt und zugleich als Privatperson ihre individuelle Freiheit genutzt, wie sie ihr innerhalb des Systems zusteht. Für mich ist das ein sinnfälliges Bild dafür, was Demokratie bedeutet: Gesetze werden zugunsten einer Mehrheit beschlossen und umgesetzt, auch wenn nicht jedes Individuum damit einverstanden ist.

Die AfD hat nicht die gesamte Bevölkerung im Blick. Sie geht nicht von der real existierenden Vielfalt der Gesellschaft aus, sondern von einer Ideologie. Sie ist undemokratisch, weil sie nicht versucht, die Belange der gesamten Bevölkerung in einem Kompromiss zu bündeln, sondern vorgeben will, welche Belange die Bürger:in zu haben hat. Das aber ist nicht demokratisches, sondern diktatorisches Denken.

Diese Art zu denken ist in der Partei sogar intern vorhanden. Wer noch Zweifel hat, möge nur beobachten, wie die Parteimitglieder der AfD miteinander umgehen. Auch in anderen Parteien sind die einzelnen Mitglieder nicht immer derselben Meinung, und sie tragen mehr oder weniger öffentlich Konflikte aus, die uns befremden. Das gehört dazu und ist wesentlicher Bestandteil des demokratischen Miteinanders. Es ist ein Miteinander, trotz alledem, und kein wirkliches Gegeneinander. Denn in anderen Parteien werden alle Meinungen, die nicht gegen das Grundgesetz und den Kern des eigenen Parteiprogramms verstoßen, respektiert und sich damit auseinandergesetzt. Und schließlich demokratisch darüber befunden.

Bei der AfD hat es keine abweichende Meinungen zu geben. Das liegt schon in der Beschaffenheit der vorherrschenden Ideologie, der völkisch-nationalistischen. Diese bestimmt die AfD, auch wenn einzelne Mitglieder das immer noch nicht wahrhaben wollen. Die es erkannt haben, sind aus der Partei ausgetreten, sei es weil sie die Ideologie nicht teilen, sei es weil sie „abgesägt“ wurden. Diese Art Ideologie, die im Nationalsozialismus in ihrer reinsten Form traurige Wirklichkeit wurde, duldet keine abweichenden Meinungen. Jeder, der die Ideologie nicht hundertprozentig vertritt, ist der Feind. Und das sind fast alle. Nur der „echte Deutsche“ ist der Gute. Deswegen werden alle, die nicht dem Bild des „echten Deutschen“ entsprechen, früher oder später aus der Partei entfernt, wenn sie sich nicht schon selbst entfernt haben. Wer Beispiele braucht, möge ganz einfach täglich die Medien verfolgen. Ich will nur eine Prophezeiung wagen: Alice Weidel wird in absehbarer Zeit das nächste prominente „Opfer“ sein. Dass sie überhaupt noch in der Partei ist, hat sie wohl nur dem Umstand zu verdanken, dass sie der AfD einen „bürgerlich-demokratischen“ Anstrich gibt. Sie ist noch die Fassade für die Völkisch-Nationalen, die schon längst die Macht innerhalb der Partei haben. Wenn genug Wähler:innen auf die AfD reingefallen sind, wird garantiert so richtig aufgeräumt. Björn Höcke wird die Parteispitze übernehmen, und wahrscheinlich alleine. Wer kein echter Deutscher ist, wird früher als später ausgesondert: Leute mit Migrationshintergrund, Transgender (falls noch vorhanden), Schwule und Lesben (!). Und auch alle anderen, die nicht ins Bild passen oder mit Kadaver-Gehorsam hinter der völkisch-nationalen Ideologie stehen. Es besteht also Hoffnung, dass der Selbstzerstörungsprozess – das Aussondern von Parteimitgliedern kann als solcher betrachtet werden – der Partei sich noch vor der Stärkung der Macht so weit vollzieht, dass die AfD mangels Personal in die Bedeutungslosigkeit zurückfällt.

Hoffen wir, dass Erwin und Erna Müller, und alle anderen, die ich stellvertretend mit ihnen gemeint habe, die Gefahr rechtzeitig erkennen und diese Partei nicht länger unterstützen…

*****Mai 2024